AW: Behaviorismus: Psychologie ohne Seele?
Eine recht beißende, aber im Kern zutreffende Polemik gegen den Behaviorismus ist die hier:
"Die Betrachtung der Psychologie in unserem Kontext ist nicht nur interessant, sondern auch kompliziert. Interessant deshalb, weil die Psychologie unserem Thema am nächsten steht, kompliziert, weil das, was sich der Laie gemeinhin unter Psychologie vorstellt, mit der sogenannten wissenschaftlichen Psychologie kaum eine Gemeinsamkeit hat. Der Nichtpsychologe ist der Meinung, dass Psychologen, aufgrund ihrer hervorragenden Kenntnisse um die menschliche Psyche sehr gute Menschenkenner seien, bereits aus äußerlichen Merkmalen auf grundlegende Charaktereigenschaften schließen könnten und so Kenner der geheimnisvollsten seelischen Zusammenhänge seien. Geschürt wird diese Meinung von den Illustriertenartikeln und populärwissenschaftlichen Abhandlungen, die Träume und bestimmte äußere Erscheinungsmerkmale als Ausdruck eines bestimmten Charakters deuten. Psychologie ist zur Zeit modern, und so verleiht die Vorsilbe "Psycho" einem jeden Wort das Flair entschleierter Geheimnisse.
Bemüht sich der interessierte Laie, tiefer in das Gebiet der Psychologie einzudringen, so stößt er meist sehr bald auf die Werke von Sigmund Freud. Die Erwartungen werden nicht enttäuscht; kaum geahnte Zusammenhänge zwischen Symbol und Wirklichkeit offenbaren sich. Und so kommt es, dass Psychologie fast ausschließlich mit der Psychoanalyse Freuds identifiziert wird.
Die Realität sieht jedoch ganz anders aus. Die Psychologie beschäftigt sich mit den verschiedensten Gebieten, das einzige aber, womit sie sich nicht beschäftigt, ist die Psyche. Der Begriff Psyche oder Seele würde das streng wissenschaftliche Konzept der Psychologie nur stören. Deshalb definieren die Psychologen ihre Psychologie als "Lehre vom Erleben und Verhalten des Menschen". Durch diese Definition hat man das Problem vom Zentrum an die Peripherie geschoben, denn Erleben und Verhalten sind bestenfalls Funktionen der Psyche.
Wir sehen die Parallelität zur Medizin; man umfasst und analysiert fleißig funktionale Abläufe, ohne sich um die Ursache und den Entstehungsort zu kümmern. Dieses Vorgehen war bei Physik und Medizin immerhin noch naheliegend, da dort die Phänomene, die zum Forschen herausforderten, sich hauptsächlich im materiellen Bereich manifestierten. Die Psychologie jedoch hätte von vorn herein die Chance gehabt, dem Irrtum des Materialismus nicht zu erliegen, da ihr Forschungsgebiet immaterieller Natur ist. Die ersten Ansätze der Psychologie berücksichtigten diesen Umstand auch gebührend. Den tragfähigsten Ansatz für eine echte psychologische Forschung lieferte schließlich Sigmund Freud. In seiner Überzeugung war Freud zwar Materialist, jedoch lieferte er mit seiner Technik der Psychoanalyse ein vom Materialismus ziemlich unabhängiges Instrument psychologischen Forschens.
Dieser durchaus fruchtbare Ansatz wurde von C.G. Jung aufgegriffen und konsequent weiterentwickelt. Dabei sprengte Jung die noch recht engen und einseitigen Grenzen der Freudschen Theorie und entwickelte in einem immensen Lebenswerk eine Psychologie, die sich ausschließlich an der Realität des Psychischen orientiert und auch deren Eigengesetzlichkeit Rechnung trägt. Die Genialität Jungs erkannte klar die Rolle und Aufgabe der Psychologie als eine alle anderen Disziplinen umfassenden Wissenschaft.
