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Umberto Maturana: naturwissenschaftliche Philosophie

mwirthgen

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20. Dezember 2002
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969
Denken Naturwissenschaftler anders als Philosophen?



Seit Beginn der neuzeitlichen Philosophie mit Descartes geht "Die Philosophie" von einer ganz bestimmten Auffassung aus. Sie behauptet, dass der Mensch aus Körper und Geist/Seele besteht. Der Geist/Seele, insbesondere das Bewusstsein erkennt Welt, sich selbst und Gott/Wahrheit. Die Erkenntnis folgt dabei Strukturen des Bewusstseins bzw. des Geistes, die gegeben sind. Auf diese Art wird sicher gestellt, dass unser Erkennen zuverlässiges "Wissen" liefert, denn das was unser Bewusstsein erkennt, entspricht - beim 'richtigen' Gebrauch der geistigen Strukturen - dem Erkannten. Erkanntes ist daher als 'Repräsentation' der Wirklichkeit aufzufassen.

Diese Auffassung wird seit vielen Jahrzehnten schon durch naturwissenschaftliche Forschungsergebnisse in Biologie und Neurophysiologie in Frage gestellt, bzw. als nicht zutreffend abgelehnt.

Umberto Maturana - dessen Ergebnisse und Schlussfolgerungen ich diesem Forum gerne etwas näher bringen möchte - lehnt dieses Verständnis von Erkennen ab, weil seine Forschungsergebnisse dazu nicht passen. Er kommt zu dem Schluss, dass 'Erkennen' ein "andauerndes Hervorbringen einer Welt durch den Prozess des Lebens selbst" sei. (vgl. Der Baum der Erkenntnis, S. 7)

Wie kommt er dazu?
Die biologische Tradition versteht Leben in der Regel aus den Beziehungen eines Lebewesens zur Umwelt. Dazu passte die 'Repräsentationstheorie'.
Vor allem neurophysiologische Forschungen ergaben für Maturana aber, dass ausschließlich die strukturellen Prozesse innerhalb eines Organismus, innerhalb einer Zelle 'Leben' immer wieder neu schaffen.

Die Beobachtung, Leben als einen sich immer wieder selbst generierenden Prozess aufzufassen, nannte er 'Autopoiese' .

D.h., eine Zelle bspw. reagiert auf Reize nicht "reizverarbeitend" und "reizweiterleitend", sondern sie reagiert innerhalb der Parameter ihrer eigenen Struktur, d.h. auf die ihr eigene Weise auf das, was sie da irgendwie tangiert. Maturana spricht deshalb auch nicht mehr von einer ursächlichen Beeinflussung eines Organismus' durch Umweltreize, sondern er spricht von Pertubationen. Damit werden Zustandsveränderungen in einem System bezeichnet, die durch dessen Umfeld ausgelöst werden. Reize sind also Auslöser und keine Verursacher bestimmter Veränderungen innerhalb eines lebenden Systems. "Welche neuronalen Aktivitäten durch welche Perturbationen ausgelöst werden, ist allein durch die individuelle Struktur jeder Person und nicht durch die Eigenschaften des perturbierenden Agens bestimmt." (Baum, S.27)

Objektivität ade, kann man sagen. Descartes Behauptung, unser Bewusstsein repräsentiere Objektivität ist damit zumindest fragwürdig. Mal abgesehen davon, was Bewusstsein überhaupt sein soll.

Für die 'philosophischen Grundlagen' des Lebens - ich mache jetzt einen großen Sprung - scheinen mir derartige Ergebnisse von basaler Wichtigkeit. Maturana hat im Laufe seiner Forschungen gemerkt, dass er Weltbilder aushebelt. Denn wenn das so ist, wie er glaubt beobachtet zu haben, dann hatte wohl Protagoras - von der traditionellen Philosophie geschmäht - schon vor zweieinhalb Jahrtausenden den Nagel philosophisch auf den Kopf getroffen, als er meinte:

"Der Mensch ist das Maß aller Dinge. Sie sind für mich so, wie sie mir erscheinen und für dich so, wie sie dir erscheinen."

Wer meinem Beitrag nachspüren möchte, dem empfehle ich den "Baum der Erkenntnis" von Umberto Maturana. 1991 beim Scherzverlag (Bern/München) als Paperback erschienen. Es enthält neben Experimentbeschreibungen und seinen Schlussfolgerungen eine Reihe von Experimenten, die man schon beim Lesen ausprobieren kann, was ich besonders hilfreich fand. Dieses Buch ist nicht nur ein Buch, sondern auch ein Erlebnis!

manni :blume1:
 
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AW: Umberto Maturana: naturwissenschaftliche Philosophie

Ich habe das Buch auch mit großen Gewinn gelesen.

