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Prekariat – ein neuer Begriff für ein schon älteres Phänomen

Miriam

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Registriert
26. Juni 2005
Beiträge
9.722
Während wir überall aus den Medien erfahren, dass die Wirtschaft boomt, lässt uns endlich! ein verhältnismäßig neuer Begriff aufhorchen: das Prekariat.
Als das Wort "Prekariat" auf einmal durch die Medien kursierte, hat man sich erstmal mit diesem Begriff selbst auch öffentlich befasst.
Nach meiner Meinung hielt dies nicht lange an - und man fing an auch öffentlich über das Phänomen hinter dem Begriff nachzudenken. Endlich. Als "nur" von einer "neuen Armut" gesprochen wurde, hat man den dezenten Begriff gar nicht so wahr genommen.
Übrigens benutzt man diesen Begriff schon lange in Frankreich - nicht, dass dies den Franzosen geholfen hätte die Missstände zu beheben.

Und in Italien hat man zum Begriff Prekariat schon einen entsprechenden Schutzpatronen ausgerufen: San Precario.

Doch welche sind die Formen in denen die Prekarisierung uns tagtäglich begegnet? In erster Linie sollte uns klar sein: es geht hier um eine Klassengesellschaft der die Ausbeutung nicht fremd ist, es geht um Tagelöhner deren materielle Existenz auf ein Minimum reduziert wurde, ob es nun 1-Euro-Jobs sind, ob es um Minijobs geht, ob wir es befristete Arbeit nennen. Vergessen sollte man dabei nicht, dass das Vermögen in Deutschland sich keineswegs verringert hat - es hat sich nochmals umverteilt zugunsten der so genannten "oberen Schicht". Nur so kann man es sich erklären, dass von einer boomenden Wirtschaft nun gesprochen wird.

Werden diese an den Rand gedrängten Gruppen der Bevölkerung noch zurückfinden in eine gesicherte Existenz? Der Weg zurück scheint viel schwieriger zu sein als der den sie in den letzten Jahren zurückgelegt haben. Zurückgelegt - nicht nur zu ihrer Ungunst, sondern zur Ungunst der ganzen Gesellschaft.

Wo werden vernünftige Programme entstehen können die diese Schieflage beheben könnte?
Was nun Kurt Beck ankündigt ist ja nur ein kleiner, wenn auch nicht unwesentlicher Teil dessen was in Angriff genommen werden muss. Beck spricht von einem "Bildungsaufbruch", von beitragsfreien Kindergärten, von der Förderung der Ganztagsschulen - natürlich sind das die Grundsteine für eine zukünftige Chancengleichheit. Aber dadurch allein ist Chancengleichheit noch nicht gesichert.
Dies alles soll aber nicht zur Augenwischerei werden um von der jetzigen tiefen Krise in der wir uns befinden, abzulenken.

Gruß von Miriam
 
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AW: Prekariat – ein neuer Begriff für ein schon älteres Phänomen

Hallo, Miriam !

Ich kenne diesen Begriff - eh klar , ein Wort aus der Terminologie der .Geschichtswissenschaft.


Weil ich aber hier nicht unzulänglich Rumstammeln möchte, mache ich etwas, wozu ich sonst kaum greife.
Ich kopiere den entsprechenden Wikipediartikel hier her: nur zur Information



aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie


Die Prekarie war eine häufig anzutreffende Leihe von Land im frühen Mittelalter, welche auf älteste Praxis schon im republikanischen Rom zurückgeht.

Das Wort ist abgeleitet aus dem spätlat. precarium, a, n - Lehensgut (Land) - welches auf das lat. Adjektiv precarius, a, um - erbeten, auf Widerruf gewährt zurückgeht und neben dem im Sing. defektiven Substantiv preces, um, f - Bitte, Ersuchen steht.

Das Land wurde von einem Großgrundbesitzer an einen Bauern auf Lebenszeit oder für mehrere (bis zu drei) Generationen verliehen. Prekarien wurden von den Kirchen beurkundet, werden aber auch im Verhältnis zum dörflichen Adel bestanden haben.

Durch Kriegsdienst, Unglücksfälle, Naturkatastrophen oder hohe Geldbußen (Lex_Salica) sahen die vom Ruin bedrohten Bauern in der Leihe einen Ausweg. Der Beliehene war zu Natural- und Geldabgaben, oft auch zu Frondiensten verpflichtet und stellte sich unter dem Schutz des Feudalherren.

Der Schützende wurde zum Herrn des Beschützten, den er in Gerichtssachen vertrat.