Es ist unvorstellbar, welchen Erkenntnisstand unsere heutige Psychologie hätte, wenn sie die unzähligen Ansätze und Einsichten Jungs als Basis ihres weiteren Forschens genommen und die analytische Psychologie konsequent weiterentwickelt hätte. Doch diese einmalige Chance verpasste man mit souveräner Blindheit, denn eine andere Strömung passte gerade besser in das übliche Denkschema: Aus Amerika kam der Behaviorismus zu uns. Ab sofort galten als neue Ideale psychologischen Forschens die Grundsätze der Physik. Man erkannte klar: Nur wenn die Psychologie genauso exakt arbeitet wie die Physik, hat sie eine Chance, von den anderen Naturwissenschaften ernst genommen zu werden.
Ausgerüstet mit dieser Profilneurose, begann man schleunigst, psychologische Phänomene messbar und quantifizierbar zu machen. Experiment und Statistik wurden das unentbehrliche Handwerkszeug eines Seelenforschers. Aus Liebe zur exakten Methode verzichtete man gerne auf die Erforschung der Psyche selbst. Es wurde gemessen und ausgewertet ... man ist heute noch nicht mit dieser Arbeit fertig! Um nicht irritiert zu werden, erklärte man einfach alle Theorien, Ansichten, Ergebnisse und Methoden, die nicht den Anforderungen der Statistik entsprachen, als unwissenschaftlich und veraltet. Diesem Säuberungsverfahren fällt zur Zeit auch noch die Psychoanalyse Freuds zum Opfer, die man bisher immer noch wegen ihrer therapeutischen Anwendbarkeit geduldet hatte. Nachdem man nun aber glaubt, durch die Entwicklung der Verhaltenstherapie auch auf dem Therapiesektor autark geworden zu sein, fällt man endgültig auch über die Tiefenpsychologie das Urteil der Unwissenschaftlichkeit.
Das Ergebnis dieser Entwicklung ist eindrucksvoll: Ein wissenschaftlicher Psychologe weiß überhaupt nichts! Er lebt lediglich von dem Vorurteil der Laien, die glauben, er wüsste etwas. Die Psychologie besteht zur Zeit aus einer Unsumme von Einzelergebnissen, die sich letztlich alle widersprechen. Es dürfte wohl kaum eine einzige bedeutende Untersuchung existieren, zu der es keine Gegenuntersuchung gibt, die das Gegenteil beweist. Da jedoch auch Psychologen das Gefühl, nichts zu wissen, als unangenehm empfinden, sucht sich ein jeder aus dem großen Angebot der wissenschaftlichen Ergebnisse einige, die ihm gerade gefallen, heraus, um sie fortan als sein "Wissen" zu verwenden.
Eine weitere Reaktion auf diese groteske Situation, dass es eine Wissenschaft gibt, die nichts mit Bestimmtheit weiß, ist eine "kritische wissenschaftliche Einstellung", die das Prinzip des Zweifels zum Wertmaßstab der Wissenschaftlichkeit erhebt und dadurch eine neue Möglichkeit persönlicher Qualifikation eröffnet.
Ich möchte hier nochmals betonen, dass meine Kritik natürlich nicht die Anhänger der verschiedenen tiefenpsychologischen Schulen betrifft, da man sich in diesen Kreisen nicht so sehr um die "Wissenschaftlichkeit" als um die therapeutische Anwendbarkeit kümmert. Jedoch beschränkt sich die Ausbildung und Forschung der psychoanalytischen Psychologie hauptsächlich auf Privatinstitute, da sie von den Universitäten immer mehr verdrängt wird. Mögen auch die Anschauungen dieser einzelnen Schulen oft recht divergent sein, so fußen sie doch alle auf einem recht einheitlichen Grundkonzept.
An den Universitäten hat man in den letzten Jahren das psychotherapeutische Konzept durch ein "neues" Modell ersetzt, das den Anforderungen der Wissenschaftlichkeit besser entsprechen soll: die Lerntheorie. Die Lerntheorie entwickelte sich aus Tierexperimenten und ist in ihrer Grundkonzeption einfach, um nicht zu sagen banal. Gegen die Lerntheorie selbst wäre grundsätzlich gar nicht so viel einzuwenden, hätte man den Versuch unterlassen, einfache funktionale Zusammenhänge, die man im Tierexperiment erforscht hatte, auf den Menschen zu übertragen und daraus eine Therapie psychischer Störungen abzuleiten. Dieser letzte Schritt, die Entwicklung der Verhaltenstherapie, verwandelt Psychologie in Kriminalität. Der Grundgedanke der Verhaltenstherapie ist einfach: Man geht von der Hypothese aus, dass der Mensch sich bestimmte Verhaltensweisen durch Lernprozesse aneignet. Trifft ein Verhalten mit einem angenehmen Erlebnis zeitlich zusammen, so wird besagtes Verhalten verstärkt, die Wahrscheinlichkeit der Wiederholung des Verhaltens steigt an, während sie beim Zusammentreffen mit einem unangenehmen Erlebnis sinkt.
