Marianne schrieb:
wer gibt uns denn das Recht, z.B. jemandem zu vergeben, der in bester Absicht mit uns etwas sagt oder tut, was uns doch kränkt. Züchten wir uns so nicht zu einem kleinen Märtyrer unserer selbst?
Nun, ich denke, das Recht zu vergeben, wenn mich jemand wissentlich oder unwissentlich kränkt,
habe ich einfach, das muss mir niemand geben. Und ob mich etwas kränkt oder nicht, kann nur ich allein entscheiden.
Damit kommen wir zu einem sehr interessanten Phänomen, das dir, gerade als ehemalige Lehrerin, nicht fremd sein dürfte: die Schwierigkeit, Gefühle auszudrücken bzw. die Gefühle anderer zu akzeptieren. Ich werde sehr wütend, wenn mir jemand erklären will,
wie ich mich fühlen "darf". Z.B.: "Na, deswegen brauchen Sie ja nicht empört zu sein!", oder: "Da darfst (!) du dich jetzt nicht drüber kränken..."
Worauf ich hinaus will, ist, dass jeder nur selbst wissen kann, welche Handlung oder Äußerung ihn kränkt und welche nicht, egal wie die Absicht war. Entscheidend ist, wie etwas "ankommt". Wir kennen wahrscheinlich alle Situationen, in denen absichtliche Beleidigungen an uns abprallen, weil es uns vielleicht gerade sehr gut geht, oder wir den "Ball" einfach nicht annehmen. Andrerseits trifft uns so manches, weil wir gerade "nicht gut drauf" sind, oder eben den Ball angenommen haben.
Aber ich schweife ab, entschuldige diese doch sehr detaillierte Antwort.
Ich vergebe nicht - vergesse aber den ganzen Anlass, denn schließlich bin ich nicht das Maß aller Dinge für andere.
Ich frage mich, ob Vergessen ohne Vergeben möglich ist. Oder meinst du damit, dass man einfach nicht ständig daran denkt?
Mir kommt vor, dass "Vergeben" für dich einen negativen Beigeschmack hat, kann das sein? Woran liegt das? Impliziert es für dich ein "Verurteilen" des anderen?
Also: Interessant ist es, dass wir das Zusammenspiel von Gruppenfehlverhalten und individuellem Fehlverhalten zwar überall beobachten können, sehr wohl aber in ihren Ursachen und Wirkungen relativieren müssen.
Und wenn wir wissen, dass Mobbing in der Arbeitswelt und Stalking im Privatleben in immer größerem Maße auch strafrechtlich relevant sind, wird Deine Frage zwar immer interessanter, aber auch schwieriger in ihrer Angemessenheit zu beantworten zu sein.
Es ist natürlich immer das Individuum, das ein bestimmtes (Fehl)Verhalten zeigt, wenn auch oft von der Gruppe beeinflusst, und es ist immer der Einzelne, der für sein Verhalten die Verantwortung trägt.
Was Wiedergutmachung betrifft, denke ich, hast du sicher Recht, dass man nur materielle Schäden abgelten kann, nicht aber Leid, das jemandem widerfahren ist. Aber auch da kann es "versöhnliche Gesten" geben, eine Entschuldigung, oder was immer, je nachdem was vorgefallen ist. Ob der Gekränkte das annehmen kann, ist wieder eine andere Frage.
Gruß
Jane