Robin, in diesem Spiel hast Du vordergründig die etwas besseren Karten - die Systemtheorie gibt Dir einige Instrumente an die Hand, mit denen sich triftig differenzieren läßt und deren Gebrauch ja auch nicht zu ganz falschen Ergebnissen führt. Meinem undressierten Geist dagegen hat nur einmal jemand ganz leise etwas von irgendeiner Negativität irgendeiner Dialektik geflüstert, ich bin nur ein ganz kleines bißchen gepeircet, vor den Habermassen habe ich früh kapituliert, doch daß man
différance nicht eindeutscht, davon halte ich mich immerhin aus Gründen des guten Geschmacks im falschen Leben überzeugt. Schließlich heißt es ja auch im Französischen
"le Wesen" .
es geht immer um Unterscheidungen, da sind wir uns einig; nur setzen wir UNterscheidungen an etwas unterscheidlichen Stellen oder verschieben sie.
Ich meine, die Unterscheidung ist immer nur ein erster Schritt. Letztlich muß die Differenz wieder zusammen gedacht, die strukturelle Abhängigkeit der Differenten voneinander erkannt und ineinandergeführt werden. Ein Problem habe ich damit, wenn beide Seiten einer binären Unterscheidung als Positives gesetzt werden. Das möchte ich dann doch wieder im dialektischen Spiegelkabinett betrachtet wissen.
Und selbstverständlich ist immer wieder zu prüfen, ob das, was wir begrifflich konstruieren, auch tatsächlich der Fall ist - imho ein Punkt für die immanent dialektische Betrachtungsweise etwa gegenüber der poststrukturalistischen. Denn die Dinge sind nicht so getrennt, wie der Begriff uns vorgaukelt. Aber mit alledem sage ich Dir ja nichts Neues.
Das ist keine topografische Unterscheidung, sondern eine von Systemgrenzen. INdividuen (Bewusstseinssysteme) operieren mit Kognition, Gesellschaft mit Kommunikation. Diese Operationsweisen sind (vielleicht im Gegensatz zu gewöhnlichen Vorstellung) inkommensurabel. Selbst eine extrem unindividualistische Gesellschaft lässt ein Individuum nicht mit dieser verschmelzen. Man muss diese Unterscheidung aufrecht erhalten, denn nur sie erklärt Missverständnisse zwischen und Anpassungsproblerme von Individuen.
Es ging mir nicht um eine topographische Unterscheidung, sondern um die Auflösung einer unglücklich gewählten Metapher. Ich will hier wahrlich nicht mit Hermann Hesse kommen: "Nichts ist Innen, nichts ist Außen, denn was Innen ist, ist Außen", denn so wäre das Quatsch. Kognition ist immer ein Zeichenprozeß und damit ein kommunikativer. Die semiotische Formung des Körpers (die Einschreibung von Inhalten in das Gedächtnis) geschieht
in der Gesellschaft, die ihrerseits nur aus Individuen besteht. Als Teilsysteme sind sie ihr nicht äußerlich. Individuation selbst ist ein sozialer kommunikativer Prozeß und wiederum Charakteristikum nur bestimmter Gesellschaften. Aber sie geschieht im gesellschaftlichen Innern.
Darüber hinaus werden im Prozeß der sozialen Formung Bewußtseinssysteme angeleitet, sich miteinander zu verketten, "anschlußfähig" zu werden. Das kann scheitern - aber ich würde das nicht mit der Opposition Kognition / Kommunikation erklären, sondern mit Schwierigkeiten der kommunikativen Vermittlung.
Auch in Japan unterscheidet ein Individuum zwischen sich selbst und der Gemeinschaft - dazu muss man nicht erst Murakami lesen. Ich bin der erste, der Unterschiede der Inidividuation durch verschiedene Sprachen und Gesellschaftsformen zugibt. (...)
Aber die angebliche "Verschmelzung" in Japan verhindert doch nicht, dass einige gleicher als andere sein wollen, und das Einzelne unter der Gesellschaft leiden. Schon das Leiden zwingt sie (als eindeutige Selbstreferenz) zwischen sich und der Gesellschaft zu differenzieren.
