AW: Gedanken-Gang
Die polnische Literaturnobelpreisträgerin Wislawa Szymborska hat viele anregende Gedankengänge in ihren Gedichten, einem kann ich aber nicht folgen. In dem Gedicht "Das Nichts" heißt es: "...unbegreiflich, daß ich einmal nicht da sein konnte".
Ist das wirklich so unbegreifliche?
Ich kann mir eine Welt ohne meine Anwesenheit sehr wohl vorstellen, eine - in der es meine Wenigkeit noch nicht gab, und eine, in der es sie - zum Glück - nicht mehr geben wird.
Wie seht ihr das?
Hallo Oktoberwind,
meiner persönlichen Sichtweise geht es hier im Grunde um die uralte Menschheitsfrage, was ist nach dem Sterben, also im Tod. Gebündelt wurden diese letzten Fragen der Menschheit in den Gedankensträngen von "Jerusalem" (= Auferstehung) und "Benares" (= Wiedergeburt).
An dieser Stelle ist auch die Frage Arthur Schopenhauers zu nennen, die er in seiner Schrift "Über den Tod" stellt:
"Weshalb ängstigt sich der Mensch immer wieder um sein Sein nach dem Tod, hingegen an sein Sein vor der Geburt verliert er keinen Gedanken?"
Schopenhauer zitierend schreibt z.B. Condrau sehr treffend in seinem umfassenden Werk
"Der Mensch und sein Tod. certa moriendi condicio" (Zürich 1991) das folgende zu dieser Menschheits-Frage:
"»Wenn, was uns den Tod so schrecklich erscheinen läßt, der Gedanke des Nichtseins wäre, so müßten wir mit gleichem Schauder der Zeit gedenken, da wir noch nicht waren«. Denn es sei »unumstößlich gewiß«, daß das Nichtsein auch nach dem Tod nicht verschieden sein könne von dem vor der Geburt, folglich auch nicht beklagenswerter. »Eine ganze Unendlichkeit ist abgelaufen, als wir noch nicht waren; aber das betrübt uns keineswegs. Hingegen, daß nach dem momentanen Intermezzo eines ephemeren Daseins eine zweite Unendlichkeit folgen sollte, in der wir nicht mehr sein werden, finden wir hart, ja unerträglich.« Die Auffassung des Todes als absolute Vernichtung und die Annahme, daß wir gleichsam »mit Haut und Haar« unsterblich sind, seien beide gleich falsch. Wer die Geburt des Menschen für dessen absoluten Anfang halte, dem müsse der Tod das absolute Ende sein. Lebensbeginn und Lebensende könnten, was sie sind, nur in gleichem Sinn sein: »Folglich kann jeder sich nur insofern als unsterblich denken, als er sich auch als ungeboren denkt.« Ist die Geburt eine wirkliche Entstehung aus dem Nichts, dann ist der Tod die Vernichtung. Aus diesem Grunde glauben Brahmanismus und Buddhismus konsequent an ein Dasein vor der Geburt, »dessen Verschuldung abzubüßen dieses Leben da ist«." (S. 207)
Willst Du, Oktoberwind, wirklich dieses "Unbegreifliche", also den "Tod" im vollem Ernst, (d.h. ohne billigen neomythischen Überbau), wenigstens in deinen Gedanken aufrichtig an Dich heranlassen, dann meditiere beispielsweise einen schreienden Jesus am Kreuz:
"Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" (Mt 27,46) oder den folgenden Satz aus dem Zen-Buddhismus, der auf den gleichen Sinn verweist:
„Wenn dir Buddha begegnet, töte ihn!“
oder wenn Du merkst, dass das doch zuviel des "GUTEN" ist, dann versuche es einmal mit der folgenden "kleinen
Loslass-Übung":
1. Versuche Dich (gedanklich) von allen materiellen Gütern zu trennen,
die Du besitzt oder gerne haben möchtest und reflektiere dabei Deine Gefühle.
Versuche Dich schließlich auch dieser Habens- und Wollens-Gefühle zu entledigen.
2. Versuche Dich (gedanklich) von allen Menschen die Dir nahe stehen und die Dir die Liebsten sind zu verabschieden
und reflektiere dabei ganz ehrlich Deine Gefühle.
Versuche Dich schließlich auch dieser Beziehungs- und Liebes-Gefühle zu entledigen.
3. Versuche Dich nun gedanklich von Deinem Körper (z.B. mittels der Vorstellung einer unheilbaren Erkrankung) zu verabschieden
und reflektiere dabei ganz ehrlich Deine Gefühle.
Versuche Dich schließlich auch dieser wohl übergroßen Angst-Schmerz-Gefühle zu entledigen.
4. Versuche Dich nun gedanklich Selbst zu vernichten
(z.B. indem Du gedanklich in einer Art Meditation durchbuchstabierst was "NIEMALS WIEDER" heißt:
Nie wieder das Licht der Sonne zu erblicken,
nie wieder Kinder lachen zu hören,
nie wieder den würzigen Duft einer Frühlingsnacht zu riechen,
nie wieder die Berührung einer liebenden Hand zu verspüren,
nie wieder Kälte oder Wärme zu verspüren,
nie wieder eine Bewegung zu machen,
nie wieder Atem zu holen.
„Nie, nie wieder“ bedeutet für Dich letzten Endes, Du lässt diese übermenschlich große Angst, diesen "Schmerz" schlechthin in Dir übermenschlich groß werden.
Warum vermag das aber kaum ein Mensch alleine zu ertragen?
Weil es nämlich die Angst des Sterblichen schlechthin ist.
Es ist nämlich die Urangst schlechthin,
wäre sozusagen die Verkörperung des Menschheits-Schmerzes in Deiner Person.
Welcher "Sternenstaub" soll Dir diesen Schmerz des Menschen mit (er)tragen helfen?
Also mal ehrlich, Oktoberwind!
Vermagst Du wirklich diesen unbegreiflichen Schmerz der Menschheit ganz alleine in Dir tragen?
Vermagst Du, Oktoberwind, diese unmenschliche Angst vor dem Tod,
diese Urangst vor der absoluten Vernichtung wirklich
"begreifen"?
Oder ist Deine Aussage, Oktoberwind, nicht einfach nur unerträglich "billig"!
Am Anfang der Bibel steht ein Satz, der den absoluten Ernst und die unerbittliche Härte des Todes in seiner ganzen Tiefe erfaßt:
"Denn Staub bist du, zum Staub mußt du zurück." (Gen 3,19)
... und Du Oktoberwind behauptest nun hier im Forum, dass Du diesen Satz zu "begreifen" vermagst?
... ist es nicht eher "purer Leichtsinn" oder eine "leichtfertige Unüberlegtheit" oder vieleicht sogar "selbstentwürdigende Hybris" zu schreiben:
Ist das wirklich so unbegreifliche?
Ich kann mir eine Welt ohne meine Anwesenheit sehr wohl vorstellen, eine - in der es meine Wenigkeit noch nicht gab, und eine, in der es sie - zum Glück - nicht mehr geben wird.
Gruß Franz
... in der Hoffnung, dass Du Dich eines Besseren belehren lässt!