Wahrheit – kann, darf, soll, muß man sie immer sagen?
Von einem Mitglied des DF wurde ich gebeten, einen Thread dieses Themas zu eröffnen. – Zwar ist mir bewußt, daß die Thematik in vielen Varianten hier schon oft diskutiert wurde, aber es gibt – wie etwa die Frage nach Gott – sozusagen „ewige“ Themen, die sich nie erschöpfen.
Ursprünglich dachte ich, dies bei „Allg. Politik“ einzustellen, denn bekanntlich lügt niemand so unverfroren wie Politiker, wofür erst kürzlich Müntefering (SPD) ein geradezu klassisches Beispiel lieferte, indem er den Journalisten vorwarf, „unfair“ zu sein, weil sie es gewagt hatten, die von der SPD getragene Regierungspolitik an ihren Wahlkampfaussagen zu messen, die, das insinuiert Münte stillschweigend, natürlich nicht „wahr“ sind. Denn wie sagte schon Bismarck: Nie wird nie so viel gelogen wie vor der Wahl und nach der Jagd.
Aber da auch andere Bundesbürger – zurückhaltend formuliert – nicht immer der Wahrheit die Ehre geben, entschloß ich mich, diesen Thread als generelle Problematik in die Philosophie zu verlegen.
Zu unterscheiden ist zunächst mal zwischen der Unwahrheit und der Lüge; sie sind nicht kongruent. Man kann aus Gründen des Irrtums, des Versehens oder der Unwissenheit u.ä. Unwahres verkünden. Zur Lüge wird dies erst dann, wenn einem beim Nennen von „X“ bewußt ist, daß eigentlich Y richtig wäre, man aber bewußt und gewollt die falsche Angabe macht. Lügen erfordert hohe geistige Anstrengung, denn man muß (zeitgleich) parallel denken: Was ist wahr und was will man statt dessen sagen. Deshalb können Kinder etwa bis zum 12. Lebensjahr zwar die Unwahrheit sagen, aber nicht lügen. Doch das ist wieder so ein anderes weites Feld der Glaubwürdigkeit von Kinderaussagen etwa in Strafprozessen wegen sexuellen Mißbrauchs.
Eine erste Annäherung an die Problematik, immer und jederzeit die Wahrheit sagen zu müssen, bietet Max Weber mit seiner Unterscheidung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik. Erstere verlangt sie unabdingbar; die zweite fragt nach den Folgen. Wie gravierend schädlich sind diese? Ist nicht die barmherzige Lüge besser als die grausame Wahrheit? Das war übrigens ein Grund, warum die Angehörigen von Kriegsgefallenen von deren direkten Vorgesetzten stets die Mitteilung erhielten: „Er war sofort tot“ oder „Er hat nicht gelitten“. – Die Wahrheit sah zumeist ganz anders aus, aber man wollte die Mutter oder Ehefrau schonen.
Um Anregungen für konkrete Beispiele zu geben:
Eine todkranke Frau, die immer noch auf Genesung hofft, fragt: „Sehe ich heute nicht schon viel besser aus?“ – Wie lautet die Antwort?
Ein Moribundus fragt den Arzt mit flackernd-ängstlichem Blick: „Herr Doktor, muß ich sterben?“ – Antwort?
Eine Ehefrau hat auf einer Reise eine kurze Affäre, aber liebt weiterhin ihren Ehemann. Der fragt nach ihrer Rückkehr: „Warst Du mir auch treu?“
Der Chef eines Unternehmens mit (vielleicht vorübergehenden) Zahlungsschwierigkeiten wird gefragt, ob er nicht eigentlich schon der Insolvenz entgegen gehe? Sagt er wahrheitsgemäß „ja“, erhält ab sofort keinen Kredit mehr und kann seine Leute entlassen. Verneint er, bleibt er kreditwürdig mit der Chance, Firma und Arbeitsplätze zu retten.
Berühmt ist die Geschichte von Captain Scott, der den Südpol erobern wollte, mit seinen Gefährten starb, weil er den kranken Kameraden nicht zurücklassen wollte, ihn mitschleppte, was das Marschtempo verlangsamte, so daß alle umkamen. Sein ein paar Monate später gefundenes Tagebuch reflektiert beispielhaft den Konflikt zwischen der Kameradschaftsgesinnung und der Verantwortung gegenüber den fünf anderen Gefährten.
Genug der Beispiele. Wir könnten auch über die Pilatusfrage diskutieren „Was ist Wahrheit?“. In ihrem Alleinbesitz sich zu wähnen, davor sind wir hoffentlich dank Aufklärung durch Lessings Ringparabel alle gefeit.
Ich freue mich auf eine lebhafte – und bitte: rein sachliche und nicht persönlich werdende – Diskussion.
