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Wo ruhen die Toten?

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Ich suche am Friedhof keine Menschen.
Diogenes suchte Menschen in der Stadt.
Kontextuell etwas sehr exkurshaft.

Eine Geschichte erzählt davon, dass Diogenes am helllichten Tag mit einer Laterne über den Athener Markt lief und den Menschen wild ins Gesicht leuchtete. Gefragt, was er denn treibe, antwortete der Philosoph, dass er einen guten, wahren Menschen suche ("anthropon zeto"). Die alten Griechen verstanden Philosophie als eine Lebensweise, einen Lebensstil und als Methode, mit der man bereits im Diesseits Unabhängigkeit und innere Freiheit gewinnen könne.
 
Ich hatte als Kind einen Nachbarn. Der hieß Helmut Schmidt. Wir spielten auf der Wiese oft Fußball. Mein Vater teilte nach einem schweren Unfall das Krankenzimmer im Waldkrankenhaus mit einem Fußballspieler, der bis zu seiner Rente bei Werder Bremen spielte, Karl Heinz Kamp. Sie spielten über die Betten hinweg Kopfball miteinander. Der Unfall meines Vaters war am. 4. September.
Am 4. September war auch die historische Grenzöffnung für Flüchtlinge der Balkanroute durch Angela Merkel. An einem 4. September starb auch mein Kind.
 
Bleibt zu hoffen, dass dieser Beitrag nicht mit zur Verkennung dessen beiträgt, dass sich für beinahe jedes gelebte Leben im Rückblick ein Maß an Interessantheit anhäuft; zumindest aus dem Blickwinkel der daran Beteiligten heraus. In der Psychoanalytik besteht dazu eine Auffassung (weniger), dass dieses spätadulte Resümieren kleine Happen im Zuge des Erreichens einer ersatzweise befriedigenden Lebenssattheit sind.
 
Würde ich das nur in der Vergangenheit posthum wahrnehmen, dann würde ich mir mal ernsthaft Gedanken machen. Ich sehe die Gegenwart aber auch im Zeitraffer, quasi retardiert. Wenn du eine Stunde am gleichen Ort sitzt und die lokale Wirklichkeit auf dich zulässt und du wiederholst das am selben Ort mehrmals, dann siehst du den Ort anders als die Passanten. Bei mir ist das eine Berufskrankheit, weil es zu meinem Job gehört, die Wirklichkeit hinter der Fassade zu sehen.
 
Ich war Anfang der 90er an der Uni Erlangen in der Vorlesung zum medizinischen Physikum. Der Prof eröffnete die erste Lesung mit den Worten "je mehr Ärzte, desto mehr Kranke" und löste im Hörsaal lautes, hässliches Gelächter aus, d.h. die angehenden Mediziner wissen von Anfang an, dass sie an gesunden Patienten nichts verdienen würden. Die Aura des Blutes an den Händen scheint schon hier sichtbar.
 
Die Trauergemeinde ist vor 15 Minuten nach Hause gegangen. Der Totengräber ist jetzt da. Er stellt sich ein wenig dusselig an. Zeitweise dachte ich, er fällt ins Urnengrab mit rein. Jetzt kommt sein Kollege mit Irokesenglatze. Einer meiner ersten Freunde war ein portugiesischer Totengräber, alle sagten Chico zu ihm. In das Dorf an der spanischen Grenze war ich in den Sommerferien 1972, nachmittags schauten wir Olympiade im Café, die alten Männer spielten Boccia. Ulrike Meyfarths Sieg jährt sich gerade. Am Montag das Attentat.
 
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