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Der Fluch der Moderne

AW: Der Fluch der Moderne

hallo, zwetsche!

danke für deine antwort!

zu zu 2)
hätt ich dir auch nicht vorgeworfen. nur muss ich ehrlich sagen, dass robespierre revolution nicht erfolgreich war, sondern eher der teil davor, also von 1789-92.
ich denke mir, dass revolutionen nicht so sehr vom gewaltmaß abhängen. das maß und die art von gewaltanwendung spielen sicherlich eine rolle, bestimmt aber eine untergeordnete. diese diskussion könnten wir ja auch in den thread "Geschichte der Revolutionen" verschieben.

zu zu 3)

dann lese erst zuende, denn wenn du dann neue ideen einbringst, nutzt es mir auch!
 
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AW: Der Fluch der Moderne

Nun gut Ps 1, es wäre unhöflich, Dich länger warten zu lassen. Obgleich mir nicht ganz wohl ist, die Ausführungen können sehr leicht mißverstanden werden (auch von anderen).

Zu einem großen Teil kann ich auf meine Ausführungen in # 16 verweisen, da steht ja schon viel von der Begründung drin.

Luther hat sich mit dem Reliquiengebilde der von Rom bestimmten Kirche nicht abgefunden und sich in ärgsten Gewissensschlachten die Frage nach dem gnädigen Gott gestellt. Die Reformation löste ihre (zahlreichen) Anhänger aus dem System der Gebilde und Marotten heraus, dafür aber hinein in die eigene Verantwortung. Um überleben zu können bildete sich die evangelische Kirche zur Staatskirche, sie stellte sich von Anfang an unter den Schutz der Fürsten.

Das hatte seinen Preis, denn nicht die Gemeinde als eigenständige Kraft (vergleiche einmal die Entwicklung in Holland, wo der Protestantismus sich nicht im Rahmen einer Staatskriche etablierte, sich aber auch ein Klima von Toleranz entwickelte) stand mehr und mehr im Vordergrund, sondern die Verknüpfung des Protestantismus mit der Obrigkeit. Nicht ohne Grund vollzog sich die Reichsgründung 1871 vom protestantischen Preußen aus.

Aber noch schlimmer: Das führte den einzelnen Protestanten, aber auch insgesamt Deutsche mehr und mehr heraus aus der christlichen Heilserwartung in die innerweltliche Heilserwartung (lesenswert dazu Christian Graf v. Krockow). Diese gepaart mit dem schon eingangs von Heine beschriebenen deutschen Rigorismus bildete ein fatales Pflaster, eine Zeitbombe, die im 20. Jahrhundert platzte. Denn die vermeintliche Störungen dieser Erwartung brachte auch die Entschlossenheit, nein: den Wahnsinn, mit sich, etwaige vermeintliche "Störer" zu bekämpfen. Denn dem, der nicht im Jenseits, sondern im Diesseits sein "Heil" sucht, läßt sich durchaus verkaufen, daß er dazu bis zum Letzten gehen muß, auch bis zum Mord. Und das Regulativ der christlichen Besänftigung, wo war es geblieben?

Und damit bin ich bei dem, was ich als "Fluch der Moderne" bezeichne. Viele Philosophen, Schriftsteller (allen voran sicherlich Kafka, aber auch Thomas Mann, Kapitel "Schnee" im Zauberberg) haben diesen Punkt angekratzt, wenn auch in anderer Form. Meiner Meinung nach fußen die Katastrophen des vorigen Jahrhunderts, der ersten Hälfte, um genau zu sein, ganz wesentlich auf dieser Entwurzelung des Einzelnen aus alten Sicherheiten und Weltanschauungen, auch wenn diese infantil und überholungsbedürftig waren. Nur so war der Wahnsinn möglich, der folgte.

Ich hoffe sehr, in diesem sensiblen Thema nicht mißverstanden zu werden. Es geht dabei nie um den Versuch einer Entschuldigung oder gar Rechtfertigung, lediglich um Erklärungsversuche.


