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Zwei gegensätzliche Tendenzen

Miriam

New Member
Registriert
26. Juni 2005
Beiträge
9.722
In diesem Thread möchte ich versuchen zwei gegensätzliche Tendenzen aufzuzeigen und sie zu diskutieren, die sich in Deutschland bemerkbar machen, und die vielleicht auch in anderen Ländern zu beobachten sind. Zwar sind es Gegensätze - aber vielleicht, wie so oft, dazu bestimmt sich gegenseitig zu ergänzen.

Einerseits ist eine Tendenz zum Expertentum zu beobachten, aber parallel dazu, wenn auch in kleinerem Masse, eine Wiederbelebung des Gedankens einer universellen Bildung, eines universellen Denkens, sowohl in den Naturwissenschaften, als auch in den Geisteswissenschaften, bis hin zu einer Vernetzung dieser großen Gebiete. Es ist dies eine Antwort eben auf die getrennten Wege und auf die große Spezialisierung im Bereich der Wissenschaften.
Dieser Versuch, vielleicht auch die Sehnsucht nach einem universellen Denken, ist in Deutschland mit dem Namen von Alexander von Humboldt verbunden.
Auf diese Tendenz komme ich später zurück.

Was ist aber diese andere Tendenz, die des Expertentums? Für jede Frage werden Experten herbeigezogen, Kommissionen gebildet, dies zeigt sich einerseits in den politischen Entscheidungen die zu treffen sind, aber auch in den Wissenschaften, so wie sie betrieben werden.
Besteht dabei nicht die Gefahr, dass der Blick für das Ganze verlohren geht? Dass man also den Durchblick verliert, da man jeweils nur auf einem sehr begrenzten Gebiet fixiert ist? Es bekommen einzelne Gebiete ein solches Übergewicht, das fast vergessen lässt, dass es sich jeweils nur um Teile eines Ganzen handelt.

Sicherlich ist die Welt komplizierter geworden und die Antworten auf viele Fragen schwieriger zu geben.
In machen Bereichen ist es unabdingbar Experten zu befragen. Hans-Ulrich Jörges, stellvertretender Chefredakteur des "Stern" zeigt, dass dies ein notwendiger Weg ist, und nennt als Beispiel die Gentechnologie. Denn da kennen sich z.B. Politiker nicht aus. Er betont aber, dass es Rolle des Politikers ist, die Expertise einzuholen, sie zu diskutieren und dann ans Volk weiter zu geben. Kann die Politik das immer - bleibt die Frage?

Der Politikwissenschaftler Claus Leggewie, sagt dazu:

"Das Perfide an diesen Kommissionen ist [...] nicht nur, dass sie hinter verschlossenen Türen diskutieren und dann mit Ergebnissen kommen, die sie der Regierung oder der Bevölkerung nach der Methode 'Friss-oder-Stirb' vorlegen, beziehungsweise völlig eratisch sagen: 'Wir hatten zwei Meinungen' und 'ihr müsst euch jetzt selbst irgendwie helfen, liebe Regierung'. Sondern auch darin, dass sie über die Medien, über den Auftritt in den Medien eine Suggestion von Verbindlichkeit entwickeln, die der Zielsetzung der Kommission nicht im mindesten entspricht. Es sind eben nur Beratungsorgane gewesen."

Und nun sehr kurz nur, einige Worte zu dieser andere Tendenz, die einer umfassenden Bildung, eines universellen Denkens, sowohl in den Geistes- als auch in den Naturwissenschaften.
Symbolfigur und Ideal dafür ist Alexander von Humboldt. Sein Gedankengut wurde erst vor einigen Jahren wiederentdeckt und trägt den Namen "dritte Kultur".
Die Wiederentdeckung Humbolds ist auch dem Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger zu verdanken, der 2004 im Rahmen der "Anderen Bibliothek" verschiedene Werke Alexander von Humbolds herausgab.
Beführworter der Gedankens von Humboldt, ist unter anderen auch Ernst Peter Fischer, Professor für Wissenschaftsgeschichte an der Universität Konstanz.
Alexander von Humboldt vertritt nicht nur den Gedanken eines Forschens welches Kultur und Wissenschaft übergreifend ist, sondern entwickelte auch die Idee der Notwendigkeit diese Ergebnisse den breiten Massen zu vermitteln. Anders ausgedrückt: Humboldt sah die Forschung und die Lehre als eine unzertrennliche Einheit.