Ziesemann
Von einem Mitglied des DF wurde ich gebeten, einen Thread dieses Themas zu eröffnen. – Zwar ist mir bewußt, daß die Thematik in vielen Varianten hier schon oft diskutiert wurde, aber es gibt – wie etwa die Frage nach Gott – sozusagen „ewige“ Themen, die sich nie erschöpfen.
Ursprünglich dachte ich, dies bei „Allg. Politik“ einzustellen, denn bekanntlich lügt niemand so unverfroren wie Politiker, wofür erst kürzlich Müntefering (SPD) ein geradezu klassisches Beispiel lieferte, indem er den Journalisten vorwarf, „unfair“ zu sein, weil sie es gewagt hatten, die von der SPD getragene Regierungspolitik an ihren Wahlkampfaussagen zu messen, die, das insinuiert Münte stillschweigend, natürlich nicht „wahr“ sind. Denn wie sagte schon Bismarck: Nie wird nie so viel gelogen wie vor der Wahl und nach der Jagd.
Aber da auch andere Bundesbürger – zurückhaltend formuliert – nicht immer der Wahrheit die Ehre geben, entschloß ich mich, diesen Thread als generelle Problematik in die Philosophie zu verlegen.
Zu unterscheiden ist zunächst mal zwischen der Unwahrheit und der Lüge; sie sind nicht kongruent. Man kann aus Gründen des Irrtums, des Versehens oder der Unwissenheit u.ä. Unwahres verkünden. Zur Lüge wird dies erst dann, wenn einem beim Nennen von „X“ bewußt ist, daß eigentlich Y richtig wäre, man aber bewußt und gewollt die falsche Angabe macht. Lügen erfordert hohe geistige Anstrengung, denn man muß (zeitgleich) parallel denken: Was ist wahr und was will man statt dessen sagen. Deshalb können Kinder etwa bis zum 12. Lebensjahr zwar die Unwahrheit sagen, aber nicht lügen. Doch das ist wieder so ein anderes weites Feld der Glaubwürdigkeit von Kinderaussagen etwa in Strafprozessen wegen sexuellen Mißbrauchs.
Eine erste Annäherung an die Problematik, immer und jederzeit die Wahrheit sagen zu müssen, bietet Max Weber mit seiner Unterscheidung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik. Erstere verlangt sie unabdingbar; die zweite fragt nach den Folgen. Wie gravierend schädlich sind diese? Ist nicht die barmherzige Lüge besser als die grausame Wahrheit? Das war übrigens ein Grund, warum die Angehörigen von Kriegsgefallenen von deren direkten Vorgesetzten stets die Mitteilung erhielten: „Er war sofort tot“ oder „Er hat nicht gelitten“. – Die Wahrheit sah zumeist ganz anders aus, aber man wollte die Mutter oder Ehefrau schonen.
Um Anregungen für konkrete Beispiele zu geben:
Eine todkranke Frau, die immer noch auf Genesung hofft, fragt: „Sehe ich heute nicht schon viel besser aus?“ – Wie lautet die Antwort?
Ein Moribundus fragt den Arzt mit flackernd-ängstlichem Blick: „Herr Doktor, muß ich sterben?“ – Antwort?
Eine Ehefrau hat auf einer Reise eine kurze Affäre, aber liebt weiterhin ihren Ehemann. Der fragt nach ihrer Rückkehr: „Warst Du mir auch treu?“
Der Chef eines Unternehmens mit (vielleicht vorübergehenden) Zahlungsschwierigkeiten wird gefragt, ob er nicht eigentlich schon der Insolvenz entgegen gehe? Sagt er wahrheitsgemäß „ja“, erhält ab sofort keinen Kredit mehr und kann seine Leute entlassen. Verneint er, bleibt er kreditwürdig mit der Chance, Firma und Arbeitsplätze zu retten.
Berühmt ist die Geschichte von Captain Scott, der den Südpol erobern wollte, mit seinen Gefährten starb, weil er den kranken Kameraden nicht zurücklassen wollte, ihn mitschleppte, was das Marschtempo verlangsamte, so daß alle umkamen. Sein ein paar Monate später gefundenes Tagebuch reflektiert beispielhaft den Konflikt zwischen der Kameradschaftsgesinnung und der Verantwortung gegenüber den fünf anderen Gefährten.
Genug der Beispiele. Wir könnten auch über die Pilatusfrage diskutieren „Was ist Wahrheit?“. In ihrem Alleinbesitz sich zu wähnen, davor sind wir hoffentlich dank Aufklärung durch Lessings Ringparabel alle gefeit.
Ich freue mich auf eine lebhafte – und bitte: rein sachliche und nicht persönlich werdende – Diskussion.
Ziesemann