Viele Grüße
Zwetsche

PS (1): Ich hoffe, es gesellen sich noch ein paar andere zu uns in diesen thread, damit er nicht einschläft.
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:
AW: Der Fluch der Moderne

Zwetsche schrieb:
Und damit bin ich bei dem, was ich als "Fluch der Moderne" bezeichne. Viele Philosophen, Schriftsteller (allen voran sicherlich Kafka, aber auch Thomas Mann, Kapitel "Schnee" im Zauberberg) haben diesen Punkt angekratzt, wenn auch in anderer Form. Meiner Meinung nach fußen die Katastrophen des vorigen Jahrhunderts, der ersten Hälfte, um genau zu sein, ganz wesentlich auf dieser Entwurzelung des Einzelnen aus alten Sicherheiten und Weltanschauungen, auch wenn diese infantil und überholungsbedürftig waren. Nur so war der Wahnsinn möglich, der folgte.

Nun stellt sich die Frage nach der anscheinend lebensnotwendigen Suche nach einem neuen Nährboden in dem man wieder Wurzeln schlagen kann. Wieso werden in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts z.B. die Rassentheorien zu diesem Nährboden?
Es scheint mir bezeichnend, dass man sich ein pseudo-wissenschaftliches Fundament erstmal zulegt, also den politischen Gräueltaten die Millionen von Menschen das Leben kosten, durch ein so genanntes höheres Ziel das erstrebt wird, im Voraus rechtfertigt.

Die Rassentheorie wird als naturwissenschaftliche Erkenntnis geboten, und Naturwissenschaften suchen doch nach objektiven Fakten. Insofern haben sie auch etwas Allgemeingültiges.
Die Frage stellt sich: ist das tatsächlich so? Oder sind vielleicht die Naturwissenschaften einer gewissen Zeit eher eine Spiegelung des allgemeinen Denkens dieser Epoche?
Also nicht Basis, nicht Fundament – sondern eigentlich ein Produkt einer gewissen Denkweise. Und da es wahrscheinlich so ist, schafft man sich oft durch die Wissenschaft ein Instrument welches einer Ideologie dienlich ist. Ich betone: dies darf man nicht verallgemeinern – aber Wissenschaft die als Produkt einer gesellschaftlichen Denkweise entsteht, muss zumindest relativiert werden, manchmal sogar in Frage gestellt werden.

Aus einem Buch das ich sehr empfehlen möchte, hier ein Beispiel. Doch erst das Buch: "Bakteriologie und Moderne. Studien zur Biopolitik des Unsichtbaren 1870 - 1920" von Philipp Sarasin, Silvia Berger, Marianne Hänseler.

Und jetzt das Beispiel: Robert Koch ist der eigentliche Entdecker der Bakteriologie – denn er macht Bakterien sichtbar. Durch das Sichtbar machen wird die Basis geschaffen um bakterielle Krankheiten bekämpfen zu können. Es sollte noch lange dauern bis man richtige Erfolge vorweisen konnte, aber die Forschungen Kochs bekamen schon ziemlich bald eine politische Dimension. Es fing der Kampf an um politische Feinde zu identifizieren, sie sichtbar zu machen um sie dann bekämpfen zu können. Hitler nannte sich selber den Robert Koch der Politik. Und einer der übelsten Propagandafilme der Zeit war "Robert Koch - Bekämpfer des Todes". Emil Jannings lies sich darin missbrauchen und spielte den Forscher der sich als Ziel gesetzt hat den Feind auszurotten.

Die politische Dimension der Wissenschaft oder ihrer Erkenntnisse lässt sich auch heute erkennen. Dazu zählt für mich das Streichen der Evolutionstheorie aus dem Unterricht in manchen der US Staaten und ihr Ersetzten durch das Intelligent Design, aber auch die Tatsache, dass HIV oder AIDS am Anfang als Schwulenseuche bezeichnet wurde. Dies setzte sich fort lange nachdem man wusste, dass auch Heterosexuelle sich mit dem HIV infizieren.

Zwetsche, ich hoffe, dass ich mich mit diesen Gedanken nicht allzu sehr vom Thema entfernt habe. Aber ich denke, dass auch mein Beitrag über einen Fluch der Moderne spricht.

Bin froh, dass das Thema wieder aufgegriffen wurde.