Okay: im Japanischen bezeichnet "hito" den / die Menschen (das Japanische bildet in der Regel keinen Plural), aber "hitori" bedeutet dann doch wieder "allein". Es besteht dennoch kein semantischer Zusammenhang, da beide Wörter mit unterschiedlichen Kanji wiedergegeben werden. Ich will versuchen, das Phänomen und die Problematik der Verschmolzenheit (nicht: Verschmelzung) anhand meines eigenen Empfindens bei meiner (leider bisher einzigen und zu kurzen) Reise nach Tokyo einmal anders zu beschreiben.
Bewegt man sich als Europäer mit sensiblen Antennen in Tokyo, hat man das Gefühl, bedeutungsloses Teilchen einer hoch sensitiven Masse zu sein. (In Paris etwa, wo sich durchaus nicht weniger Menschen auf der Straße bewegen, habe ich
dieses Gefühl nicht.) Das Gefühl und der Zwang der Gleichheit in dieser Masse ist so stark, daß man selbst als offensichtlich Verschiedener dem erliegt. Spricht man jedoch mit einem anderen Menschen, ist für einen Augenblick plötzlich der Eindruck da, man befinde sich wie in einer aus dieser Masse ausgestülpten Blase, und für einen Moment scheint es überhaupt nur zwei Menschen auf der Welt zu geben. Die freilich dennoch der in der Masse gültigen Regeln zu gehorchen haben. Offen gezeigte Selbstreferenz ist da absolut unangebracht, weil sie gegen die Identität der Masse verstoßen würde. Es ist vielleicht schwer nachzuvollziehen, aber es ist eher so, als wenn man die Masse aus sich ausgrenzen würde als sich aus der Masse. Individuelles Leid zu artikulieren wird so fast unmöglich, weil es der Masse zufolge nur durch Absetzung von dieser entsteht. - Ich hoffe, das war jetzt etwas weniger schwammig.
Ob es strukturell so extreme Unterschiede gibt, wie du sie andeutest, wäre diskussionswürdig.
Da ging es um das Gewalttabu. Sicher sind die Unterschiede so extrem, wenn bereits simple Selbstreferenz von einer gewaltigen Mehrheit als Akt der Gewalt verstanden wird. Man sagt "Ich" in Japan nur dann, wenn man sich eindeutig absetzen will - und setzt den anderen dadurch herab. Ein Ausdruck von Respektlosigkeit: für die Abbildung der realen Gesellschaftshierarchie sind die Höflichkeitsnormen zuständig. In der Alltagssprache wird für gewöhnlich sogar auf das Subjekt des Satzes verzichtet, es gibt eigentlich nur die Struktur "Dinge tun", der Rest versteht sich in der Massenmoral von selbst.
Bevor es noch jemanden gab, der moralische Leitsätze formulieren konnte, gab es die Möglichkeit, gemeinschaftsschädlich zu handeln. Und dieses Handeln ist m.E. die Urmutter alles unmoralischen Handelns. Erst später, als Moral instrumentalisiert worden war und sich gar eine Wissenschaft (Ethik) damit befasste, konnte auch Verhalten als unmoralisch gesehen werden, dass eigentlich gar nicht gemeinschaftsschädlich ist.
Vollkommen einverstanden -
In einer weiterentwickelten Gesellschaft gibt es erst die Möglichkeit, dass etwas dadurch unmoralisch wird, dass eine "Autorität" behauptet, es sei unmoralisch.
- dabei lege ich den Akzent auf "behauptet" und damit sind wir wiederum beim Problem, daß einzig eine sprachlich abstrakt ausgehandelte Hypothese auf die Gesellschaft wirken soll.
Typisches Kennzeichen von Herrschaftsmißbrauch.
Wenn es auch anstrengend ist, in der Praxis sind wir da ja schon; auch wenn behauptet wird, alles basiere auf gemeinsamen Werten.
Und wie ist das nun mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung? Die ist ja nun auch nicht wirklich diskursiv von allen verhandelt worden. Besteht da ebenfalls der Tatbestand des Herrschaftsmißbrauchs?