Ist uns dieses Denken völlig abhanden gekommen?
Ist nicht in der Wiederentdeckung Alexander von Humboldts auch der Ausdruck einer Sehnsucht nach dessen Denken zu erkennen?
 
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Salut

Nun was das universelle Denken, sowohl in den Geistes- als auch in den Naturwissenschaften betrifft, so erinnert es stark an die Zeit des Humanismus. Auch wenn wir uns nicht sicher sein können, das die beweggründe der Humanisten dem denken und vorallem dem lehren seinen Ursprung finden!!!

Ich bin allerdings der selben Meinung wie Humboldt. Forschung und Lehre sind unzertrennlich!!! Was hätte man von der Forschung wenn sie nicht gelehrt wird????

Was die Rolle des Politikers-Politik betrifft, so bin ich der Ansicht das, dass diskutieren und weitergeben einer Expertise im Bereich des Schafbaren ist!!!
Es stimmt schon, wenn man über ein Thema nichts weiß, ist es schwierig darüber zu diskutieren, allerdings sollte man sich im der Politik darüber genauestens informieren.
Man sollte aber auch bedenken, dass es die Aufgabe der Politik ist, dass Volk zu schützen. Dies kann zu folge haben, dass Informationen auch bezüglich der Forschung zurückgehalten werden müssen!!!!

À tout a l'heure
Nereva
 
Alexander von Humboldt war GEOGRAPH
(mit der Geographie stehen alle Sozialwissenschaften auf Kriegsfuß)

die zentrale Wissenschaft zum ökologischen Verständnis der terrestrischen Erde ist die BODENKUNDE
(ich habe noch nie einen Bericht über Bodenkunde ferngesehen)
 
Nereva, merci beaucoup pour ta réponse...

Das Thema beschäftigt mich seit einiger Zeit schon - und ich habe lange gezögert es hier anzusprechen, weil dabei eben zwei unterschiedliche Problemstellungen zusammengeführt werden, bei denen ich aber sehr viele Berührungspunkte sehe.

Vorweg dies, Nereva: ich stimme deiner Auffassung der Einheit von Forschung und Lehre völlig zu. Dies wäre eine Basis um Humboldts Vermächnis zu verstehen, aber Tatsache ist, dass die heutigen Wissenschaften, so wie sie betrieben werden, sich stark davon entfernt haben. Vielleicht fängt es dabei an, dass heute ein großes Sicherheitsdenken, also eine geringe Risikobereitschaft besteht. Nun, davon liess sich Humboldt nicht leiten bzw. einschränken. Das Elternhaus nannte er "Schloss Langweil" und entsprach dem Willen der Eltern nicht, preußischer Beamter zu werden. Nachdem er als Bergwerkingineur tätig war, macht er sich auf seine legendären Reisen - dafür setzt er sein gesamtes Vermögen ein. Er hält alles fest was ihm begegnet, und kann unter anderem endlich beweisen, dass es eine Flußverbindung gibt zwischen Orinoco und Amazonas.
Seine politischen Überzeugungen hat er dabei auch nie verraten. Er kommt in Cuba an - und ihn empört der Menschenhandel und die Sklaverei die er dort entdeckt - er, der Anhänger der Ideale der Französischen Revolution ist.

Wenn ich über Humboldt schreibe, besteht immer die Gefahr, den eigentlichen Faden zu verlieren. Doch eigentlich möchte ich den Akzent auf eines setzen: Wissenschaftler durch und durch, ist Humboldt zur selben zeit ein Humanist und ein Idealist.