Liebe Grüße

Miriam
 
AW: Der Fluch der Moderne

Mit "Fluch der Moderne" meine ich gerade die Kernfrage um die es mir geht, nämlich die Frage der Zwansläufigkeit. Damit meine ich allerdings weniger eine Zwangsläufigkeit im "religiösen" Sinn also im Sinne von Schicksal oder Vorbestimmung als vielmehr die Frage, ob sich bereits anhand der historischen und gesellschaftlichen Entwicklungen und den Eintritt in das Zeitalter der Moderne die Katastrophe des 20. Jahrhunderts voraussagen ließ. Ich bin allerdings jetzt eine Woche weg (auf der Spur des Weins in die Pfalz), so daß sich erst einmal alle anderen hier - hoffentlich - zu Wort melden.

Liebe Grüße
Zwetsche

Danke, daß Du das Thema wieder zum Leben geweckt hast und hoffentlich hat der Wein geschmeckt.
Meine - primera-vista - Antwort auf Deine Kernfrage: Nein. Im Gegensatz zu Naturvorgängen fließen in gesellscgaftliche derartig viele unvorhersehbare und nicht vorhersagbare Imponderabilien ein, daß unmöglich von einer "Zwangsläufigkeit" gesprochen werden kann. Das ist doch der Fundamentalirrtum des Marxismus. Er glaubt, die Entwicklungsgesetze der Gesellschaft erkennen zu können. Von daher liegt es für ihn nahe, diese zu steuern - was er ja auch versucht hat - obwohl sich eigentlich "zwangsläufig" die nächste gesellschaftliche Stufe von selbst ergibt. Aber das gehört wieder zu den Widersprüchen zwischen Theorie und Praxis der marxistischen Geschichte.
Fazit: Es gibt keinen "Gang der Geschichte" (Adorno) im Sinne eines für uns Menschen erkennbaren Gesetzes, "es sei denn, den ins Verderben". Aber das war die Altersweisheit eines Moribundus.
Gruß an alle Mitdiskutanten von Ziesemann, der leider - anders en gagiert, nur noch wenig ins DF kommen kann.
 
AW: Der Fluch der Moderne

hallo, ziesemann!

oh doch, es gibt solche gesetzmäßigkeiten. sie mögen größtenteils nur statistischer art sein, es gibt sie aber, nur von uns menschen bisher nicht erkannt.
das ist genau die wissenschaft, die seit beginn in diesem forum predige, die PSYCHOHISTORIK!!!

inspiriert von Issac Asimov klingt eine solche wissenschaft, der genialen verbindung von natur- und geisteswissenschaften, zwar nur wie reine fiktion und spekulation, doch es gibt ansätze dazu. sicher, sie ist schwierig zu handhaben und es wird noch jahrhunderte dauern, bis sie ausgereift ist, doch ich glaube sie ist machbar. einige ansätze versuche ich z.b. bei dem revolutionenvergleich herauszuarbeiten (für fachliteratur dazu bin immer offen!).

es gibt auch wissenschaftler wie rashvensky oder cunnigs (so hieß der, glaub ich?!) die entwickeln bereits modelle von differentialtopologien, mem-verbreitungszeiten oder christaller-modellen! doch ich schweife zu sehr ab, sollte man in einem extra thema behandeln!
 
AW: Der Fluch der Moderne

Die Frage stellt sich: ist das tatsächlich so? Oder sind vielleicht die Naturwissenschaften einer gewissen Zeit eher eine Spiegelung des allgemeinen Denkens dieser Epoche?
Also nicht Basis, nicht Fundament – sondern eigentlich ein Produkt einer gewissen Denkweise. Und da es wahrscheinlich so ist, schafft man sich oft durch die Wissenschaft ein Instrument welches einer Ideologie dienlich ist. Ich betone: dies darf man nicht verallgemeinern – aber Wissenschaft die als Produkt einer gesellschaftlichen Denkweise entsteht, muss zumindest relativiert werden, manchmal sogar in Frage gestellt werden.
Die politische Dimension der Wissenschaft oder ihrer Erkenntnisse lässt sich auch heute erkennen. Dazu zählt für mich das Streichen der Evolutionstheorie aus dem Unterricht in manchen der US Staaten und ihr Ersetzten durch das Intelligent Design, aber auch die Tatsache, dass HIV oder AIDS am Anfang als Schwulenseuche bezeichnet wurde. Dies setzte sich fort lange nachdem man wusste, dass auch Heterosexuelle sich mit dem HIV infizieren.