Das von freien Bauern einem großen Grundherren oder dem Klerus geschenkte Land wurde oft als Prekarie an den Schenker zurückgegeben. Dadurch dehnte sich die feudale Grundherrschaft aus.


Marianne, das leider nicht im Verborgenen blühende Blimele
oder Marianne, die Kratzbürste
 
AW: Prekariat – ein neuer Begriff für ein schon älteres Phänomen

Hallo Marianne,

danke für die Erläuterungen zum Ursprung des Begriffes - dies lässt für mich persönlich nochmals klar erscheinen wie sehr Begriffe ihren Inhalt im Laufe der Zeit verändern können.
Und es ist ja auch seltsam, dass Begriffe aus dem Mittelalter doch wieder verwendet werden – wenn auch anders gemeint.

Um bei Begrifflichkeiten zu bleiben: wenn man an Stelle von Prekariat von einer Unterschicht spricht, stimmt das auch nicht versöhnlicher – es stellt sich natürlich logischerweise gleich jener andere Begriff ein: die Oberschicht.
Wie sieht die Relation zueinander aus? Natürlich gibt es zwischen diesen beiden die Mittelschicht und dies alles kann man nicht statisch betrachten. Denn die so genannte Unterschicht, die immer breiter wird (4% im Westen – 25% im Osten), die rekrutiert sich aus der Mittelschicht.
Über dieses Phänomen, welches ich irgendwann hier erwähnte es „die neue Armut“ nennend, sollte dieser Thread handeln.

Gruß von Miriam
 
AW: Prekariat – ein neuer Begriff für ein schon älteres Phänomen

Zusammenfassend glaube ich sagen zu dürfen, dass wir dieses Phänomen in beiden Fällen - im frühen Hochmittelalter und in Zeiten der Globalisierung als
gesamtgesellschaftlich bedingtes, also strukturelles Abrutschen in Armut bezeichen dürfen.
übrigens: Die Ergebnisse" Deines" Thread hier und " meines" ( Grundsicherung ) hängen eben auch zusammen, denke ich mal.

Marianne

ich konkretisiere meine Vermutung. gesamtgesellschaftlich bedingtes Phänomen eines Teiles der Bevölkerung in Armut
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:
AW: Prekariat – ein neuer Begriff für ein schon älteres Phänomen

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie


Die Prekarie war eine häufig anzutreffende Leihe von Land im frühen Mittelalter, welche auf älteste Praxis schon im republikanischen Rom zurückgeht.

Das Wort ist abgeleitet aus dem spätlat. precarium, a, n - Lehensgut (Land) - welches auf das lat. Adjektiv precarius, a, um - erbeten, auf Widerruf gewährt zurückgeht und neben dem im Sing. defektiven Substantiv preces, um, f - Bitte, Ersuchen steht.

Das Wort Prekariat leitet sich nicht von Prekarie her, sondern ist ein zusammengesetztes Kunstwort aus Prekarität (= ungewiss, unsicher) und Proletariat (= Lohnarbeiterklasse im Sinne von Marx).
Es definiert also "ungeschützte Arbeiter" als neue soziale Klasse.
 
AW: Prekariat – ein neuer Begriff für ein schon älteres Phänomen

Nu ja, ein Dankeschön für die Klarstellung --- aber: wo siehst Du einen sinngemäßen Unterschied zwischen einem m.a.lichen freien Bauern, der in Unfreiheit abrutscht und einem Proletarier im ursprünglich lateinischen Sinne und dem, den Karl Marx ihm gegeben hat.

Marianne


preca - scheint ja auch lautgeschichtlich die gleiche Bedeutung gehabt zu haben - bin zu faul, um mich " schlau" zu machen.
 
AW: Prekariat – ein neuer Begriff für ein schon älteres Phänomen

Das hängt wohl in der Tat alles zusammen, siehe auch :
Prekarisierung (von prekär lat.-fr.; unsicher; durch Bitten erlangt; widerruflich, schwierig) bezeichnet die Zunahme von Arbeitsplätzen mit geringer Arbeitsplatzsicherheit, niedrigem Lohn, Teilzeitbeschäftigung, befristeten Verträgen und mangelndem Kündigungsschutz..........
 
AW: Prekariat – ein neuer Begriff für ein schon älteres Phänomen

Ja, ja, culatello, total verkürzt und auf Östereichisch/ Wienerisch:
ana , der hakelt, is imma der Bleede
falls Du kein Ösi bist- hier die Übersetzung:einer, der nichts als seine Arbeitskraft besitzt, ist immer der Blöde
 
AW: Prekariat – ein neuer Begriff für ein schon älteres Phänomen

Nun, ich finde die Diskussion über Begrifflichkeiten immer sehr lehrreich, denn sie erlaubt immer auch ein Vertiefen dessen was sie bezeichnet – trotzdem verlasse ich sie nun um zu versuchen mich dem Phänomen anzunähern.