Zurück nun zum Expertentum unserer Zeit - also weit weg vom Denken eines Alexander von Humboldt.
Wenn die Spezialisierung auf unterschiedlichen Gebieten der Wissenschaften weiterhin eingebettet wäre in ein universelles Denken, wäre dagegen nichts zu sagen. Dies ist aber leider nicht der Fall. Heute gibt es Fachspezialisten (wobei die Fächer selber immer begrenzter sind) und nur sehr selten ganzheitlich denkende Wissenschaftler.
Es kommt noch ein zweiter Punkt dazu: die Experten, so wie wir sie heute erleben, sind fast immer parteiisch. Vergessen wir auch nicht, dass die Experten, die immer mehr ins politische Geschehen eingreifen, nicht vom Volke gewählt wurden. Doch ihre Aussagen, immer begrenzt auf sehr kleine Sachgebiete, werden dann als Entscheidungen dem Volk aufobtruiert. Neben dem Fehlen einer ganzheitlichen Sichtweise, ist das der zweite Punkt der in diesem System auffält und m.E. eine Schieflage oft verursacht.
Wie erklären sich denn anders die vielen unnötigen Expertenkommissionen, deren Entscheidungen von den politischen Gremien übernommen wurden - und sich letztendlich als Fehlentscheidungen erwiesen haben?
Hat da nicht immer wieder der Blick für das Ganze gefehlt?
 
Scilla schrieb:
Alexander von Humboldt war GEOGRAPH

Das stimmt so nicht, er ist zwar ein Mitbegründer der Geographie, doch seine Forschungen erstrecken sich auf viele Bereiche: Botanik, Zoologie, Physik, Chemie, Ethnologie - um nur einiges zu nennen.
 
Es geht mich ja nun eigentlich nichts an, aber wäre es nicht klüger, liebe Miriam, wenn Du anstatt über den Alex von Humbold zu schreiben, einfach für Leute unter uns, die noch nicht wissen, wer er ist oder sich das Linknachgooglen ersparen wollen, folgenden Link gibst.

http://de.wikipedia.org/wiki/Alexander_von_Humboldt

Ansonsten verweise ich auf meine Meinung in Fusselhirns Thread, der eine ganz ähnliche Thematik zur Frage stellt.


Es ist unverantwortlich, Expertentum als Gegensatz zur universellen Bildung hochzustilisieren.
Es ist beim heutigen Wissensstand für einen Einzelmenschen eben nicht mehr möglich, im Humboldtschen Sinne universell gebildet zu sein.
Aber die Aufgabe der Bildungspolitker soll es sein, in unserer Jugend den Drang nach der Erkenntis von Einheit in der Divergenz und Vielfalt zu fördern - kurz: den Menschen als das Ziel aller Wissenschaften zu sehen.

frdlg

Marianne
 
Eine kleine Randbemerkung:

Ich konnte nicht wissen, als ich diesen Thread um 12.45 eröffnete, dass Fussel sein Thread knapp eine Viertelstunde später eröffnen würde. Auch sehe ich kein Hindernis darin, sich mit beiden Themen zu befassen.
 
