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Sollte es ein "Recht auf den Tod" geben?

Chris M

Well-Known Member
Registriert
2. November 2014
Beiträge
3.728
Mich würde interessieren wie ihr zu dem Thema "Recht auf den Tod" steht. Zunächst eine Begriffserklärung:

Das von manchen Menschen geforderte Recht auf den Tod geht über die gewöhnliche sogenannte Sterbehilfe hinaus. Denn letztere ist ja kein Recht, sondern eine Art Ausnahmeregelung die meines Wissens nach in Deutschland und Österreich und den meisten anderen Ländern der Welt nur extrem selten angewendet wird, also ausnahmslos nur bei tödlichen Krankheiten im Endstadium und selbst dann sind die Hürden meines Wissens nach noch sehr hoch, man braucht mehrere Gutachten usw. und das alles kostet ja auch einen Haufen Geld. Außerdem ist dieses ganze Gebiet eine rechtliche Grauzone und viele Ärzte trauen sich nicht, die sogenannte Sterbehilfe zu leisten, weil sie juristische Konsequenzen fürchten. Meistens läuft es darauf hinaus, dass die Patienten an ihren Krankheiten sterben, bevor das Prozedere am Ziel angelangt ist. In der Schweiz ist die Situation etwas besser, dort gibt es die Organisation Dignitas, bei der die Hürden nicht ganz so hoch sind, aber trotzdem muss man wohl auch dort eine schwere körperliche Krankheit nachweisen und das ganze Prozedere kostet meines Wissens nach ca. 10.000 Euro. Am unkompliziertesten läuft diese Sache vermutlich in Belgien ab. Aber, so viel ich weiß, gibt es in keinem Land auf der Erde ein tatsächliches Recht auf den Tod. Dieses würde nämlich bedeuten, dass es keine Ausnahmeregeln für besonders schwere Fälle mehr bräuchte und rechtliche Grauzonen gäbe es dann auch nicht mehr. Vielmehr wäre das Recht auf den Tod ein gesetzlich verankertes Grundrecht.

Nun werden sich manche vielleicht wundern, was ich hier überhaupt fordere, was die Menschen, die sich für ein Recht auf den Tod einsetzen, überhaupt wollen, schließlich hindert ja niemand diese Leute daran, einfach aus dem Fenster zu springen und dann haben sie ihr Recht auf den Tod. Als erste Spontanreaktion kann ich diesen Gedanken sogar verstehen, aber sobald man tiefer über das Thema nachdenkt, wird diese Antwort absurd. Und zwar aus folgenden Gründen:

1. Die Unsicherheit aller gängigen Suizidmethoden

Der menschliche Körper ist robuster als man glaubt. Es haben Menschen schon Sprünge aus großer Höhe, Erhängungsversuche und sogar Kopfschüsse überlebt - und dann natürlich in einem wesentlich schlimmeren Zustand als zuvor.


2. Die Grausamkeit der allermeisten gängigen Methoden

Entgegen einem verbreiteten Klischeebild ist es nicht so, dass die meisten suizidalen Menschen sich selbst hassen. Die Gründe für Suizide sind so vielfältig wie alles andere im Leben. Und da eben die meisten Menschen auch wenn sie nicht mehr leben wollen trotzdem noch eine gewisse Selbstachtung haben, wollen sie nicht die extreme Gewalt gegen den eigenen Körper ausüben, die nötig ist, um sich mit den gängigen Methoden aus der Welt zu schaffen. Außerdem ist dieser Punkt natürlich auch ganz allgemein dafür verantwortlich, dass die Hemmschwelle bei den meisten Suizidenten so hoch ist, obwohl sie nicht mehr leben wollen.


3. Das "Mitreinziehen" von Dritten

Viele Zugführer werden jedes Jahr traumatisiert, weil sich jemand vor ihren Zug wirft. Oder es kommt jemand in Bedrängnis, weil er einem Sterbewilligen gewissen Medikamente gegeben hat. Und im Zweifelsfalle gibt es ja immer diejenige Person, die die Leiche finden wird und zumindest einen Schock, vielleicht sogar ein Trauma erleiden wird.


