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Unser Leben

Thorsten

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26. März 2007
Beiträge
1.114
(Liebe Freunde, aus einem der vielen kontroversen Gespräche zwischen Robin und mir entstand der Gedanke, man könnte einen philosophischen bzw. gesellschaftskritischen Text auch in diesem Denk-Forum Satz für Satz besprechen, anstatt pauschale Vorurteile zu äußern. Robin hielt sich über die Möglichkeit solcher Diskussion in diesem Medium eher pessimistisch; ich möchte trotz seiner Skepsis einmal einen Text zu denken und - wenn möglich - *Satz für Satz* zu besprechen geben.)

Unser Leben haben wir der Differenz zwischen dem ökonomischen Gerüst, dem späten Industrialismus, und der politischen Fassade zu verdanken. Der theoretischen Kritik ist der Unterschied geringfügig: allerorten läßt sich der Scheincharakter etwa der angeblichen öffentlichen Meinung, der Primat der Ökonomie in den eigentlichen Entscheidungen dartun. Für ungezählte Einzelne aber ist die dünne und ephemere Hülle der Grund ihrer ganzen Existenz. Gerade die, von deren Denken und Handeln die Änderung, das einzig Wesentliche, abhängt, schulden ihr Dasein dem Unwesentlichen, dem Schein, ja dem, was nach dem Maß der großen historischen Entwicklungsgesetze als bloßer Zufall zutage kommen mag. Wird aber dadurch nicht die gesamte Konstruktion von Wesen und Erscheinung berührt? Gemessen am Begriff ist das Individuelle in der Tat ganz so nichtig geworden, wie die Hegelsche Philosophie es vorwegnahm; sub specie individuationis aber ist die absolute Kontingenz, das geduldete, gleichsam abnorme Weiterleben selber das Essentielle. Die Welt ist das System des Grauens, aber darum tut ihr noch zuviel Ehre an, wer sie ganz als System denkt, denn ihr einigendes Prinzip ist die Entzweiung, und sie versöhnt, indem sie die Unversöhnlichkeit von Allgemeinem und Besonderem rein durchsetzt. Ihr Wesen ist das Unwesen ; ihr Schein aber, die Lüge, kraft deren sie fortbesteht, der Platzhalter der Wahrheit.

Aus: Theodor W. Adorno, Minima Moralia #72
 
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AW: Unser Leben

Hoppla, welch einfacher, benutzerfreundlicher Text gleich am Anfang dieser Variante der philosophischen Diskussion, lieber Thorsten!

Nein, jetzt ganz ernst: die Idee eines Gedankenaustausches an Hand von philosophischen Texten finde ich ausgezeichnet, doch Adorno und seine Minima Moralia sind m.E. zu schwierig dafür. Denn dieses Werk sollte man in der Zeit bzw. im Kontext seiner Entstehung betrachten, anders versteht man es nicht.
Lass es mich anders ausdrücken: es gibt philosophische Texte die einen Einstieg erlauben, auch wenn man sie nur als Fragment liest - nach meiner Meinung ist das nicht der Fall beim Text den du uns hier vorschlägst.

Was nicht bedeuten sollte, dass ich mich später nicht nochmals melden werde um meinen Senf dazu zu geben. Das wird aber eher morgen sein.

Liebe Grüße

Miriam
 
AW: Unser Leben

Mir geht es da ähnlich..( mein erster Gedanke: oh,was für eine harte Kost am frühen Morgen..)
Die Idee finde ich ausgezeichnet;sie nötigt,am Strang zu bleiben...
 
AW: Unser Leben

Hallo Thorsten,

ich finde diesen Text schwierig, aber interessant, enthält er doch Gedaanken, die in diesem Forum in verschiedenen Threads bereits angedacht wurden.

Natürlich werden sich Studenten der Philosophie damit leichter tun als ich.

Aber der Wissensdrang ist doch eine allgemeine Sache.

Somit freue ich mich schon auf die diversen Beiträge dieses Textes.

Und vielleicht, so Gott will, kann ich auch ein wenig mitmischen.

Mit lieben Grüßen

suche :blume1:
 
Deutungs-Rätselrally

@ Thorsten

Ich erkläre mich mit Lilith und Robin solidarisch.

Wenn man dieses TWA-Zitat unvorbereitet (Ü: uninitiated) liest, gewinnt man den Eindruck
einer Hohlphrasendrescherei oder Jongliererei mit schillernden Worthülsen.

