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Unsoziale Sozialversicherung

Ziesemann

New Member
Registriert
3. November 2005
Beiträge
929
Unsoziale Sozialversicherung in Deutschland - Ählichkeiten mit anderen Staaten wären nicht nur zufällig.
Nichts kann einem Politiker oder einer Partei, das musste die CDU im letzten Wahlkampf noch einmal bitter erfahren, mehr schaden, als kritische Fragen an die fünf Säulenheiligen des deutschen Sozialversicherungssystems zu stellen. Doch wie sozial ist eigentlich die Renten-, Unfall-, Krankheits-, Arbeitslosen- und Pflegeversicherung? Aber weil es hier schlimmstenfalls rote Punkte hageln kann, sei’s gewagt.
Nun müsste man eigentlich jeden Zweig ausfächernd einzeln diskutieren, aber das würde schon rein quantitativ zu weit führen, deshalb fasse ich zusammen.
Beginnen wir mit dem Namen. Ist die Sozialversicherung eigentlich eine Versicherung? Salopp formuliert ist eine Versicherung eine Art Wette. Man zahlt einen Betrag gegen die Zusage, bei Eintritt eines bestimmten Schadenfalls entschädigt zu werden. Bei der Wetterversicherung wird das ganz deutlich. Verregnet der Urlaub, bekommt man eine finanzielle Entschädigung. Die (freiwilligen!) Versicherungen arbeiten nach dem Äquivalenzprinzip: Die Versicherungsleistung steht im direkten Verhältnis zu den gezahlten Prämien und diese richten sich nach dem Risiko (= Eintrittswahrscheinlichkeit x Schadenshöhe).
Das ist bei den Sozialversicherungen anders. Sie sind Zwangsversicherungen. Ob es dem flott lebenden Single passt oder nicht, er muss für Alter, Krankheit usw. vorsorgen, auch wenn er die Beiträge lieber für die Kaufraten eines schmucken Cabriolets verwendet hätte. Der gütige „Vater Staat“ rechnet mit der menschlichen Schwäche, lieber jetzt zu verbrauchen statt Zukunftsvorsorge zu treiben. Doch halt, einigen rd. 10% traut er die selbständige, verantwortungsbewußte Haltung zu: Freiberufler und Beamte müssen nicht Mitglied werden.
Damit sind wir schon beim zweiten Punkt der Fragwürdigkeit unserer ach! so sozialen Sicherungssysteme. Aus ihnen werden auch sog. versicherungsfremde Leistungen bezahlt, die also nicht unmittelbar den Versicherungsnehmern zugute kommen, z.B. die mitversicherten Ehepartner (soweit sie nicht selbst versicherungspflichtig sind), Kinder, Kosten für Umschulungen, erhebliche Transferleistungen von West- nach Ostdeutschland im Zusammenhang mit der (natürlich erwünschten!) Wiedervereinigung – nur mit Versicherung hat das wenig oder nichts zu tun, das wäre die Opferlast aller Steuerbürger gewesen!
Doch sind denn wenigstens die Beiträge nach der Leistungsfähigkeit gestaffelt? Zweifach Fehlanzeige! Im Gegensatz zur Einkommensteuer mit ihrem progressiven Tarif, werden die Sozialversicherungsprämien auch bei unterschiedlichen Einkommen im selben Prozentsatz erhoben. - Doch es kommt noch dicker: Für alle Zweige gibt es eine Beitragsbemessungsgrenze, die im Jahre 2005 bei der Krankenversicherung z.B. bei einem Bruttoeinkommen von 3.525 € lag. Das heißt: Wer mehr verdiente, brauchte von diesem Mehrverdienst nichts abzuführen; Fachleute nennen das „indirekt regressiven Tarif“. Er wirkt so, als ob bei steigendem Einkommen die gesamte prozentuale Steuerbelastung sinken würde – was von jedermann als schreiendes Unrecht empfunden würde.