Gäbe es das geforderte Recht auf den Tod, würden alle diese Punkte wegfallen. Denn es gibt ein 100% sicheres und schmerzfreies Mittel, nämlich das, was zum Beispiel von der Organisation Dignitas in der Schweiz verwendet wird (Ich nenne hier das Mittel nicht, weil im Internet irgendwelcher Schrott verschleudert wird, Finger weg davon!). Bei denjenigen, die die Suizidbegleitung durchführen kann man ja nicht davon sprechen, dass sie "mit rein gezogen werden", denn die machen das ja freiwillig.

Zur Dimension des Problems sei noch erwähnt, dass sich alleine in Deutschland jedes Jahr knapp 10.000 Menschen mit den üblichen grausamen Methoden das Leben nehmen:

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Im Jahr 2020 starben in Deutschland insgesamt 9 206 Personen durch Suizid – das waren über 25 Personen pro Tag. Männer nahmen sich deutlich häufiger das Leben als Frauen, rund 75 % der Selbsttötungen wurden von Männern begangen. Das durchschnittliche Alter von Männern lag zum Zeitpunkt des Suizides bei 58,5 Jahren. Frauen waren im Durchschnitt 59,3 Jahre alt. Im Vergleich zum Vorjahr (9 041 Suizide) ist ein leichter Anstieg zu verzeichnen. Insgesamt ist die Zahl der Suizide jedoch in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen: 1980 nahmen sich beispielsweise noch rund 50 Personen pro Tag das Leben.

Die am häufigsten gewählte Suizid-Methode war sowohl bei Frauen als auch bei Männern die Selbsttötung durch "Erhängen, Strangulieren oder Ersticken": Fast die Hälfte aller Männer, die Suizid beging, starb auf diese Art und Weise (49,9 %). Bei den Frauen waren es 31,5 %, die diese Art der Selbsttötung wählten.


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25 Suizidenten pro Tag, das ist ziemlich genau einer pro Stunde. Das muss man sich wirklich mal verinnerlichen. Die Dunkelziffer dürfte wesentlich höher sein, weil viele ihren Suizid als Unfall tarnen und was zusätzlich noch oben drauf kommt, das sind all die fehlgeschlagenen Versuche, und das sind sehr viele. Wir sprechen hier nicht von einem Randphänomen und was das über unsere Gesellschaft als solche aussagt, das ist nochmal ein Thema für sich...
 
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End Credits — Full documentary on euthanasia in Belgium (2013)


Two very different people face their final stages of life, while those who played important roles in the fight to legalize euthanasia in Belgium, try to define how the right to live (and die) should or shouldn't be changed today.

 

Letting You Go: A father stands by his daughter’s choice to die


Doctor-assisted suicide for the chronically mentally ill is currently legal in the Netherlands, Belgium and Switzerland, despite being one of the most contentious points in the ongoing right-to-die debate. Letting You Go follows one such Dutch patient, 27-year-old Sanne, who, after nearly a decade of pursuing treatments for her chronic depression, insomnia and borderline personality disorder, has chosen to end her suffering and pursue a planned death. While clearly shaken, Sanne’s father has made the difficult decision to stand by his daughter’s choice, reasoning ‘she couldn’t, and shouldn’t, do this alone’. Unflinching, honest and humane, the Dutch director Kim Faber’s film is both a moving portrait of father and daughter, and an intimate look at one of the most controversial medical ethics issues of our times. The film played at the International Documentary Film Festival Amsterdam (IDFA) in 2014 and AFI DOCS film festival in 2015.

 
Wenn ich dich richtig verstehe, wäre das eine Möglichkeit aus dem Leben "auszusteigen" ohne sich erklären oder rechtfertigen zu müssen. Nur bin ich auch sicher, dass viele junge Menschen, die z. B. aus Liebeskummer von Brücken springen oder sich die Pulsadern aufschneiden, lieber eine solche Methode bevorzugen würden und auch die Hemmschwelle, die bei "rabiaten" Methoden besteht (und so manchen dann doch hindert), so gerne umgehen würden.
Das wären also die Menschen, die in einer extremen emotionalen Phase zu Kurzschlusshandlungen neigen und für mich die Schwachstelle eines solchen Systems darstellen würden. Bei Menschen, die dauerhaft in einer lebensverneinden Situation sind, ist das sicher etwas anders.
Nur müsste ich im Falle einer freien Entscheidungsmöglichkeit allen Zugang zum finalen Schluck gewährt werden.
Ich denke eine Filtermöglichkeit (bei der Hergabe eines solchen Mittels) sollte es vielleicht schon geben.
LG * Helmfried
 