Danke für diesen Beitrag, liebe Miriam. Ich denke nicht, daß er vom Thema wegführt, ganz im Gegenteil.

Die beunruhigende Frage ist ja, wie es zu derartigen "Entmenschlichungen" kommen konnte. Du sprichst als Beispiel die Bakteriologie an. Das finde ich sehr treffend. Denn an dem Beispiel erkennt man doch sehr deutlich die Janusköpfigkeit der "Moderne". In ihr hat sich doch die Medizin erst richtig etabliert, ebenso wie die Industrie, Wissenschaft, der Parlamentarismus.

Eigentlich alles Dinge, die den Menschen das Leben erleichtern sollten, und zwar unabhängig von einem steuernden Gott. Der Mensch der Moderne begann, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, er wollte (mußte) sich selbst beweisen. Aber mit all den "guten" Dingen sind zugleich auch Instrumente böser Absichten geschaffen worden. Die Medizin ist etwas Lebensnotwendiges, um Leben zu retten. Sie ist aber eine tödliche Waffe, wenn es darum geht, ungeliebte Menschen, zu morden. Aus dem Mord wird so etwas wie "notwendige Hygiene". Himmler soll mal vor einem Mordkommando gesagt haben, sicher, auch Ungeziefer habe das Recht zu leben...es sei aber das Recht des Menschen, sich gegen das Ungeziefer zu wehren.
Ungeachtet der Perversion, die in den Worten steckt, machen sie die Denkweise, nein: die Funktionsweise eines Genozides deutlich, jedenfalls so wie er sich von Deutschland aus abspielte. Alles funtioniert mit einer banalen Verschiebung der Begrifflichkeiten. Der Mensch wird zum Bakterium degradiert. So simpel geht das.

Andere Mechanismen, so z.B. der sogenannte Befehlsnotstand treten als Katalysator hinzu. Selbst den "traditionellen" Antisemitismus würde ich eher als Beschleuniger, nicht aber als eigentlichen Grund für den Holocaust ansehen. Ich würde sogar so weit gehen, daß vielleicht sogar der Antisemitismus (der ohne Frage auch vor Hitler abgrundtief abscheulich war) eher instrumentalisiert wurde, als der Grund war. Er war - wobei ich mich zugegebenermaßen nur auf die historischen Quellen verlassen kann, nicht auf eigene unmittelbare Anschauung - in Deutschland traditionell weit weniger ausgeprägt als z.B. in Polen, Rußland, im Baltikum, ja selbst als in Österreich. Hitler allerdings muß ihn irgendwo, vermutlich in Wien, aufgeschnappt haben.

Auf Deine Frage würde ich daher meinen, daß die Naturwissenschaft mit Sicherheit nicht das Fundament war, sie lediglich - hoch wirksam -intrumentalisiert wurde, ebenso wie die o.g. Wissenschaften, übrigens auch die Rechtsprechung (einige der bedeutensten Nachkriegsjuristen haben üble Sachen verfaßt, ich habe während des Studiums einige der Pamphlete tief im Keller des Seiminars gefunden). Wo aber liegt denn dann die Basis?

Vielleicht liegt der Grund in einer (erschreckenden) banalen Erkenntnis, daß es gar keinen so furchtbar hochtrabenden Grund gibt, allenfalls in dem Aufeinandertreffen einiger unheilvoller Geschehnisse liegt (der Weltwirtschaftskrise, der Traumatisierung durch den 1. WK, später durch die Inflation, einem Wahnsinnigen namens Hitler, der sich wie ein "Bazillus" in dieses ungute Beet einpflanzte und sein zerstörerisches Gedankengut ausbreitete). Und der Unfähigkeit der Menschen (in Deutschland jedenfalls), mit der überantworteten Mündigkeit zurechtzukommen.

Apropos Hilter? Ist er vielleicht gar ein typischer Vertreter des "Entwurzelten" der Moderne?

Viele Grüße
Zwetsche
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:
AW: Der Fluch der Moderne

Apropos Hilter? Ist er vielleicht gar ein typischer Vertreter des "Entwurzelten" der Moderne?