Zur Krankenversicherung. Politiker aller Couleur schwören, dass sie keine „Zwei-Klassen-Medizin“ wollten. Pure Heuchelei! Wir haben längst eine Mehrklassenmedizin. Denn selbstverständlich kann sich der Reiche – lassen wir mal offen, wer darunter fällt – privat eine bessere ärztliche Versorgung leisten als der AOK-Patient. Er kann jedes Jahr teure Kuren nehmen, sich einer Frischzellentherapie in Meran unterziehen, die teuersten (besten?) Medikamente kaufen – ob ihm das alles gut tut, ist wieder eine andere Frage. Ein Arzt informiert falsch, wenn er einem Kassenpatienten sagt: „Das für Sie besonders gute Medikament darf ich Ihnen leider nicht verschreiben.“ Natürlich darf er, er muss nur hinzufügen: „Sie müssen es aber aus eigener Tasche bezahlen“. – Und daraus folgt: Mit wachsendem Einkommen kann sich der Kranke eine bessere Therapie leisten. Und natürlich stimmt es, dass der Arme – im statistischen Durchschnitt – früher sterben muss als der Wohlhabende. Er lebt vielleicht in einer ungesünderen Umgebung und ißt aus der Dose, statt Frischkost zu kaufen. Der Besserverdienende lässt dagegen die Masseuse (Pardon: Masseurin) zu sich nach Hause zur Behandlung des Bandscheibenvorfalls kommen, statt sich zur Massagepraxis schleppen zu müssen.
Bei der Krankenversicherung ist der Zusammenhang zwischen Leistung und Prämie, das schon genannte Äquivalenzprinzip, besonders erkennbar durchbrochen. Egal, ob Kettenraucher oder aktiver Sportler, ob jung mit Wehrdiensttauglichkeitsstufe I oder mit 50 Jahren bereits von vielen Leiden geplagt, ob gesundheitsbewusst vorsichtig lebend oder fanatisch Risikosportarten pflegend, der Proportionaltarif der GKV hobelt im Namen der Solidarität alle gleich.
„Nobbys“ Liebling: Die Pflegeversicherung von 1995. Bis dahin musste der Pflegebedürftige die Kosten aus eigenem Vermögen bestreiten, war dies aufgebraucht, kam die Gesellschaft dafür auf. Heute tritt von Anfang an die gesetzliche Pflegeversicherung ein, und der Pflegekranke trägt nur die eventuell darüber hinausgehenden, von der Versicherung nicht gedeckten Kosten. Damit ist diese Versicherung im Grunde einer Versicherung zu Gunsten der Erben, deren zu erwartender Nachlass nicht oder nur wenig geschmälert wird. Und wer erbt? Natürlich die Kinder, Enkel Neffen usw. der Vermögenden und damit dies möglich wird, müssen auch gering Verdiener in die Pflegeversicherung einzahlen.
Schließlich abschließend noch der Hinweis auf die Signalwirkung und falsche Anreizfunktion: Wer zwangsweise Mitglied in einem Verein wird, und die
Sozialversicherung kann man durchaus als solchen sehen, wird alle Vorteile des Vereins inten- und extensiv zu nutzen trachten, einschließlich Missbrauch. Und er wird keinen sonderlichen Anreiz verspüren, für voraussehbare und nicht kalkulierbare Lebensphasen wie Alter, Krankheit, Arbeitslosigkeit usw. aus eigener Kraft vorzusorgen, denn er weiß ja, dafür ist im Namen des Sozialen die Gesellschaft zuständig. Und dafür schröpfen ihn die sog. sozialen Sicherungssysteme derartig, dass ihm zur Selbstvorsorge kaum etwas bleibt. Der Teufelskreis hat sich geschlossen.
 