(Zwei Nachteile :
Das Paperback-Buch geht leicht aus dem Leim.
Der Stil ist sehr "südamerikanisch". Der Übersetzer behauptet, er habe die weitschweifige Sprache mit den langen Sätzen bereits stark "gestrafft").

Der Inhalt ist wirklich ein Erlebnis, es ist eines der wichtigsten Bücher, das ich gelesen habe. Das Leben als solches wird völlig neu interpretiert.

Eine (philosophisch) interessante Erkenntnis : Ein autopoietisches (schreckliches Wort, ich bevorzuge "selbstreplizierendes", also lebendes) System kann nur von innen heraus gesteuert werden. Vulgo : Man kann ein Lebewesen nur dann beeinflussen, wenn es selbst will.

Auch (naturwissenschaftlich) ganz witzig : Der Stoffwechsel eines Lebewesens folgt beim "Upscalen" nicht einem Gesetz der zweiten Potenz (wie die Körperoberfläche) bzw. der dritten Potenz (wie das Volumen), sondern der dritten bzw. vierten Potenz. Ein Lebewesen ist also vierdimensional ! Warum ? Weil bestimmte Größen konstant bleiben, z. B. die Blutkapillaren, diese bei einer Vergrößerung des Volumens also nicht mitwachsen, sondern sich fraktal verzweigen.
 
AW: Umberto Maturana: naturwissenschaftliche Philosophie

ganz neu sind die erkenntnisse von maturana allerdings nicht, er bezieht sich auf vordenker wie platon (höhlengleichnis) und vico, der meint, *dass wir im eigentlichen sinn die natur gar nicht erfassen können, sondern nur das, was wir selbst hervorgebracht haben, d.h. vom menschen geschaffene phänomene*. nach vico können erkennende akteure nicht wissen, was jenseits der kognitiven strukturen liegt, die sie selbst aufgebaut haben.
anders gesagt - der beobachter kann sich nicht selbst beobachten, zumindest nicht objektiv, da das subjekt zwangsläufig das objekt beeinflusst.
weitere vordenker sind kant (kritizismus und transzendentalphilosophie), schopenhauer und wittgenstein.

ich habe keine direkte frage aus dem thread gelesen, mische mich aber ein, weil ich mich ausgiebig mit diesen theorien beschäftigt habe und bisher an kein gedankliches *ende* gekommen bin.

wo es für mich unsachlich wird bei maturana und varela - zitat: *machen wir uns hier hier nichts vor: wir halten keine moralpredigt, wir predigen nicht die liebe. wir machen einzig und allei die tatsache offenkundig, dass es, biologisch gesehen, ohne liebe, ohne annahme anderer, keinen sozialen prozess gibt*.

diese aussage sprengt für mich den rahmen einer abstraken (philosophischen oder naturwissenschaftlichen) betrachtug, sondern stellt eine behauptung auf, die auch noch undefiniert sind, denn - was ist liebe? rein philosphisch betrachtet.

dreieck
 
AW: Umberto Maturana: naturwissenschaftliche Philosophie

[...]
wo es für mich unsachlich wird bei maturana und varela - zitat: *machen wir uns hier hier nichts vor: wir halten keine moralpredigt, wir predigen nicht die liebe. wir machen einzig und allei die tatsache offenkundig, dass es, biologisch gesehen, ohne liebe, ohne annahme anderer, keinen sozialen prozess gibt*.

diese aussage sprengt für mich den rahmen einer abstraken (philosophischen oder naturwissenschaftlichen) betrachtug, sondern stellt eine behauptung auf, die auch noch undefiniert sind, denn - was ist liebe? rein philosphisch betrachtet.

Einwurf von der Seite:

Liebe IST die Annahme anderer. Nicht nur philosophisch betrachtet. Du kannst es selbst überprüfen, wenn du genau hinschaust.

