Gefühl und Differenz
Scilla, danke für das Lob!
Der Begriff, zu dem ich mich in der Systemtheorie am meisten emotional hingezogen fühle, ist die von mir schon öfter penetrierte Einheit der Differenz.
Auf diesen Begriff bin ich bei Luhmann das erste Mal gestoßen, man kann ihn aber auch erstmal von der Systemtheoire abkoppeln und ihn als Ausdruck einer allgemeinen Philosophie sehen, die ich Differenzphilosophie nennen würde.
Es gibt auch andere Differenzphilosophien, zum Beispiel dialektische Gedankengebäude. Diese haben aber m.E. den Nachteil, dass sie zu schwammig operieren, bzw. den Dialektikbegriff nicht von größten Einheiten (Geschichtsbetrachtungen) auf kleinste (Alltagskommunikation) hinuntertransponieren können. Außerdem stört mich der oft benutzte Begriff der Synthese, der etwas vorgaukelt, was es nicht gibt.
Bei einer Differenzphilsophie, die mir vorschwebt, kann aus einer Differenz nur wieder eine neue Differenz entstehen. Und das wichtige dabei ist, dass hierbei nicht schon immer normativ gewertet wird oder ein Fortschrittsdenken impliziert wird. Das Einzige, was mit ziemlicher Sicherheit zunimmt, wenn sich Differenzen aneinanderreihen, ist die Komplexität.
Aber zurück zum Persönlichen: Was mich an der Differenz interessiert, ist die Überschreitung von Grenzen. Und das jetzt alles andere als in dem Sinn von Bewusstseinserweiterung und auch nicht im Sinne vom Ausloten persönlicher Grenzen. Sondern es geht einfach darum, wenn man über etwas nachdenkt oder etwas wahrnimmt, sich die andere Seite bewusst zu machen, die Grenzen zur anderen Seite der Unterscheidungen bewusst zu überschreiten oder (wenn man das "geübt" hat) zumindest unbewusst (vorbewusst?) zu spüren, dass wenn etwas ist, wie es ist, es immer auch anders sein könnte und dass das Gegenteil von dem, was ist, durch seine Ausgeschlossenheit in die Realität eingeschlossen ist.
Das klingt jetzt wieder eher abstrakt, denn emotional.
Aber genau das wäre ein gutes Beispiel. Wer den Augenmerk auf Grenzziehungen legt, der merkt auch bald, dass die Gesellschaft dazu neigt, Grenzen "falsch" zu ziehen. Zum Beispiel der Gegensatz emotional/rational. Menschen neigen dazu, rationalen Aussagen die emotionale Basis abzusprechen und emotionalen die rationale Basis. In Wirklichkeit geht Keines ohne das Andere. Jeder noch so rationale Aussage, gehen emotionale Vorgänge vorraus; und sie belohnt sich durch Emotionen. Und jede Emotion bekommt ihren Wert erst durch rationale Einordnung oder (und sei es nachgeschobene) Begründungen.
In manchen Bereichen haben Leute große Angst, Grenzen zu queren, sensible Bereiche wie Freundschft, Liebe, Moral usw. Für meinen Teil kann ich sagen: Wenn ich die Grenze quere, so zum Beispiel in der Liebe mich auch mit der Möglichkeit, nicht geliebt zu werden auseinandersetze, vielleicht Phasen, in denen ich den anderen weniger oder garnicht liebe, zulasse und reflektiere, hilft mir das. Es tötet die Liebe nicht, wenn man sich zeitweilig von ihr abwendet, es kann sie beleben. Genauso die Moral. Das krampfhafte auf der guten Seite der Moral bleiben wollen, bringt oft die unmoralischsten Handlungen hervor. Zudem, wenn ich die Grenze bewusst und kontrolliert überschreite, also wähle, wo ich Unmoral entweder zulasse oder sie zumindest nicht ablehnend beobachte, verhindere ich, dass ich unmoralisch dann agiere, wenn ich wirklich größeren Schaden anrichten könnte.
Ein bekanntere Begriff für undurchlässige Grenzen ist Tabuisierung. Enttabuisierung des eigenen Denkens und Wahrnehmens bedeutet Grenzüberschreitungen von postiven zu negativen Werten ein und derselben Unterscheidung, allerdings ohne die große Geste. Das Stichwort ist Gelassenheit.
Gelassenheit ist für mich ein sehr positiv besetztes Wort, obwohl es natürlich auch wieder Paradoxien mit einschließt; denn natürlich ist Gelassenheit nur dann möglich, wenn man auch wieder ungelassen sein kann, zum Beispiel Emphase oder Engagement zeigt.
Ein weiterer Aspekt, der mir bei der Systemthoerie behagt, ist die Entkopplung vom Ich. Das steht zwar so nicht bei Luhmann, interpretiere ich aber so, wenn man gelassenerweise beginnt, weniger Dinge entweder sich selbst oder dem Schicksal zuzuordnen.
Sowohl als Künstler als auch als denkender Mensch und auch als Alltagskommunizierer kann ich damit leben, dass bestimmte Dinge nicht mir entspringen, sondern in Prozessen entstehen. Ist das Kunstwerk Medium für meine Gedanken? Oder bin ich selbst Medium für die Realisierung des Kunstwerkes? Sind meine Aussagen etwas Singuläres, Einmaliges? Oder erhalten sie ihren Wert erst als Kommunikation, wenn sie verstanden, interpretiert werden und ihr Eigenleben bekommen?
Dahinter steht im Ganzen gesehen ein Gedanke des Loslassen könnens und sich nicht zu wichtig nehmens (Paradox kann man wieder formulieren: Nimm dich wichtig, indem du dich nicht zu wichtig nimmst). Loslassen heißt auch, eine Grenze zu akzeptieren zwischen sich und allem anderen, auf das man keinen wirklichen Einfluss hat. Loslassen heißt auch, nicht darauf zu beharren, dass mir angeblich etwas zusteht, dass ich etwas "verdient" habe, sondern Zufälle akzeptiere, gerade dann, wenn sie es gut mit mir meinen und dann vielleicht negative Erlebnisse besser wegstecke. Loslassen heißt auch, verstärkt die Beobachterposition einnehmen und eben auch aus der Beobachtung von negativen Dingen wieder Positives zu ziehen; denn auch so herum gilt natürlich die EInheit der Differenz.
Loslassen heißt auch, zu akzeptieren, dass die Welt unerreichbar bleibt und die posotve Seite dieser Akzeptanz ist dann die Freude am Leben an sich, die nur da sein kann, wenn die Welt unerreichbar bleibt.