Wenn ich dich richtig verstehe, wäre das eine Möglichkeit aus dem Leben "auszusteigen" ohne sich erklären oder rechtfertigen zu müssen. Nur bin ich auch sicher, dass viele junge Menschen, die z. B. aus Liebeskummer von Brücken springen oder sich die Pulsadern aufschneiden, lieber eine solche Methode bevorzugen würden und auch die Hemmschwelle, die bei "rabiaten" Methoden besteht (und so manchen dann doch hindert), so gerne umgehen würden.
Das wären also die Menschen, die in einer extremen emotionalen Phase zu Kurzschlusshandlungen neigen und für mich die Schwachstelle eines solchen Systems darstellen würden. Bei Menschen, die dauerhaft in einer lebensverneinden Situation sind, ist das sicher etwas anders.
Nur müsste ich im Falle einer freien Entscheidungsmöglichkeit allen Zugang zum finalen Schluck gewährt werden.
Ich denke eine Filtermöglichkeit (bei der Hergabe eines solchen Mittels) sollte es vielleicht schon geben.
LG * Helmfried

Hallo Helmfried,

sicherlich hast du damit recht, dass es Restriktionen geben sollte, also man müsste schon volljährig sein und zum Beispiel eine Wartefrist von einer Woche einhalten, um Kurzschlusshandlungen zu verhindern. Außerdem gibt es natürlich viele ethische Bedenken. Obwohl ich im Eröffnungsposting eher eine befürwortende Haltung eingenommen habe, bin ich bei diesem Thema selber hin und hergerissen. In der Doku aus Belgien, die ich verlinkt habe, wird gezeigt, wie eine relativ junge Frau, ich schätze Mitte Zwanzig, aufgrund von psychischen Krankheiten die erlösende Spritze bekommt (also eine real life Aufnahme, keine nachgestellte Szene). Und ich muss zugeben: In dem Moment habe ich dann doch ein mulmiges Gefühl bekommen, ob das ethisch vertretbar ist. Es ist eine Sache, zu theoretisieren, aber die Praxis fühlt sich immer anders an.
 
Im Grunde war es hier gar nicht mein Anliegen, diese Sache zu befürworten, auch wenn es vielleicht so aussieht. Ich wollte eine Diskussion darüber, aber, wie man sieht, hat dieses Thema einfach niemand auf dem Schirm. Es ist tabu. Man redet gar nicht darüber. Das ist in meinen Augen das Problem.
 
... Es ist tabu. Man redet gar nicht darüber. Das ist in meinen Augen das Problem.


Ich bin alt, ich habe schon etliche Diskussionen darüber erlebt. Vielleicht liegt das "nicht darüber reden" an Ihrer Beitrags-Aufmachung? Vielleicht haben DF-Teilnehmer beim Querlesen gedacht, ach, Chris, der will doch nur mein OK für seinen Suizid. Da winkt der allgemeine DF-Teilnehmer ab.
 
Ich bin alt, ich habe schon etliche Diskussionen darüber erlebt. Vielleicht liegt das "nicht darüber reden" an Ihrer Beitrags-Aufmachung? Vielleicht haben DF-Teilnehmer beim Querlesen gedacht, ach, Chris, der will doch nur mein OK für seinen Suizid. Da winkt der allgemeine DF-Teilnehmer ab.

Danke für diese Interpretation, die wäre mir nie in den Sinn gekommen. Also so war es ganz bestimmt nicht gemeint.
 
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Warum sollte man den Tod per Luxusdienstleistung frei Haus bekommen, wenn es wirklich Wert haben soll, dann muss man sich kümmern und anstrengen, so auch beim Tod. Entweder man lebt als Herausforderung, ist schwer krank, lebensmüde oder depressiv, das ist Voraussetzung um in den Tod zu gehen, gibt es diese Voraussetzung nicht, warum sollte man sie wie ein großes Geschenk offeriert bekommen. Es braucht kein Recht im juristischen Sinne und einklagbar am Tod, es geht ums Überleben und wer das nicht möchte stirbt so oder so. Das Leben ist ein Geschenk, aber den Tod als Geschenk gibt es nicht, so wie man für den Erhalt des Lebens etwas tun muss, so muss man zum Ableben auch etwas tun. Ohne Überwindung und Risiko keine Chance. Ich bin Masochist, mir gibt das Leben genau die Schmerzen, die ich brauche, der Tod nicht.
 
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