Viele Grüße
Zwetsche


Hallo, zwetsche!

ja, das war es, eindeutig!
obwohl ich die schlussfolgerungen quatsch finde, möchte ich einmal die schulbuchmeinung des sozialismus über den herrn hitler anführen, weil sie meiner ansicht nach stimmt:
sie sagen der deutsche faschismus sei der aggressivste ausdruck des imperialismus, die letzte stufe des kapitalismus. das es nicht die letzte war, okay, das wissen wir heute.

doch ich meine, man kann das auch auf stalins regime in der SU beziehen. das beide verbindende ist der totalitarismus, wie ich finde die schlimmste ausuferung, die ein staat haben kann. es ist schon merkwürdig, dass die zwei größten totalitären systeme, die die menschheit bisher erlebt hat, ausgerechnet zur selben zeit nur wenige tausende km beieinander liegen. es ist ein phänomen der moderne, in der sich die verzweiflung über die ungewissheit ob der neuen zeit widerspiegelt. u. a. weil man mit neuen zeiten nicht zurecht kam, traten diese systeme auf, denn die menschen erhofften eine werteorientierung, eine neue beständigkeit als bastion gegen die flut von neuem am anfang des 20. jh.!

sicher, dass es manche staaten wie england oder die USA nicht erwischt hat, liegt vielleicht daran, dass auch der 1. Weltkrieg daran schuld war, und dieser von beiden angeführten beispielen verloren wurde.

ich hoffe man sieht ein wie stark hier diese doppelgesichtigkeit der modernen zeit, des internationalen kapitalismus zum ausdruck kommt. die folge war ein menschenverachtender totalitarismus.
 
AW: Der Fluch der Moderne

Das ist eine Sache, ohne die ich mir das Leben gar nicht mehr vorstellen kann. Ich wüsste nicht, was bedeutsamer ist als das: die Vernichtung eines Volkes. Und Vernichtung ist wichtig, es ist nicht die Ermordung, es ist die Auflösung in Luft. Sie werden vergast und verbrannt. Sie verflüchtigen sich in der Luft und haben kein Grab, sie werden um ihr Grab gebracht. Sechs Millionen haben kein Grab. Das ist ungeheuer wichtig.

Thomas Harlan.




Ich habe das Interview mit Thomas Harlan aus dem ich ein kurzes Zitat oben wiedergebe, im Rahmen der Sendung Titel, Thesen, Temperamente im ARD verfolgt (Dez.2006) – und fürs erste Mal wurde mir klar was das Wort Vernichtung eigentlich besagt.
Das Interview fand statt anlässlich des Erscheinens seines Buches "Heldenfriedhof". Thomas Harlan widmet sich da erneut dem Thema das er sein ganzen Leben lang verfolgt hat, weil es ihn verfolgt hat: die Vergangenheit die nicht ruhen kann – da so vieles sehr spät oder gar nicht ans Tageslicht kam.

Wer weiß heute noch bescheid über die "Aktion Reinhardt" – besser gesagt wer hat sich überhaupt mit diesem Fluch oder Schrecken der Moderne wirklich befasst? Es sind einige wenige Historiker und die Zusammenhänge wie sie Harlan macht, sind fast von niemandem hergestellt worden. Doch von einer, die man unbedingt erwähnen sollte: von der Journalistin Gitta Sereny.

Nur als Beispiel hier erwähnt: wer kennt heute noch genau Namen wie August Dietrich Allers oder Hermann Höfle? Der erste war Jurist und federführend im Euthanasieprogramm, später Geschäftsführer der Euthanasie-Zentrale T4 der Kanzlei des Führers.
Der zweite, Hermann Höfle stammt aus Salzburg, ist eigentlich Automechaniker und ihre Wege werden sich erst 1941 kreuzen – Allers als einer der Hauptverantwortlichen des Euthanasieprogramms braucht denjenigen der die Transporte in die Vernichtungskammern organisieren wird – und da ist eigentlich Hermann Höfle federführend.

Mit Absicht bleiben diese zwei Namen im Schatten, auch wissen sie lange Zeit nichts voneinander – warum aber bleiben sie es, zumindest kann man sagen: vielen von uns auch im Zuge der Aufarbeitung dessen was als erster Claude Lanzmann später die Shoah nennt?