Beim Versuch einer ernsthaften Beschäftigung mit diesem aus dem Zusammenhang gerissenen Textausschnitt bereitet mir schon der erste Satz Probleme.

Was ist denn mit jenem "Leben" gemeint, das wir angeblich der Differenz
zwischen ökonomischem Gerüst und politischer Fassade zu verdanken haben ?

Das geht aus dem zitierten Text nicht hervor.

Wenn mit diesem "Leben" die ökonomischen Facetten unserer Existenz gemeint sind,
dann ist das Ganze eine Tautologie. Natürlich sind diese Facetten aufs Engste
mit ökonomischen Bedingungen und Prozessen verknüpft, womit denn sonst ?

Auch in die Worthülsen "ökonomisches Gerüst" und "politische Fassade" kann jeder
hineinstopfen, was ihm gerade in den Kram passt. Damit ist aber jene Differenz,
der wir angeblich "unser Leben" verdanken, ein stark vernebeltes Konstrukt.

Anscheinend muss man auf diesem Wiesengrund öfter grasen, um in dem zitierten Text
eine eindeutige Aussage erkennen zu können.

Aber ist es denn überhaupt sinnvoll, in eine kryptische Worthülsenjongliererei erst
mühsam eine Aussage hineinzuinterpretieren um hinterher darüber diskutieren zu können,
inwiefern diese Aussage auch zutrifft ?
Sollte es nicht Aufgabe des Autors eines Textes sein, die Aussage mit größtmöglicher Eindeutigkeit klar erkennbar zu machen ?

Wenn ich die Lust verspüre, metaphorische Wischi-Waschi-Texte nach eigenem Belieben
zu deuten, oder eine Deutungs-Rätselrally zu absolvieren, dann finde ich dafür ohnehin
ausreichend Rohmaterial in der Thora, im Alten und im Neuen Testament, oder im Koran.

Für eine ernsthafte Beschäftigung erscheint mir der zitierte Text ungeeignet,
allenfalls könnte man darüber diskutieren, ob die eine oder andere Worthülse
auch wirklich schillert (goethen tun sie allesamt ganz bestimmt nicht).


Das musste auch einmal in aller Klarheit gesagt werden.
 
AW: Unser Leben

Unser Leben haben wir der Differenz zwischen dem ökonomischen Gerüst, dem späten Industrialismus, und der politischen Fassade zu verdanken.

Wenn man diesen Satz wortwörtlich nehmen soll - und anders geht es in diesem Fall gar nicht - dann ergibt sich schon dadurch ein Widerspruch, da wir unser Leben in erster Linie einer Mutter zu verdanken haben und keiner Differenz zwischen dem ökonomischen Gerüst,.....

Vielleicht aber meint der Philosoph, dass sich unser Leben auf einem ökonomischen, industrialisierten und politischem Hintergrund abspielt. Möglicherweise dass ein Leben in der heutigen Zeit ohne Ökonomie, Industrie und Politik (diese nur als Fassade) in einer komplizierten Wechselwirkung, was er als Differenz bezeichnet, nicht mehr denkbar ist.

Was versteht der Autor unter "ökonomischen Gerüst", was unter "späten Industrialismus" und was unter einer "politischen Fassade"?

Bitte nicht ungehalten zu sein, wenn ich das Rätselraten jetzt jemand anderen überlasse. Danke.

Mit nachdenklichen Grüßen

suche
 
AW: Unser Leben

(Liebe Freunde, aus einem der vielen kontroversen Gespräche zwischen Robin und mir entstand der Gedanke, man könnte einen philosophischen bzw. gesellschaftskritischen Text auch in diesem Denk-Forum Satz für Satz besprechen, anstatt pauschale Vorurteile zu äußern. Robin hielt sich über die Möglichkeit solcher Diskussion in diesem Medium eher pessimistisch; ich möchte trotz seiner Skepsis einmal einen Text zu denken und - wenn möglich - *Satz für Satz* zu besprechen geben.)

