Prinzipiell habe ich eine gespaltene Meinung zum Transhumanismus. Einerseits birgt diese Strömung ein unglaubliches Potenzial in sich und entfaltet eine beachtenswerte kulturelle Wirkmächtigkeit. Auch mit einigen der propagierten technologischen Verbesserungsmöglichkeiten kann ich mich anfreunden. Andererseits fallen THs vor allem durch ihr anhaltende Desinteresse auf, das sie in der Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen und politischen Konsequenzen des TH an den Tag legen.
Wir alle haben in den letzten 20 Jahren auch die negativen Folgen von Internet und Smartphones feststellen dürfen. Um nur ein paar wenige Aspekte zu nennen:
- Smombies
- Hate-Speech, Demütigung, Nötigung und Bedrohung
- Internet- und Smartphone-Kriminalität
um nur wenige Aspekte zu nennen.
Aber bereits die Nutzung eines gängigen Computers mit Internetverbindung verlangt dem User Einiges ab, um nicht legaler- oder illegalerweise mehr oder weniger beliebig ausgelesen und profiliert zu werden. Was für Konsequenzen soll das alles erst haben, wenn die Menschen beginnen, ihre Verbindung zum Netz mittels eines Chips bereits in ihrem eigenen Kopf stattfinden zu lassen?
Die Vergangenheit hat uns gezeigt, dass jede digitale Technologie, die man uns als "absolut sicher" versprochen hatte, früher oder später für kriminelle Machenschaften genutzt oder gehackt wurde. Warum sollte dies mit neuen Technologien anders sein?
“Wenn ein Wissenschaftler darüber nachdenkt, die grundlegende Natur des Lebens zu verändern – Viren zu erzeugen, Gene zu verändern – malt dies ein Schreckgespenst an die Wand, das viele Biologen als ziemlich besorgniserregend empfinden, während die Neurowissenschaftler, die ich kenne, wenn sie über Chips im Gehirn nachdenken, es ihnen nicht so fremd zu sein scheint, weil wir bereits Chips im Gehirn haben. Wir haben eine tiefe Hirnstimulation, um die Symptome der Parkinson-Krankheit zu lindern, wir haben frühe Versuche mit Chips, um das Sehvermögen wiederherzustellen, wir haben das Cochlea-Implantat – für uns scheint es also keine große Anstrengung zu sein, Geräte in ein Gehirn zu stecken, um Informationen auszulesen und Informationen wieder einzulesen.”
„(Deutsche Übersetzung)“
– Elon Musk: Neuralink and the Brain’s Magical Future. Interview zwischen Elon Musk und Tim Urban
Nehmen wir einmal an, der humanitäre Ansatz des Hrn. Musk - Implantate für bisher unheilbar Kranke - ist nicht nur ein Feigenblatt: Werden sie dann auch tatsächlich jenen dienen, für die sie vorgesehen sind?
Vor Jahren unterhielt ich mich einmal mit einem Orthopädietechniker. Er berichtete mir, dass der Marktführer für intelligente Prothesen ein deutsches Unternehmen sei ... es aber kaum Deutsche gäbe, die sie bekämen. Der Grund: Die meisten Menschen, die in Deutschland eine Amputation erdulden müssten, erlitten diese aufgrund hohen Alters und geschwächtem Immunsystems. Und diese Menschen seien nicht mehr in der Lage mit so einer Hightech-Prothese umzugehen, sei es aus physischen oder mentalen Gründen.
Die Prothesen würden hauptsächlich in die USA geliefert: Für amerikanische Kriegsveteranen.
Ich will damit nicht sagen, Soldaten verdienten solche Prothesen nicht. Dennoch hat es für mich einen faden Beigeschmack, junge Menschen in Kriegen Gliedmaßen verlieren zu lassen, um sie anschließend mit Hightech-Prothesen zu versorgen.
Es ist eine ethisch heikle Frage, nicht nur im Bezug auf Transplantate, sondern auch im Bezug auf ggf. leistungssteigernder Drogen, deren Verwendung auf Bevölkerungskreise zuzulassen, die gesund sind.
Die Protagonisten solcher Bestrebung betonen die Freiwilligkeit solcher Entscheidungen - niemand zwingt Dich, es zu tun - nur wie "freiwillig" sind denn solche Entscheidungen? Schließlich konkurrieren wir alle miteinander, was, wenn so ein Cyborg am Arbeitsplatz einfach viel erfolgreicher ist, als Du? Wie "freiwillig" ist denn die Entscheidung dann, auf solche Maßnahmen (Transplantate, Drogen) zu verzichten und ggf. ins berufliche Aus gedrängt zu werden?
Oder die Industrie erweitert die Definition dessen, was man als "krank" definiert.
Auch das hat es schon gegeben. Der Arzneistoff Modafinil wurde zur Behandlung der Narkolepsie entwickelt, nur ist der Markt für diese Erkrankung klein. Daher erfand man einfach eine neue "Krankheit", die
work-sleep-disorder: Wachphasen und Müdigkeit von Schichtarbeitern, ein nachvollziehbares Problem. Aha: Man lässt Menschen mehr als unbedingt notwendig Schicht arbeiten, um ihnen dann Drogen zu geben, damit sie es besser verkraften. Oder man erwog, den Jetlag von Flugreisenden zu einer Art "Krankheit" umzuwidmen (kam damit aber nicht durch).
Oder man propagiert gleich die "Verbesserung" der Persönlichkeit gesunder Menschen, wie der amerikanische Psychiater Peter D. Kramer bereits 1993 in seinem Buch
Listening to Prozac: Um erfolgreicher im Job zu sein, geselliger zu werden, fürsorglicher mit seiner Frau umzugehen und weniger Pornos zu schauen.
Willkommen in der Brave New World.
Es erschließt sich mir auch nicht, wozu solche Gehirnimplantate bei Gesunden gut sein sollten? Um was damit zu erreichen? Noch schneller zu kommunizieren? Noch unverbindlicher zu sein? Noch mehr in noch kürzerer Zeit zu arbeiten? Noch mehr Unterhaltung, Seifenopern und Plattitüden zu konsumieren?
Bereits jetzt habe ich mit Auszubildenden zu tun, die mit ihren Smartphones jeden Dideldaddel beherrschen ... an einfachen intellektuellen Aufgaben aber scheitern: Einfachste Rechenaufgaben im Kopf rechnen, oder auch nur mal eine Größenordnung überschlagen (muss ja nicht immer genau sein). Die Rechtschreibung, oder auch nur etwas inhaltlich sinnvoll betiteln. Sich neue Inhalte aus vorhandener Literatur oder auch dem Internet zu eigen machen, gar verschiedene Informationen einzuschätzen und zu werten ... vergiss es.
Oft funktioniert es auch nach wiederholter Anleitung nicht, es wird schnell wieder vergessen, und wenn es keine in Stein gemeisselten Anweisungen gibt, dann können sie es nicht umsetzen. Es fehlt ihnen schlicht die Fähigkeit zur Abstraktion, dem eigenen Denken, dem Verknüpfen und Umsetzen bereits vorhandener, verschiedener Kenntnisse.
Wie soll es denn erst werden, wenn ein jeder sich daran gewöhnt hat, mit seinem Gehirnchip alles fix und fertig aus einer Datenbank, und sei es Wikipedia, abzurufen?