Übergang vom Sozialkanon zum individualistischen Bewusstseinsinterieur
Wie hier schon mehrfach angeklungen, erfüllen kulturellen Erzeugnisse eine Doppelfunktion: Einmal eine Sozialzugehörigkeit zu gewährleisten, zum andere eine individuelle Bedürfnisbefriedigung.
Ich denke, dass die zweite Funktion die erste in den letzten 30 Jahren zunehmend abgelöst hat. Früher gab es einen Bildungskanon, derer die Klassiker in Musik, Literatur, Kunst usw. umfasste. Diese wurden durch Schule bzw. durch das gebildete Elternhaus vermittelt. Es gab sehr wenig Freiheit, etwas anderes aufzunehmen, erst im Erwachsenenalter konnte man aktuelle Zeitströmungen aufnehmen. Aber selbst dann war (etwa in den 50ern/60ern) noch ziemlich klar, was Avantgarde war und was nicht. D.h. lange Jahre übte auch die Avantgarde eine Art Konfirmitätszwang aus, es gab zwar Richtungsstreits, aber immer noch war sehr begrenzt, was wichtig war und was man lesen/hören/sehen konnte.
Heutzutage ist wieder von Bildungskanons die Rede. Reich-Ranicki veröffentlicht Bücherlisten, Schwanitz schreibt, was man wissen sollte. Diese Versuche belegen, dass es wieder ein Bedürfnis nach allgemeiner Orientierung gibt - sie verhindern aber nicht, dass es inzwischen möglich ist, sich mit Kunstprodukten innerlich individuell "einzurichten". Man kann heute sehr Gegensätzliches aufnehmen, Death Metal Bach gegenüberstellen, Wim Wenders und Splatter gucken, Comics lesen und in die Nationalgalerie gehen.
Das ändert aber nichts daran, dass diese individuellen Vorlieben wiederum stark von der Sozialisation abhängen und von Zufällen. Die persönliche Geschichte von dem was man liest usw. gleicht inzwischen bei vielen einem verschlungenen Weg durch die persönliche Geschichte und durch die Geschichte des Zeitgeistes. Die "Klassiker" waren oft stabiler, man las sie zur Jugendzeit und im Alter wieder. Nun stößt man auf eine Menge Leichen im persönlichen Bewusstseinskeller. "Das habe ich mal gelesen...das mal gehört...peinlich..."

Pardon! Du fragtest ja nach Psychologie. Meine individuelle Sozialisation hat mich aber mehr in Kontakt mit soziologischen Theorien gebracht, daher meine Abschweifungen...
Nun ja, es klang auch schon an, dass Kulturprodukte die Funktion der Ergänzung haben können, sowie der Bestätigung. Daher wird oft Gegensätzliches rezipiert und man kann in der Tat nur individuell begründen, warum der und der morgens Pantera hört, beim Zahnarzt gerne die Gala liest und den Abend mit Ligeti und Haikus beendet...
Die von Dyonysos angesprochenen Theorien, dass Splatterfilme zu Serienmördern führen, sind in der Tat wohl zu einfach - sie mögen sich in der Statistik aber schon auswirken, d.h. die Wahrscheinlichkeit, dass bestimmte Rezeptionen zu bestimmten Handlungen führen, könnte leicht erhöht sein. Schwer sich in jemanden hineinzuversetzen, der Gewaltdarstellungen für bare Münze nimmt, dann in einer Schule geht und losballert. Aber auch das gibt es. Aber auch das muss man dann individuell begründen und kann man (leider) nicht in einer allgemeinen Theorie auflösen...