... dass es nämlich so etwas wie Urteile gar nicht gibt und wir uns eigentlich nur von einem Vorurteil zum nächsten gedanklich hinfortbewegen.
Das hängt wie immer davon ab, was wir unter einem Urteil verstehen. Nietzsche legt hier einen sehr strengen Maßstab an, und zwar bevorzugt während seiner sogenannten empiristischen Phase, als er sich selbst als Psychologen verstand. In seiner späteren Schaffensperiode, wo er seine eigenen metaphysischen Entwürfe, den Willen zur Macht, den Übermenschen, die Ewige Wiederkehr des Gleichen, die Umwertung aller Werte etc. entwickelt, erweckt er nicht den Eindruck, dass er damit nur eine Reihe weiterer Vorurteile in die Welt setzen möchte. Also einerseits: Ja. Aus einer bestimmten Perspektive betrachtet kann man jedes Urteil als Vorurteil abqualifizieren. Andererseits, und auch das sagt Nietzsche, sind diese Vorurteile lebensnotwendig, also nicht willkürlich. Nichts, das man weglassen könnte. Legt man keinen übertrieben strengen Maßstab an, kann man auch von begründeten Urteilen sprechen, wobei jede Kette von Begründungen irgendwann zusammenbricht.
Schopenhauer bringt die Sache gekonnt auf den Punkt.