(Liebe Freunde, aus einem der vielen kontroversen Gespräche zwischen Robin und mir entstand der Gedanke, man könnte einen philosophischen bzw. gesellschaftskritischen Text auch in diesem Denk-Forum Satz für Satz besprechen, anstatt pauschale Vorurteile zu äußern. Robin hielt sich über die Möglichkeit solcher Diskussion in diesem Medium eher pessimistisch; ich möchte trotz seiner Skepsis einmal einen Text zu denken und - wenn möglich - *Satz für Satz* zu besprechen geben.)
Aus: Theodor W. Adorno, Minima Moralia #72
Unser Leben haben wir der Differenz zwischen dem ökonomischen Gerüst, dem späten Industrialismus, und der politischen Fassade zu verdanken. Der theoretischen Kritik ist der Unterschied geringfügig: allerorten läßt sich der Scheincharakter etwa der angeblichen öffentlichen Meinung, der Primat der Ökonomie in den eigentlichen Entscheidungen dartun. Für ungezählte Einzelne aber ist die dünne und ephemere Hülle der Grund ihrer ganzen Existenz. Gerade die, von deren Denken und Handeln die Änderung, das einzig Wesentliche, abhängt, schulden ihr Dasein dem Unwesentlichen, dem Schein, ja dem, was nach dem Maß der großen historischen Entwicklungsgesetze als bloßer Zufall zutage kommen mag. Wird aber dadurch nicht die gesamte Konstruktion von Wesen und Erscheinung berührt? Gemessen am Begriff ist das Individuelle in der Tat ganz so nichtig geworden, wie die Hegelsche Philosophie es vorwegnahm; sub specie individuationis aber ist die absolute Kontingenz, das geduldete, gleichsam abnorme Weiterleben selber das Essentielle. Die Welt ist das System des Grauens, aber darum tut ihr noch zuviel Ehre an, wer sie ganz als System denkt, denn ihr einigendes Prinzip ist die Entzweiung, und sie versöhnt, indem sie die Unversöhnlichkeit von Allgemeinem und Besonderem rein durchsetzt. Ihr Wesen ist das Unwesen ; ihr Schein aber, die Lüge, kraft deren sie fortbesteht, der Platzhalter der Wahrheit.
Aus: Theodor W. Adorno, Minima Moralia #72