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Ziesemann schrieb:
Aber weil es hier schlimmstenfalls rote Punkte hageln kann, sei’s gewagt.






Warum stellen Sie, verehrter Herr Professor, denn an den Beginn Ihrer interessanten Ausführungen diese Frage?

Wir sind hier ein Denkforum und nicht eine Kampfarena.

Es ist etwas anders, in Wortsspielen und Spaß dieses "Punktethema" immer wieder zu persiflieren, aber hier - bei einem reinen Sachthema gibt sie dem Thema einen unangemessenen Anstrich. Ist halt meine Meinung.

Hier in Österreich sind die Sozialversicherungsverhältnisse ein wenig anders. Ich werde fleißig mitlesen und gegebenenfalls fragend eingreifen.


Jedenfalls scheint es in beiden Ländern so zu sein, dass es gegen Krankheitsfälle bei Lohnabhängigen eine staatlich geregelte Pflichtversicherung gibt.Auch selbsttändig Erwerbstätige versichern sich in der Regel für allfällige Krankenversorgung - Vorsorgeversicherung.


Das schein doch in beiden Ländern gleich zu sein, oder?


Marianne
 
Es ist schwierig für mich, auf Deinen Beitrag einzugehen.
Er ist thematisch und formal ‘rund’ und abgeschlossen
und bietet kaum eine Stelle, in die man mit einer Diskussion einhaken
könnte. Aber sicher sind in diesem Forum Teilnehmer, die über fundierteres
Wissen verfügen und es doch noch zu einem Gedankenaustausch kommt.

Es wäre schön, wenn Du noch auf die paritätische Finanzierung eingehen würdest, die doch auch für die gesetzliche KV gilt.
Betriebswirtschaftlich ist sie eine Fiktion, da der gesamte Zahlbetrag und nicht nur der Arbeitnehmerbeitrag von diesem erwirtschaftet werden muss. So sind die Arbeitgeberbeiträge dem Bruttoeinkommen des Arbeitnehmers zuzurechnen. Durch die Bezeichnung als Lohnnebenkosten verstellen sie dem Arbeitnehmer den Blick auf die wirkliche Höhe der Abgaben, die er zu leisten hat. Zudem kommen die Praxisgebühren, die Rezeptgebühren, Zahnersatzkosten und die Streichung des Buß- und Bettages (außer in Sachsen glaube ich).

Der Arbeitnehmer hat also seinen "Wetteinsatz" bezahlt....

tanne
 
tanne schrieb:
Es wäre schön, wenn Du noch auf die paritätische Finanzierung eingehen würdest, die doch auch für die gesetzliche KV gilt.
Betriebswirtschaftlich ist sie eine Fiktion, da der gesamte Zahlbetrag und nicht nur der Arbeitnehmerbeitrag von diesem erwirtschaftet werden muss. So sind die Arbeitgeberbeiträge dem Bruttoeinkommen des Arbeitnehmers zuzurechnen. Durch die Bezeichnung als Lohnnebenkosten verstellen sie dem Arbeitnehmer den Blick auf die wirkliche Höhe der Abgaben, die er zu leisten hat. Zudem kommen die Praxisgebühren, die Rezeptgebühren, Zahnersatzkosten und die Streichung des Buß- und Bettages (außer in Sachsen glaube ich).
Der Arbeitnehmer hat also seinen "Wetteinsatz" bezahlt....
tanne
Ja, bis auf die Unfallversicherung, die von den Arbeitgebern allein getragen werden muss, werden die Lasten aller gesetzlichen Sozialversicherungssysteme hälftig von Arbeitgebern und Arbeitnehmern getragen. - Aber das ist tatsächlich nur scheinbar so. Im Prinzip arbeiten diese Systeme noch so, wie sie von Bismarck 1883 mit der Krankenversicherung begonnen wurden. Aus optisch-politischen Gründen - schließlich wollte man damit den "gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokraten" entgegenwirken, was bekanntlich misslang - wurde der Eindruck erweckt, als teilten sich die Sozialpartner die Lasten. Du hast natürlich völlig recht. Das ist pure Täuschung. Diese - neben anderen als Lohnnebenkosten bezeichneten - Arbeitgeberanteile gehen voll in die Kostenrechnung und damit auch in den Preis ein. Und die Kostenlast, die der Arbeitgeber zu tragen hat, aber eben nicht aus seinem Gewinn aufbringt, ist rd. 85% höher als sein Bruttolohn, in manchen Branchen geht das bis 100%. Deshalb gilt ja der fast schon verzweifelte Kampf den hohen Lohnnebenkosten, welche die Arbeit verteuern, ohne dass der Arbeitnehmer in seiner "Lohntüte" davon etwas merkt. Vereinfacht formuliert: Er verdient nicht zu viel, er kostet zu viel.
Der Arbeitnehmer hat seinen Wetteinsatz bezahlt - schreibst Du. Gut, dass Du das Wort in Anführungsstriche gesetzt hat. Er zahlt aber eben nicht nur den Wetteinsatz auf sein persönliches Krankheitsrisiko, sondern mit seinem Beitrag deckt er auch andere, höhere Risiken anderer ab; er zahlt also zuviel. Das war es neben anderem, was ich mit dem Unsozialen der bestehenden gesetzlichen Sicherungssysteme geißeln wollte.
Danke für Deinen Beitrag - Ziesemann
 