:blume1:
 
AW: Umberto Maturana: naturwissenschaftliche Philosophie

D.h., eine Zelle bspw. reagiert auf Reize nicht "reizverarbeitend" und "reizweiterleitend", sondern sie reagiert innerhalb der Parameter ihrer eigenen Struktur, d.h. auf die ihr eigene Weise auf das, was sie da irgendwie tangiert. Maturana spricht deshalb auch nicht mehr von einer ursächlichen Beeinflussung eines Organismus' durch Umweltreize, sondern er spricht von Pertubationen. Damit werden Zustandsveränderungen in einem System bezeichnet, die durch dessen Umfeld ausgelöst werden. Reize sind also Auslöser und keine Verursacher bestimmter Veränderungen innerhalb eines lebenden Systems. "Welche neuronalen Aktivitäten durch welche Perturbationen ausgelöst werden, ist allein durch die individuelle Struktur jeder Person und nicht durch die Eigenschaften des perturbierenden Agens bestimmt." (Baum, S.27)

Objektivität ade, kann man sagen. Descartes Behauptung, unser Bewusstsein repräsentiere Objektivität ist damit zumindest fragwürdig. Mal abgesehen davon, was Bewusstsein überhaupt sein soll.

Hallo manni,

warum bzw. wie unser Denkorgan auf Umweltreize reagiert (was ist der essentielle Unterschied ziwschen "Auslöser" und "Verursacher"?), ist beim Erkennen/Wahrnehmen zunächst zweitrangig. Wichtiger ist, dass die Reaktion adäquat ist - und dass damit einer außerhalb des Individuums vorhandenen Realität Rechnung getragen wird.
Denn wenn ein Auto auf Dich zurast, dann erscheint Dir das nicht nur so, sondern dann ist das so. Solltest Du auf Deinen Eindruck, das Auto fährt Dich gleich um, nicht mit augenblicklicher Flucht reagieren, dann ist es halt aus. Oder?
Und sich den eigenen Tod einzubilden, erscheint auch schwierig.

LG, pispezi :zauberer2
 
AW: Umberto Maturana: naturwissenschaftliche Philosophie

hallo lilith - das ist als aufzählung gemeint und ein zitat. Du hast recht! zumindest was die dopplung der aussage betrifft.

was ich meine, ist die aussage, dass wir ohne liebe ... - das ist für mich eine unzulässige verallgemeinerung. können wir denn wirklich nicht ohne die *liebe* usw. ...?

dreieck
 
Zuletzt bearbeitet:
AW: Umberto Maturana: naturwissenschaftliche Philosophie

ganz neu sind die erkenntnisse von maturana allerdings nicht, er bezieht sich auf vordenker wie platon (höhlengleichnis) ... weitere vordenker sind kant (kritizismus und transzendentalphilosophie), schopenhauer und wittgenstein.

Wo siehst du da die wesentlichen Verbindungen mit Maturana?

Danke für die Erinnerungen an Vico, der seine konstruktivistischen Ansichten aber noch mit Metaphysik und Wahrheit verbindet. Den Aspekt des Individuellen scheint er noch nicht zu kennen oder?

manni
 
AW: Umberto Maturana: naturwissenschaftliche Philosophie

warum bzw. wie unser Denkorgan auf Umweltreize reagiert (was ist der essentielle Unterschied ziwschen "Auslöser" und "Verursacher"?), ist beim Erkennen/Wahrnehmen zunächst zweitrangig. Wichtiger ist, dass die Reaktion adäquat ist - und dass damit einer außerhalb des Individuums vorhandenen Realität Rechnung getragen wird. Denn wenn ein Auto auf Dich zurast, dann erscheint Dir das nicht nur so, sondern dann ist das so. Solltest Du auf Deinen Eindruck, das Auto fährt Dich gleich um, nicht mit augenblicklicher Flucht reagieren, dann ist es halt aus. Oder?
Und sich den eigenen Tod einzubilden, erscheint auch schwierig.

Ich denke, es gibt 'offensichtliche Tatsachen' und 'scheinbare Tatsachen', 'Scheinbare Tatsachen' sind 'Interpretationen' von Tatsachen bzw. 'Behauptungen', die als Tatsachen ausgegeben werden. Z.B. wenn Manfred Spitzer Neuronen als "Schaltstellen der Informationsverarbeitung" bezeichnet. Wenn ein Auto auf mich zurast, halte ich dies für eine 'offensichtliche Tatsache', auf die ich angemessen reagieren kann, wenn meine Physis mich nicht im Stich lässt. Ich habe allerdingst auch schon 'offensichtliche Tatsachen' erlebt, auf die ich nicht angemessen reagieren konnte. Entweder weil ich sie zu spät bemerkte, oder weil ich keine Möglichkeit hatte, ihr zu entkommen (Glatteis).