Diesen Mechanismus kennt jeder aus der Dressur von Tieren: Füttere ich einen Hund jedesmal, wenn er mir die Pfote gibt, mit einem Stück Fleisch, so wird er eher und schneller das "Pfotengeben" lernen, als wenn ich ihn jedesmal bei dieser Handlung schlage. Zeigt nun ein Mensch ein unerwünschtes Verhalten, wie zum Beispiel eine Neurose, so interpretiert die Verhaltenstherapie dieses Verhalten konsequenterweise als Ergebnis eines Lernprozesses, der nun in der Therapie "rückgängig" gemacht werden soll. Praktisch leitet man einen neuen Lernprozess ein, indem das unerwünschte Verhalten bestraft und das erwünschte Verhalten belohnt wird. Dieses geschilderte Grundprinzip kann man beliebig modifizieren und kombinieren - einen Beschäftigung, die zur Zeit die Mehrzahl aller Psychologen voll ausfüllt.
Unschwer erkennt man in der Verhaltenstherapie das Comeback eines als veraltet und unmenschlich geltenden Erziehungsstils: Tat ein Kind nicht das, was die Eltern wollten, bestrafte man es so lange, bis es dieses Verhalten aufgab; umgekehrt belohnte man ein Kind für das, was es tun sollte. Genau dieser Vorgang verkleidet in eine umfangreiche Fachterminologie, ist heute das modernste Behandlungsverfahren für psychische Störungen!
Es ist wohl dem Schamgefühl der Psychologen zu verdanken, dass man heute im Zusammenhang mit der Verhaltenstherapie nicht mehr so gern von "Therapie" sondern von "Intervention" spricht. Die Tatsache, dass man den Verhaltenstherapeuten - statt sie vor Gericht zu stellen - Institute und Geldmittel für ihre "Forschung" zur Verfügung stellt, zeigt, was man heute alles ungestraft machen darf, wenn man das Wort "wissenschaftlich" vor seine Tätigkeit setzt. Was man heute unter der Fahne der Wissenschaftlichkeit treibt, entspricht den Kreuzzügen unter dem Signum der Kirche.
Man mag über eine solche Entwicklung noch so erbost sein, mir selbst fällt es schwer den einzelnen Mitläufern der wissenschaftlichen Kreuzzüge böse zu sein. Man versuche sich in die Lage eines Abiturienten zu versetzen, der sich entschlossen hat, Psychologie zu studieren, um die Geheimnisse des Seelenlebens kennenzulernen. Von der Schule gewohnt, gültige Fakten und Gewissheiten gelernt zu haben, begegnet er auf der Universität einer Flut von Theorien, Meinungen und Ergebnissen, die nebeneinander all gleichgültig oder ungültig sind. Als Handwerkzeug, sich in diesem Chaos zurechtzufinden, lernt er Statistik und Testtheorie. Doch die Diskrepanz zwischen seinen Erwartungen und der gebotenen Realität wird zusehens größer, er sehnt sich nach einem Wissen, das für ihn anwendbar ist. In dieser Situation ist es verständlich, wenn er gierig nach dem einzigen angebotenen Konzept, nämlich der Lerntheorie, greift. Schließlich verspricht sie die Möglichkeit praktischer Anwendbarkeit. Glücklich überhaupt etwas Konktretes gefunden zu haben, wird er jede Kritik fanatisch abwehren, aus unbewusster Angst, wieder ins Nichts der völligen Orientierungslosigkeit zu fallen. Auf diese Weise erzieht man eine Schar von Gläubigen, die mit echter Überzeugung Dinge vertreten, die einem jeden denkenden Menschen ihre Sinnwidrigkeit ohne Mühe offenbaren."
(T. Dethlefsen, Das Leben nach dem Leben, Goldman TB 1974, S.163 -168)