Das Handeln und natürlich das Produzieren dessen was Objekt des Handels ist, also die Wirtschaft, sind so alt wie die menschliche Gesellschaft. Man kann aber Wirtschaft nicht trennen von den Wertvorstellungen, von der Ethik eines gesellschaftlichen Systems.
Ich denke, dass diese Zusammenhänge früher eher vollziehbar waren. Sie werden es immer weniger – und dies lässt sich feststellen parallel zur Entwicklung einer Gesellschaft in der das Kapital sich vermehrt in immer weniger Händen befindet.

Man spricht so viel von der Liberalisierung sowohl der Gesellschaft als auch der Märkte – parallel dazu muss man aber feststellen, dass dieses System eine totale Unterwerfung verlangt. Wir stellen es manchmal gar nichtmehr fest - so sehr haben wir uns schon angepasst.
Ist das verwerflich? Nur zum Teil. Denn wir können nicht ständig in einer Konfliktsituation leben.

Wer stellt aber nicht fest, dass dabei eine Art soziale Indifferenz stattfindet, ein System sich entwickelt durch dessen Netz immer mehr Menschen fallen – in Arbeitslosigkeit, in Armut, in eine Art sozialer Entfremdung.

Worte wie z.B. Gewinnmaximierung, haben auch eine andere Seite, die, so scheint es mir, erst jetzt völlig sichtbar werden: das Abgleiten breiter Bevölkerungsschichten an einem gesellschaftlichen Rand aus dem hinauszufinden immer problematischer sein wird.
Das ist die Kehrseite der regelrechten Exzesse die sich die Wirtschaft geleistet hat, den Blick gerichtet nur auf Gewinnmaximierung. Und wenn wir darüber sprechen - sprechen wir über Menschenschicksale - aber auch vom Funktionieren eines Gesellschaftsystems.

Es gibt natürlich auch die anderen Beispiele die beweisen, dass es auch anders geht. Darüber ausführlich zu berichten würde sich lohnen, wäre aber auch sehr umfangreich. So erwähne ich nur eines der Beispiele – aber dasjenige, welches mich persönlich am meisten beeindruckt hat: das Konzept des diesjährigen Friedensnobelpreisträgers, Mohammed Junus, und dessen Konzept für die Gründung einer Bank die den Ärmsten so genannte Mikrokredite gewährt, die ihnen die Gründung einer Existenz erlauben soll. Diese Bank arbeitet übrigens überhaupt nicht defizitär – und hat auch schon Nachahmer gefunden.

Gruß von Miriam
 
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AW: Prekariat – ein neuer Begriff für ein schon älteres Phänomen

Gratuliere miriam, mit dem Titel dieses Threads hast Du das Entscheidende angestoßen. Ich finde die politische Diskussion über die Begrifflichkeit geradezu lächerlich. Der Begriff "Unterschicht" ist ein völlig wertneutraler Begriff der deutschen Soziologie der 50er und 60er Jahre. Da beherrschte das Dreischichtenmodell die Diskussion und jede dieser drei - Ober-, Mittel- und Unterschicht - war noch einmal in die Gruppen unterteilt: Obere, mittlere und untere. Und weißt Du, wie man - in wissenschaftlichen Büchern! - die untere Unterschicht auch bezeichnete: Sozial Verachtete. Dazu zählte man beispielsweise die Damen des horizontalen Gewerbes. Aber den Soziologen war wohl bei diesem Begriff selbst etwas mulmig zumute, sie setzten ihn oftmals in "". - Auch der renomierte Lord Dahrendorf, benutzte das Schichtenmodell in seinem 1968 erschienenen Buch "Gesellschaft und Demokratie in Deutschland" gänzlich unbekümmert. Als Mittelwert galt damals, daß rd. 35% zur Unterschicht gehörten, darunter 4% zu den "SV". Ich kann verständlicherweise hier nicht die vielen Differenzierungen darlegen.
Resümee:
In allen Gesellschaften der Geschichte gab es Ober- und Unterschichten. Die Mittelschicht - jene Amalgamation aus Besitz und Bildung - entstand im Kapitalismus des 19. Jahrhunderts, was Marx nicht erkannte, obwohl sein Zweiklassenmodell schon zu seinen Lebzeiten überholt war.
Man kann aus diesem Thema viel machen. Das Wort "Prekariat" aber halte ich für ein typisches Kunstwort des Soziologenchinesisch.
Ziesemann
 
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