Chris M
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Bloß das nicht.
Es ist einer der größten Trugschlüsse der Menschheitsgeschichte, erst einmal alte Strukturen zerstören zu müssen, um eine neue, nunmehr "bessere" oder auch nur "gerechtere" Ordnung auf den Ruinen der alten aufbauen zu wollen. Es führt immer nur zu Mord und Totschlag, wenn nicht gleich Völkermord, es werden alte Rechnungen beglichen und es dauert Jahre und Jahrzehnte, bis wieder halbwegs Ruhe einkehrt - auf einem Berg von Millionen Toten. Und vor allem ist so ein Prozess nicht halbwegs so spannend und unterhaltsam, wie uns das Katastrophenfilme oder auch die eigene Fantasie suggerieren.
Nun, das alles habe ich ja im Verlauf dieses Threads auch schon mehrfach gesagt. Ich kann mich da nur wiederholen: Ich will das ja auch nicht. Aber was, wenn es einfach passiert? Zivilisationen können nun mal kollabieren, das steht außer Frage. Ich hätte rückblickend den Thread anders benennen sollen, denn so wird ein falscher Eindruck erweckt. Ich hätte es eher so formulieren sollen:
Was wären die Folgen eines Zivilisationskollapses?
Dieses Thema finde ich extrem spannend und nur wenige Leute haben das auf dem Schirm.
Mir leuchtet nicht ein, was an einem vorindustriellen Standard erstrebenswert wäre.
Ich denke, dass manche Leute eine Sehnsucht nach simpleren Zeiten haben, nicht einfacher, aber simpler. Die heutige High-Tech und Betonwelt ist für viele Menschen seelisch sicherlich schädlich.
Es gibt da dieses Bleistift-Beispiel: Ein ganz simpler, heutzutage in jedem Schreibwarengeschäft erhältlicher Bleistift - was soll daran Besonderes sein? Es handelt sich ja nicht einmal um High-Tech, und Bleistifte gibt es ja bekanntlich schon lange. Und dennoch gibt es Niemanden, der einen simplen Bleistift komplett allein fertigen könnte. Es wäre nicht einmal das Know-How vorhanden, damit ein einzelnes Unternehmen einen Bleistift komplett allein herstellen könnte. Das Holz, das Graphit, der Lack außen, die Fertigung des Stiftes selbst usw. usf.: All dieses Wissen ist in verschiedenen Händen und Firmen ... und da reden wir nur über einen simplen Bleistift.
Ja, und dieses Problem wird umso schlimmer, wenn wir die digitale Technik mit einbeziehen. Alleine ein EMP-Angriff kann heutzutage eine ganze Gesellschaft lahmlegen und die Daten wären danach unter Umständen gar nicht mehr herstellbar. Das gesamte Internet könnte nach einem solchen Vorfall buchstäblich für immer verschwunden sein, aber das trifft auch auf alle anderen digitalen Daten zu. Die Frage ist aber, ob man überhaupt eine Möglichkeit finden kann, digitale Daten so zu "lagern", dass sie auch nach einem Totalausfall noch reproduzierbar wären.
Eine vorindustrielle Gesellschaft wäre überhaupt nicht in der Lage, auch nur ansatzweise so viele Menschen zu versorgen, ja überhaupt nur zu ernähren. Gleich eine ganze Reihe von Volksseuchen sind - heutzutage - so weit von uns entfernt, dass uns überhaupt nicht mehr geläufig ist, wie weit verbreitet sie einst waren, vor der Industrialisierung, aber auch noch während der Industrialisierung.
Noch im 19. Jahrhundert war der Skorbut (Vitamin C-Mangel) eine häufige Erkrankung, nicht nur unter Seeleuten. Genauso die Rachitis (Vitamin D-Mangel bei Kindern). Die Tuberkulose wurde erst durch die tiermedizinischen Kontrolle der Rinderhaltung und durch die Hygiene in der Milchwirtschaft besiegt. Wohin unsere Scheisse so fließt, darüber machen wir uns keine Gedanken, wir ziehen einfach den Abfluss. Aber selbst eine Kanalisation besteht und wartet sich nicht von selbst. Und deren Fehlen war die Ursache für verhehrende Seuchenzüge mit Cholera und Typhus.
Lies mal alte Bücher über Ernährung (z.B. 1920er Jahre) ... da kann man lesen, woran man gepanschte oder verfälschte Milch erkennt. Oder ein Händler hat Borax in die Milch getan, damit sie nicht sauer wird. Dergleichen muss vergleichsweise häufig gewesen sein, denn sonst hätte es kaum Gründe gegeben, davor zu warnen.
Die Liste lässt sich beliebig fortsetzen, ich habe nur die spektakulärsten Beispiele genannt. Die "gute, alte Zeit", in der eine Bilderbuch-Oma im Holzbottich Milch für lecker Käse rührt: Eine romantische Illusion, die mit der harten Realität vergangener Zeiten nicht viel zu tun hat. Vielmehr sind Menschen an Ursachen gestorben, über die wir heute überhaupt nicht mehr nachdenken, eine Blinddarmentzündung, ein vereiterter Zahn.
Und zwar zu Hauf. Eine gebrochene Ferse (wie ich sie hatte) - für den Rest deines Lebens ein Krüppel.
usw. usf.
Ja, ganz gewiss: Auf jeder Ebene außer der seelischen geht es den Menschen heutzutage besser denn je. Und gerade deshalb sollte den Menschen bewusster werden, auf welch fragilem Fundament das alles steht. Ich bin natürlich das andere Extrem, ich mache mir über diese Dinge sicherlich zu viele Gedanken. Aber was ich nicht verstehen kann, ist dieses Mindset, dass die kritische Infrastruktur, auf der das alles aufbaut, einfach als naturgegeben hinnimmt. Denn das ist sie nicht. Vielmehr ist es eigentlich ein Wunder, dass das alles funktioniert, aber das erkennt man erst, wenn man sich tiefgehend damit befasst. Es ist eben nicht selbstverständlich, dass Wasser aus der Leitung kommt, wenn man den Hahn dreht, und dass das Umlegen eines Schalters für Licht sorgt. Vielmehr ist dazu ein so ausgeklügeltes Räderwerk im Hintergrund nötig, dass man eigentlich nur Staunen kann, wie das alles so störungsfrei laufen kann seit Jahrzehnten. Der längste Stromausfall, den ich je erlebt habe, dauerte ca. 2 Stunden - und der war angekündigt, wegen Wartungsarbeiten.