„Unter Anthroposophie verstehe ich eine wissenschaftliche Erforschung der geistigen Welt, welche die Einseitigkeiten einer bloßen Natur-Erkenntnis ebenso wie diejenigen der gewöhnlichen Mystik durchschaut, und die, bevor sie den Versuch macht, in die übersinnliche Welt einzudringen, in der erkennenden Seele erst die im gewöhnlichen Bewußtsein und in der gewöhnlichen Wissenschaft noch nicht tätigen Kräfte entwickelt, welche ein solches Eindringen ermöglichen.“ (Lit.:GA 35, S. 66)
Steiners Hauptproblem - und welches man ihm auch nicht vorwerfen kann - ist, dass er leider schon 1925 verstorben ist.
Zu dieser Zeit waren die Naturwissenschaften noch betonierte Gebäude ... Albert Einstein hatte zwar seine wesentlichen Arbeiten bereits publiziert, galt aber noch als Außenseiter. Von einer Quantenphysik konnte noch keine Rede sein. Die Psychologie gab es als Wissenschaft praktisch noch überhaupt nicht, oder sie befand sich im Zustand einer Art Philosophie in den Händen ebensolcher Außenseiter (Freud, Jung, Reich).
Selbst Sigmund Freud hat man lange vorgeworfen, seine Psychoanalyse sei mehr eine Pseudowissenschaft aus Postulaten, reine Spekulation und ohne wirkliche Belege. Es dürfte nicht wenige Wissenschaftler in den Fachbereichen Psychologie und Psychiatrie geben, die noch heute so denken. Allerdings haben - posthum - einige Erkenntnisse bildgebender Verfahren der letzten zwei Jahrzehnte gezeigt, dass er auch wohl in einigen Aussagen ziemlich richtig lag, auch wenn er selbst und seine frühen Anhänger dies nicht beweisen konnten.
Allerdings war Rudolf Steiner bereits zu seinen Lebzeiten umstritten. Zu ihm gibt es keine Position der Mitte, entweder man ist ein glühender Fan oder ein erbitterter Gegner.
In diesem Zusammenhang sollte man sich auch einmal vergegenwärtigen, was wir heutzutage unter einer Aussage wie "wissenschaftliche Erforschung" verstehen - und was zu Zeiten Steiners. Denn in den mehr als 100 Jahren seitdem ist ja viel passiert, auch und gerade in den Naturwissenschaften. Die Messlatte der wissenschaftlichen Genauigkeit und das, was wir als Wissenschaft anerkennen, liegt heutzutage deutlich höher - selbst in den Naturwissenschaften.
Das kann man Steiner nicht vorwerfen, wohl aber seinen Anhängern. Was Steiner noch als "wissenschaftlich" verstand - und viele andere auch - hat heutzutage mehr den Rang einer Pseudowissenschaft oder bestenfalls blanker Spekulation. Darunter ganze Fachbereiche der damaligen Zeit, wie z.B. die Eugenik, Rassenlehre u.a. Fairerweise sollte man an dieser Stelle auch einmal einräumen, dass von den Größen der Naturwissenschaft vergangener Zeiten zu gern nur das Denkmal ihrer richtigen Erkenntnisse dargestellt wird, aber nicht ihre teils fatalen Irrtümer. In der rückblickenden Betrachtung der Erkenntnisse eines Isaac Newton oder eines Johannes Kepler bleibt leider nur zu oft übrig, wo sie richtig und nicht wo sie falsch lagen (i.d.R. in der Theorie).
Wenn aber die heutigen Anhänger für Rudolf Steiner Wissenschaftlichkeit reklamieren, dann müssen sie sich leider an dem messen lassen müssen, was durchaus auch in Steiners Werk fällt, mittlerweile aber besser und anders erforscht wurde.
In der Konsequenz landet man in einer Art Ausschlussverfahren - was ich für ziemlich wissenschaftlich halte - wo zumindest an den Rändern der Steinerschen Aussagen, das eine als widerlegt gelten kann und das andere als bestätigt. Es fällt dann in einen Bereich einer experimentellen und statistischen Psychologie und kommt ohne esoterische Erklärungsmodelle aus. In der Folge wird aber der Bereich der Steinerschen Aussage immer schmaler werden, und ich fürchte: Am Ende wird nichts mehr übrig bleiben.