Zitat:
Unser Leben haben wir der Differenz zwischen dem ökonomischen Gerüst, dem späten Industrialismus, und der politischen Fassade zu verdanken. Der theoretischen Kritik ist der Unterschied geringfügig: allerorten läßt sich der Scheincharakter etwa der angeblichen öffentlichen Meinung, der Primat der Ökonomie in den eigentlichen Entscheidungen dartun. Für ungezählte Einzelne aber ist die dünne und ephemere Hülle der Grund ihrer ganzen Existenz. Gerade die, von deren Denken und Handeln die Änderung, das einzig Wesentliche, abhängt, schulden ihr Dasein dem Unwesentlichen, dem Schein, ja dem, was nach dem Maß der großen historischen Entwicklungsgesetze als bloßer Zufall zutage kommen mag. Wird aber dadurch nicht die gesamte Konstruktion von Wesen und Erscheinung berührt? Gemessen am Begriff ist das Individuelle in der Tat ganz so nichtig geworden, wie die Hegelsche Philosophie es vorwegnahm; sub specie individuationis aber ist die absolute Kontingenz, das geduldete, gleichsam abnorme Weiterleben selber das Essentielle. Die Welt ist das System des Grauens, aber darum tut ihr noch zuviel Ehre an, wer sie ganz als System denkt, denn ihr einigendes Prinzip ist die Entzweiung, und sie versöhnt, indem sie die Unversöhnlichkeit von Allgemeinem und Besonderem rein durchsetzt. Ihr Wesen ist das Unwesen ; ihr Schein aber, die Lüge, kraft deren sie fortbesteht, der Platzhalter der Wahrheit.

Aus: Theodor W. Adorno, Minima Moralia #72

Mit anderen Worten – wir werden schon in diese Zwiespältigkeit die manchmal sogar zum Widerspruch wird, hineingeboren und leben darin. Wie könnte es dann anders sein als dass die Brüchigkeit des ganzen Systems immer wieder sichtbar wird - und wie könnte dabei unser Leben intakt bleiben?

Deswegen auch der gesamte Titel des Buches – "Reflexionen aus dem beschädigten Leben". Die politische Fassade die uns geboten wird, die aber keineswegs dem eigentlichen Gerüst, den eigentlichen Interessen entspricht, fordert uns zur Anpassung auf, wir werden ein Teil dieser öffentlichen Meinung – und da weist Adorno schon darauf: es ist die angebliche öffentliche Meinung die wir übernehmen, deren Teil wir werden. . Es ist "eine dünne und ephemere Hülle der Grund ihrer ganzen Existenz."

Was aber erfolgt eigentlich wenn man diesen Schein zur Seite schiebt, ihn ablehnt oder sich dagegen auflehnt? Warum ist es so schwer gegen den Schein zu handeln? Der Zwiespalt geht ja weiter, denn eigentlich wäre die Änderung das Wichtigste, aber da würde man ja, indem man sich auflehnt, indem man die öffentliche Meinung in Frage stellt, gegen die Basis des eigenen Daseins handeln. (Achtung, dies ist nicht nur als materielle Existenz zu verstehen).

Es ist die Zerrissenheit von Adorno selbst die hier zum Ausdruck kommt, denn seine Auflehnung gegen ein System, gegen die bürgerliche Gesellschaft, ist zugleich das Rebellieren gegen eine Gesellschaft dessen Teil er ist – dessen war er sich immer bewusst. Unter diesem Aspekt ist auch diese Passage zu verstehen:


Gerade die, von deren Denken und Handeln die Änderung, das einzig Wesentliche, abhängt, schulden ihr Dasein dem Unwesentlichen, dem Schein, ja dem, was nach dem Maß der großen historischen Entwicklungsgesetze als bloßer Zufall zutage kommen mag.

Für mich sehr beeindruckend und auch verunsichernd (oder beeindruckend weil so verunsichernd), ist der Teil des Textes in dem er die Welt als ein "System des Grauens" nennt, zur gleichen Zeit dieser die Anerkennung als System abspricht.

"Ihr einigendes Prinzip ist die Entzweiung" – dies ist ja eine altbekannte Tatsache, "divide et impera" hieß dies früher, soll von König Ludwig den XI stammen (gegoogeltes Wissen!) – nach meiner Meinung hat uns diese Erkenntnis, das Durchschauen dieses Prinzips nichts gebracht, noch nie wurde die Welt so sehr nach diesem Prinzip regiert wie heute.

Dass die Lüge der Platzhalter der Wahrheit mehr den je ist, da reicht es sich die aktuellen großen Konflikte, Krisenherde der Welt anzusehen. Ob Irak, oder Russland. Ob Überfluss der westlichen "Zivilisation" – versus Hungersterben in der so genannten Dritten Welt.