Maturana behauptet, dass es keine Welt gibt, außer der, die wir uns schaffen. Das ist mir zu weitgehend. Wie gesagt, es gibt für mich 'offensichtliche Tatsachen'.

Für mich ist an seiner Auffassung interessant und auch produktiv, dass er ein direktes Kausal-Verhältnis (Verursacherprinzip) zwischen Reiz und Zustandsveränderungen in lebenden Organismen ablehnt. Reize sind lediglich "Auslöser'. So ähnlich wie der Auslöser an einer Fotokamera das Belichten eines Filmes ermöglicht, aber nicht verursacht.

U.a. in Bezug auf 'Lernen' halte ich diese Unterscheidung für sehr hilfreich. Denn auch hier gibt es kein direktes Kausalverhältnis zwischen Lehren und Lernen. Konstruktivistische Lerntheorien gehen davon aus, dass 'instruieren' nicht möglich ist, sondern lediglich ein Anregen des im Lernenden tätigen Lernantrieb. Ich habe mit der Umsetzung dieser Theorie meinen Schülern vieles ermöglichen können, was mir nach alten Parametern nicht gelungen war. Wenn 'lebende Organismen' ihren eigenen Parametern folgen, dann hat es wenig Sinn ihnen fremde vorschreiben bzw. aufzwingen zu wollen.

manni :)
 
AW: Umberto Maturana: naturwissenschaftliche Philosophie

ich zitiere in meiner dipl. häusler (bekannt?) welcher sagt, *...sein berühmt gewordenes höhlengleichnis (platons) ... formulierte den bis in die neuzeit weiterwirkenden verdacht, dass der sehende außerstande sei, die wahrheit seiner wahrnehmung zuverlässig zu beurteilen.* nach platon entspicht die sichtbare welt der abbildung der ideellen welt.
kant schreibt: *allein erscheinungen sind nur vorstellungen von dingen, die, nach dem, was sie an sich sein mögen, unerkannt sind.*
die raum-zeit-tehorie muss ich ja hier wahrscheinlich nicht wiederholen.
schopenhauer greift wiederum kants gedanken auf und bringt sie auf die formel: *die welt ist meine vorstellung*. aus der transzendentalerfahrung ergäbe sich ferner, *dass die objektive welt, wie wir sie erkennen, nicht dem wesen der dinge an sich selbst angehört, sondern bloße erscheinung desselben ist, bedingt durch eben jene formen, die a priori im menschlichen intellekt liegen, daher sie auch nichts als erscheinungen enthalten kann.*
wittgensteins ansicht, denken und sprechen seien ein abbild der welt, hat mich ebenfalls bewogen, ihn hier anzuführen.

letztlich geht es bei jedem dieser gedanken um die annahme des nichterfassenkönnens einer objektiven realität. das ist vielleicht nicht besonder originell - schon gar nicht in diesem forum - aber ich bin erstens neu hier und zweitens etwas eingerostet, denn meine dipl. liegt mittlerweile vier jahre zurück. ich lasse mich also gern *provozieren* und *belehren*, denn das thema hat mich seitdem nicht losgelassen und ich würde den gedanken gern weiterdenken - in vorantreibendem austausch.

dass meine wahrnehmung in erster linie die umstände so widerspiegeln sollte, dass mein daraus folgendes handeln (vor dem auto weglaufen), sinnvoll und lebenserhaltend ist, ist dabei auch klar. ich denke allerdings, dass es den angeführten philosophen nicht um diese ganz pragmatischen fragen ging/geht, sondern um eine andere ebene der betrachtung.

dreieck
 
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AW: Umberto Maturana: naturwissenschaftliche Philosophie

Er kommt zu dem Schluss, dass 'Erkennen' ein "andauerndes Hervorbringen einer Welt durch den Prozess des Lebens selbst" sei.

der Planet Erde ist belebt und sieht aus dem Weltall total anders aus
als die anderen bekannten Gestirne

durch den industrialisierten Menschen wird jedoch der belebte Bereich verkleinert
  • die Böden werden flachgründiger
  • die Vegetation wird schütterer
  • die Biomasse zu Wasser und zu Luft nimmt ab

Erkennen wäre also die Erkenntnis, daß es so nicht weitergehen kann

"Der Mensch ist das Maß aller Dinge. Sie sind für mich so, wie sie mir erscheinen und für dich so, wie sie dir erscheinen."

das Leben ist das Maß aller Dinge

wer über die Schöpfung spricht,
haucht auch den vermeintlich unbelebten Dingen dieser Welt Leben ein
 
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