Die Vermutung liegt nah, dass die Bundesrepublik kein Interesse an einer richtigen Aufklärung der Geschichte des Dritten Reichs gehabt hat. Dies zeigte sich auch anlässlich der Ausstellung "Verbrechen der Wehrmacht", die eindeutig die Rolle der regulären Armee und nicht nur die der SS in der Vernichtungsmaschinerie aufzeigte.
Wie gesagt, das sind Beispiele herausgegriffen aus einer Unmenge von Fakten die ans Licht gehören um einigermaßen die Möglichkeit einer Wiederholung dessen was eigentlich ein Genozid ist und wie er organisiert wird, gegen wem auch immer er gerichtet sein sollte, auszuschließen. Dafür ist in erster Linie eine gründliche Aufklärung unerlässlich.

Nun möchte ich doch noch kurz diesen anderen, nicht weniger grausamen Fluch der Moderne, erwähnen: Stalins Verbrechen mit Rund 30 Millionen Todesopfer.

Wieder wird der Massenmörder (ein viel zu milder Ausdruck!) in Russlands Staatsfernsehen gefeiert - und zwar in einer Soap-Opera, "Stalin live". Die Botschaft des Soaps: Stalin war ein Opfer, er hat gesündigt, war grausam – aber dies zum Wohle seines Landes. In der Oper, die ihn in seinen letzten Tagen zeigt, lässt er sein Leben Revue passieren und bereut.
Es ist ein erschreckender neuer so genannter Patriotismus, der in Putins Russland festzustellen ist.
Für mich wird die ganze Politik Putins durch diese Rehabilitierung Stalins ein wahrer Schrecken der Moderne, wenn ich sehe wie unsere wie auch andere Regierungen in Westeuropa vor ihm buckeln.

Gruß in die Runde

Miriam
 
AW: Der Fluch der Moderne

hallo, miriam!

ich würde putins politik nicht als stalinfreundlich bezeichnen. das einzige, was womöglich putin an stalin schätzt, ist die behauptung der russischen führungsrolle im gebiet der alten SU und die methoden viele dinge im geheimen zu "klären".
doch sind andere ziele wie die freie marktwirtschaft mit sich herausbildenden monopolen, zusammenarbeit mit anderen staaten wie china und einmischung in fremde konflikte nicht unbedingt die von stalin gewesen!
 
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AW: Der Fluch der Moderne

Das ist wirklich ein großartiger Thread, wenn es früher schon mehr davon auf diesem Niveau gegeben hätte, wäre ich nie "fremd gegangen"
Nun ist allerdings die Thematik gewaltig erweitert worden und verlangt Stellungnahmen zu historischen Vorgängen - en detail, wenn ich es richtig verstanden habe. Das geht mir zu weit.
Ich begnüge mich, suche , einen Unterschied zwischen Prophetie und Prognose zu machen. Prophetie ist unwissenschaftlich, was sie nicht falsch machen muß, aber ihre Beweise, sofern vorhanden, taugen nicht zur Falsifizierung. Dagegen beruht die Prognose auf Aussagen, die mit wissenschaftlicher Methodik erarbeitet nachprüfbar sind. Wenn H.H. bescheinigt wird, daß er prophetisch recht gehabt hbe, dann würde ich mal schlecht Kölsch sagen: Do het e Jlück jehabt. Hat Oswald Spengler den Untergang des Abendlandes prophezeit oder prognostiziert? Egal, er scheint recht zu behalten. Und Marx, der sich so viel darauf zugute hielt, die Gesetzmäßigkeiten der Geschichte erkannt zu haben, hat sich weit häufiger massiv geirrt als recht behalten.
psbnv1, stimmt. Wenn man sagt, nan kann die Gesetzmäßigkeiten der Geschichte nicht erkennen, dann müßte man hinzufügen: Mit den derzeitigen Erkenntnismitteln. Ob allerdings die Psychohistorie uns helfen kann, wage ich zu bezweifeln. Schon bei Juristen gilt: Drei Juristen = 4 Meinungen; bei Psychologen verdoppelt sich das, anders sind die vielen Fehlprognosen (!) für rückfällige Straftäter gar nicht zu erklären.

Leider verreise ich für eine Weile; kann mich also nicht mehr "einmischen" - wofür man sich freilich nicht zu entschuldigen braucht, suche.
Ich beneide Euch um diesen tollen Thread; es ist schon spannend, ihn einfach nur zu lesen.
Glückwunsch, zwetsche!
Gruß - Ziesemann
 
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