AW: Sterbehilfe
Okay - zur Frage der Zurechnungsfähigkeit... Was macht einen Menschen aus? WER bin ich? Das sind grundsätzliche philosophische Fragen. Meiner bescheidenen Ansicht nach bin ICH nicht mehr als mein Bewusstsein, d.h. alles was mein momentanes Bewusstsein ausmacht ist identisch mit meinem ICH. Das ICH ist also unabhängig von Möglichkeiten, sondern immer nur das, was gerade tatsächlich ist. Insofern kann es keine "Unzurechnungsfähigkeit" geben - es sei denn, ich verliere mein Bewusstsein (hier in einem weiteren Sinn, also nicht im Sinne von Ohnmacht, sondern alle Zustände, in denen ich kein bewusstes Sein mehr habe, sei es weil ich Schlafe, weil ich einen sogenannten Filmriss habe ect.).
Solange ICH allerdings bewusst bin, kann es keine Entscheidungen geben, die mich nicht zurechnungsfähig machen, da alle Zustände in meinem Bewusstsein eben dieses ausmachen - sei es nun eine sogeannte Depression oder was auch immer. Bin ich depressiv, dann bin ICH depressiv. Ob es mich ohne Depression geben kann, ist irrelevant - was ICH im Moment bin, das zählt und nur auf dieser Basis kann sich das ICH in die Zukunft entwerfen oder eben die Zukunft VERwerfen...
Ja, und hier geht es nicht darum, was man KANN sondern was man DARF (im Sinne von Straffreiheit oder unter ethischen Aspekten).
Ein analoges Beispiel:
Will jemand eine Geschwindigkeitsübertretung begehen, darf ich ihn nicht daran hindern indem ich beispielsweise vor ihm fahre und ihn am Überholen hindere. Oder will jemand bei Rot über die Straße gehen, darf ich ihn nicht zurück halten (außer er würde in ein Auto laufen....). Würde ich es trotzdem tun, hätte ich den Tatbestand der Nötigung erfüllt und mein Handeln wäre strafbar. Will allerdings jemand einen anderen verletzen oder andere schwer gefährden, darf ich ihn natürlich daran hindern.
Dieses Beispiel soll zeigen, auch wenn man seines eigenen Schicksals Schmied sein soll heißt das nicht, dass nicht irgendwo eine Grenze sein kann oder eventuell auch sein muss.
Das klingt so, als gäbe es keine wohlüberlegten Selbstmorde, als wäre Selbstmord IMMER resultat einer sogenannten psychischen Krankheit. Das stimmt aber nicht...
hat auch niemand behauptet
Extrembeispiel: Locked-in-Syndrom. Hier MUSS der Selbstmord durch andere erfolgen - wenn er erfolgt. Müssen hier aber nicht als Imperativ. Man sollte niemanden zum Sterben zwingen - aber auch keinen zum Leben...
Ja, aber hier ist auch schwer rauszufinden, was der Betroffene will. Und auch, wenn er zuvor eine Verfügung erlassen hat - man weiß nicht wie der Betroffene nun dazu steht. Zu verfahren in Tenor "du hast es damals so wollen, jetzt steh dazu und stirb" geht wohl nicht, da sind wir uns sicher einig.
Bist du dir da sicher?
Komapatienten etwa?
Es geht auch darum, ob mir das Sterben erleichtert wird, oder ob der Arzt gegen meinen Willen alle Maßnahmen setzt (setzen muss), um mich länger leben/leiden zu lassen.
Ich kann mir schwer einen Komapatienten vorstellen der sagt "Das Koma ist mir zu trost- und würdelos, ich will lieber sterben. Beim Koma wären wir außerdem in einem Stadium der Bewusstlosigkeit --> unzurechnungsfähig
Das ist generell ein Problem des Todes. Wenn du so argumentierst, müsste Sterben unethisch sein - es gibt immer Angehörige.
Und ob es manchmal sowohl für Gesellschaft als auch für die Angehörigen nicht angenehmer wäre, Patienten sterben zu lassen sei dahingestellt.
Ethisch oder unethisch können letztendlich nur bewusste Entscheidungen sein. Da Sterben ein Imperativ ist und zumeist ohne den bewussten Willen des Betroffenen durchgeführt wird, befindet sich der Sterbevorgang dann außerhalb der Ethik.
Ja - ob angenehmer aber auch ob Angenehmheit eine Rechtfertigung mit sich ziehen würde, muss dahingestellt bleiben.
1) Ein Tabu ist nicht umbedingt ein Indikator für ethisches Verhalten.
2) In der abendländischen Kultur jedenfalls stammt das Tabu erst von Augustinus.
Ich denke, in irgendeinem Wertesystem ist ein Tabu immer so ein Indikator. Für das System eines Anderen mag es keiner sein - bei einem gesellschaftlichen Tabu gehe ich schon davon aus, dass es in jenem System auch einen Bezug zur gesellschaftlichen Ethik hat.
Ob das Tabu von Augustinus oder von Tante Emma aus dem Jahre 1976 stammt ist doch nicht wichtig - es existiert anscheinend hier und jetzt, und darum können/sollen/müssen wir es einbeziehen, wenn wir darüber diskutieren.
Z.B. Seneca äußert sich ganz klar: „Finden wirst du auch Lehrer der Philosophie, die bestreiten, man dürfe Gewalt antun dem eigenen Leben, und es für Gotteslästerung erklären, selbst sein eigener Mörder zu werden […] Wer das sagt, sieht nicht, dass er den Weg zur Freiheit verschließt. Nichts besseres hat uns das ewige Gesetz geleistet, als dass es uns einen einzigen Eingang in das Leben gegeben, Ausgänge viele. Ich soll warten auf einer Krankheit Grausamkeit oder eines Menschen, obwohl ich in der Lage bin, mitten durch die Qualen ins Freie zu gehen und Widerwärtiges beiseite zu stoßen? Das ist das einzige, weswegen wir über das Leben nicht klagen können: niemanden hält es.“
Eine positive Wertung des Suizids führt weiter über Hume und Nietzsche in die heutige Zeit (Cioran).[/QUOTE]
Seneca denkt hier auch an den bewussten Siechenden - eben eine gewisse Situation, in der es allgemein verständlich ist, sich dem unter keinen Umständen aussetzen zu wollen. Selbstmord geht aber über diesen einzelnen, konkreten Zustand hinaus und Sterbehilfe geht über Selbstmord hinaus. Zusätzlich gibt es dann noch mehrere Arten von Sterbehilfe wie völlige Inaktivität, Unterlassen von 'Hilfemaßnahmen', organisatorische Hilfe, 'passive' Hilfe durch Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen, bis hin zur aktiven Tötung auf Verlangen.
Bei einer generellen Freigabe muss man daher weiter schauen als auf den konkreten, von Seneca angedachten speziellen Umstand.
Daher bin ich zwar geneigt dir prinzipiell zuzustimmen, aber der Schritt zur generellen Freigabe ginge darüber hinaus.
lg,
Muzmuz