Mein eine Tochter arbeite als Juristin im Hauptverband der Österreichischen Sozialversicherungsträger.
Sie würde sich entzückt über Dein Fachwissen zeigen.
Soll ich Dich mit ihr bekannt machen? Zwecks bilateraler Fachgespräche?
freundlich
Marianne
 
Ziesemann schrieb:
Wer ist angesprochen? - Tanne oder ich?

Gruß - Ziesemann

Um diese Frage zu beantworten, kann man sich z.B. der Hybriddarstellung eines Themas bedienen (auf Ansicht am Beginn einer angezeigten Seite eines Themas klicken und die gewünschte Ansicht auswählen). Da sieht man dann wer wem geantwortet hat (vorausgesetzt der Antwortende hat bei der Antwort auf die Antworten-Schaltfläche des Beitrags geklickt, auf den er antworten will)
 
Ziesemann schrieb:
...
Nun müsste man eigentlich jeden Zweig ausfächernd einzeln diskutieren, aber das würde schon rein quantitativ zu weit führen....


Man müsste nicht nur, sondern man muss sogar, denn Kranken- und Rentenversicherung z.B. haben ganz verschiedene Aufgaben und sollten auch unterschiedlich finanziert werden.
 
@Baerliner
Besten Dank für den technischen Rat, sehr hilfsbereit von Dir. Nur in diesem konkreten Fall hat mir das auch nicht weitergeholfen.

Von der Sache her ist es selbstverständlich notwendig, die GKV getrennt von der GRV zu beleuchten; aber 1. hätte das die Einführung der Themenstellung noch mehr verlängert und 2. ging und geht es mir nicht so sehr um die konkreten Einzelheiten - die werden selbst von Fachleuten nicht mehr ganz durchschaut - sondern um die grundsätzliche Erkenntnis, dass unsere´Sozialversicherungssysteme a) unsozial , b) keine Versicherung und c) (das habe ich nur am Rande angedeutet), längst unfinanzierbar geworden sind.

Danke für Deinen Hinweis - Ziesemann
 
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Gern geschehen - man tut, was man kann, auch wenn es ja offenbar nichts genützt hat. Einen Versuch war es wert.

Aber eines kapiere ich jetzt nicht: wieso ist die GKV (gesetzliche Krankenversicherung) keine Versicherung? Sie versichert das Risiko der Krankheit, egal, ob es sich dabei um eine Pflichtversicherung wie bei der GKV oder um eine private Vorsorgeversicherung handelt.
 
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