Wir sind alle irgendwie Teil dieser beschädigten Welt.
 
AW: Unser Leben

Thorsten
Wenigschreiber Registriert seit: Mar 2007
Beiträge: 77

Unser Leben

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(Liebe Freunde, aus einem der vielen kontroversen Gespräche zwischen Robin und mir entstand der Gedanke, man könnte einen philosophischen bzw. gesellschaftskritischen Text auch in diesem Denk-Forum Satz für Satz besprechen, anstatt pauschale Vorurteile zu äußern. Robin hielt sich über die Möglichkeit solcher Diskussion in diesem Medium eher pessimistisch; ich möchte trotz seiner Skepsis einmal einen Text zu denken und - wenn möglich - *Satz für Satz* zu besprechen geben.)


Zitat:
Der theoretischen Kritik ist der Unterschied geringfügig: allerorten läßt sich der Scheincharakter etwa der angeblichen öffentlichen Meinung, der Primat der Ökonomie in den eigentlichen Entscheidungen dartun.

Aus dem vergangenen Konglomerat der Geschehnisse (Ökonomie, Industrialismus und Politik), also auf diesem historischen Hintergrund, lässt sich ein Scheincharakter erkennen, dem die Öffentlichkeit mehr oder weniger kritiklos gegenübersteht, ja sogar zur öffentlichen Meinung und die Wirtschaft zum Gradmesser erhoben wird. Somit fallen die meisten Entscheidungen im wirtschaftlichen Bereich.

Ich hoffe, diesen Satz einigermaßen richtig verstanden zu haben. Wenn nicht, möchte ich mich schon jetzt entschuldigen. Doch ich bleibe am Ball!

suche
 
AW: Unser Leben

So beim Lesen von Miriams Beitrag geht mir durch den Kopf, warum wir uns mit diesen komplizierten Denkmodellen plagen, wo der Schein das sein soll, was unser Leben begründet, oder wie immer das auch gemeint war.

Könnte es nicht sein, dass wir einfach nur zu kompliziert denken? Das was unser Leben begründet und unseren Alltag bestimmt, das ist das Sein, der Schein, das sind unsere Gedanken, die sich einen Zusammenhang konstruieren, der für das "wirkliche" Leben gar nicht nötig ist.
Wir bezeichnen lieber etwas als paradox, bevor wir uns erlauben, ein "heiliges" Denkmodell einfach umzustoßen.

Sorry, Miriam, wenn ich es ganz falsch verstanden habe.

:blume1:
 
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AW: Unser Leben

Unser Leben haben wir der Differenz zwischen dem ökonomischen Gerüst, dem späten Industrialismus, und der politischen Fassade zu verdanken.

wir haben unseren 'Wohlstand' ... zu verdanken

(wir leben in der 1. Welt und halten westliche Demokratien für überlegen)

Für ungezählte Einzelne aber ist die dünne und ephemere Hülle der Grund ihrer ganzen Existenz.

das sind diejenigen, die das System nicht durchschauen

Gerade die, von deren Denken und Handeln die Änderung, das einzig Wesentliche, abhängt, schulden ihr Dasein dem Unwesentlichen, dem Schein, ja dem, was nach dem Maß der großen historischen Entwicklungsgesetze als bloßer Zufall zutage kommen mag.

in jedem noch so bescheuerten System gibt es Glückliche,
denen das soziales Ansehen, die Tauglichkeit für ein gestörtes Anforderungsprofil, das Geld ...
vor die Füße fällt
und die dann in den Medien vorgezeigt werden

Wird aber dadurch nicht die gesamte Konstruktion von Wesen und Erscheinung berührt?

ein unwirkliches System schafft sich seine unwirklichen Wahrheiten

Die Welt ist das System des Grauens, aber darum tut ihr noch zuviel Ehre an, wer sie ganz als System denkt, denn ihr einigendes Prinzip ist die Entzweiung, und sie versöhnt, indem sie die Unversöhnlichkeit von Allgemeinem und Besonderem rein durchsetzt. Ihr Wesen ist das Unwesen ; ihr Schein aber, die Lüge, kraft deren sie fortbesteht, der Platzhalter der Wahrheit.

die dualistische Welt ist grausam

irgendwie geht es dann aber doch weiter
(zumindest ging es bisher immer weiter)
 
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