Gegen den Strom

Miriam schrieb:
...stimme...der Auffassung der Einheit von Forschung und Lehre völlig zu. Dies wäre eine Basis um Humboldts Vermächnis zu verstehen,
Ich möchte es mal wagen, an dieser heiligen, ehrwürdigen Kuh deutschen Wissenschaftsverständnisses zu kratzen. -Diese vorgebliche (!) Einheit ist Teil der Miesere der Hochschulpolitik.
Zumächst: Der geboren Forscher ist nicht zugleich der geniale Lehrer - meistens ist es nach meiner langjährigen Beobachtung eher umgekehrt - Ausnahmem bestätigen wie immer die Regel -wie etwa Einstein.
Der anderen Beispiele sind Legion: Der berühmte Atomphysiker Nils Bohr etwa - pars pro toto - war lehrmethodisch geradezu eine Katastrophe. Er nuschelte derartig vor sich hin, dass selbst die ersten zwei Reihen des Vorlesungsraumes Mühe hatten, ihn zu verstehen. Selbst Mikrophone hätten nichts genutzt, weil er nicht nur einzelne Silben, sondern ganze Wörter verschluckte.
Gerade das Forschergenie kennt nicht (mehr) die Schwierigkeit, eine kompelexe Materie zu begreifen. Ihm ist alles ganz einleuchtend selbstverständlich. Didaktische Reduktion, Veranschaulichung, Vorgehen vom Leichten zum Schweren sind ihm böhmische Dörfer.
Darf ich mal Persönliches erzählen? Ich hatte in meiner Studentenzeit zwei (fast) geniale Wissenschaftler. Der eine, ein Mathematiker schrieb eine Gleichung an die Tafel und dann "durch geschickte Umformung erhalten wir. X = 3". Ziesemann und mit ihm 90% der Hörer hatten nichts verstanden. Der andere, ein Jurist, begann seine erste Vorlesung "Einführung in das Bürgerliche Recht - für Anfänger" mit dem Satz: "Sie irren sich, wenn Sie glauben, dass ich Ihnen das Verstehen leicht mache; im Gegenteil: Damit sie Respekt vor der edlen Wissenschaft der Jurisprudenz bekommen, werde ich es Ihnen so schwer wie möglich machen".
Und die Prüfungsmethoden dieser in ihrer Person die "Einheit von Forschung und Lehre" verkörpernden Professoren waren und sind eine wahre Katastrophe. Bar jeder Prüfungsdidaktik, bar jeden psychologischen Einfühlungsvermögens fallen etwa eingeschüchterte Studentlein durch, nur weil sie - konkreter Fall - den Geburtsort Martin Luthers (Eisleben) nach Worms verlegt hatten, wo der Reichstag stattfand. - Genug der persönlichen Banalitäten.

Entschuldige bitte, Miriam, dass ich das Niveau Deiner Einführung mit meinen sehr subjektiven Eindrücken von der fraglichen Einheit gedrückt habe. Aber ich halte sie für eine Chimäre. Denn Renommee erzielt der Wissenschaftler mit seinen Veröffentlichungen - publish or perish - ; er könnte ein Pestalozzi der Hochschuldidaktik sein, beliebt bei den Studenten, vor überfüllten Hörsälen erfolgreich lehren, er ist in der Wissenschaftswelt ein Nobody. Worauf also werden die Prof's ihre Hauptenergie konzentrieren? Die Frage stellen heißt sie beantworten.

Liebe Grüße - Ziesemann
 
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Ziesemann schrieb:
Ich möchte es mal wagen, an dieser heiligen, ehrwürdigen Kuh deutschen Wissenschaftsverständnisses zu kratzen. -Diese vorgebliche (!) Einheit ist Teil der Misere der Hochschulpolitik.
Zumächst: Der geboren Forscher ist nicht zugleich der geniale Lehrer - meistens ist es nach meiner langjährigen Beobachtung eher umgekehrt - Ausnahmem bestätigen wie immer die Regel -wie etwa Einstein.

Ziesemann, du hast mit deinen Beobachtungen sicherlich recht - auch sind das deine konkreten Erfahrungen und da wäre eine Diskussion natürlich müssig. Man trifft zwar immerwieder auf Wissenschaftler, die ihr Fach auch glänzend vermitteln können, wahrscheinlich sind sie die großen Ausnahmen.

Ich denke auch, dass in meinen Beiträgen zu sehr die Einheit von Forschung und Lehre als Kernpunkt dessen was ich universelles Denken nenne, gerückt ist, dadurch ist das Verständnis der Welt als ein Ganzes, etwas im Hintergrund geraten. Natürlich wollte ich den Akzent darauf gesetzt haben, denn erst dann ist meine Kritik und mein Zweifel an der so genannten Expertokratie, verständlich.

Für heute nur soviel, also bitte Humboldt doch eher als denjenigen zu begreifen, der gegen Ende seines Lebens schreibt: "Wissen und Erkennen sind die Freude und die Berechtigung der Menschheit."
Wissen und Erkennen bedeuten aber für ihm die Welt als ganzes zu erfassen.
 
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