Das Werk des Philosophen und Philologen Friedrich Nietzsche ist weltbekannt. Zu Lebzeiten nur an der Universität von Kopenhagen auf dem Lehrplan, vergeht heute kein Semester an einer philosophischen Fakultät ohne Nietzsche-Seminar. Und doch hat seine Popularität nicht hinreichend zur Klärung seiner Rolle in der Philosophiegeschichte beigetragen. Er hat ein Werk hinterlassen, das provoziert und spaltet, das Missverständnisse hervorruft wie kaum ein anderes philosophisches Lebenswerk. Es ist schwer, Nietzsche gerecht zu werden. Klar ist nur, wie man ihm nicht gerecht wird. Man wird Nietzsche nicht gerecht, wenn man in ihm einen atheistischen Chauvi sieht, der polemisch gegen alles wettert, was den Menschen heilig ist, und die tradierten Werte dem Ideal eines Übermenschen opfert. Wenn man dabei nur die oft zitierten Aussagen Nietzsches „Wenn Du zum Weibe gehst, vergiss die Peitsche nicht.“ und „Gott ist tot.“ im Auge hat. Oder wenn man gar behauptet, er habe den Faschisten mit seinem Übermenschen, der Umwertung der Werte von der Sklavenmoral des Juden- bzw. Christentums hin zur Herrenmoral des aktiv-autonomen Menschen geistig den Weg bereitet. Wahr ist statt dessen, dass er jeglichen Nationalismus, Militarismus und Antisemitismus verachtete und das von Nazi-Ideologen viel zitierte Werk „Wille zur Macht“ von seiner Schwester Elisabeth nach seinem Tode aus Fragmenten zusammengefügt wurde, die nie als zusammenhängender Text hätten publiziert werden sollen.
Nietzsche muss man selbst erfahren. Ein möglicher Zugang zu seinem Werk kann dabei auch über sein Leiden gelingen. Wer sich in seine Weltanschauung vertieft, wird auf zahlreiche Probleme stoßen, die nur vom Standpunkte der Psycho-Pathologie einer Aufhellung fähig sind. Andererseits dürfte es gerade für die Psychiatrie von Wichtigkeit sein, sich mit einer bedeutenden Persönlichkeit zu beschäftigen, die einen unermesslich großen Einfluß auf die Zeitkultur gewonnen hat.
Dabei sollte man nicht versuchen, die Genialität Nietzsches aus seiner kranken Konstitution zu erklären. Die Genialität ist nicht die Krankheit. Nietzsche war ein genialer Philosoph, trotzdem er krank war.
Viele haben sich schon mit dem kranken Nietzsche beschäftigt. Zu erwähnen ist vor allem Karl Jaspers’ Nietzsche-Einführung von 1936, die Nietzsches Leiden ausführlich thematisiert. Doch alles, was von seiner Krankheitsgeschichte bisher in die Öffentlichkeit gedrungen ist, scheint Fachleuten zu lückenhaft, um ein exaktes Krankheitsbild zu diagnostizieren. Zudem wird viel spekuliert. So soll Nietzsche als Student harte Drogen genommen haben und sich bei einem Bordellbesuch, ein damals weit verbreiteter Studentenulk, die Syphilis geholt haben, an der er später starb.
Fest steht hingegen: Nietzsche litt seit seinem 35. Lebensjahr an starken Kopfschmerzen und musste infolge dessen seine Professur in Basel aufgeben. Hinzu kamen Schwindelanfälle sowie Lähmungsgefühle, was Anton Neumayr in Luther, Wagner, Nietzsche – im Spiegel der Medizin auf eine syphilitische Gehirnerkrankung zurückführt.
Der geistige Zusammenbruch kommt im Winter 1888/89. Nietzsche lebt mittlerweile in Turin zur Untermiete. Sein Zimmerwirt hört ihn wirre Selbstgespräche führen. Der Philosoph irrt ziellos durch die Straßen, schreibt Karten, die er mit „Dionysos“ oder „Der Gekreuzigte“ unterzeichnet. Am 03. Januar 1889 beobachtet Nietzsche, wie ein Kutscher erbarmungslos auf sein Pferd einschlägt. Er stürzt auf das Tier zu und fällt ihm tränenüberströmt um den Hals.
Die letzten elf Jahre seines Lebens ist Nietzsche wegen seiner progressiven Paralyse auf Pflege angewiesen. Seine Mutter Franziska kümmert sich um ihn. Ihre Briefe geben uns einen Einblick in das Leben des schwerkranken „Fritz“, wie sie ihren Sohn nennt, und zeugen von manischem Größenwahn, paranoiden Ängsten und zunehmender Demenz. Ihr Fritz habe „stehende Sätze, die er vielfach wiederholt“, schreibt Franziska am 26. September 1892 an Franz Overbek, einen Kollegen Nietzsches aus Baseler Zeiten. „Ich bebe keine Pferde“, sage er, anstatt „liebe“, obwohl sie ihm das Wort „hundertfach wiederhole“. Regelrecht „müde“ rede er sich und sage ständig „Ich bin tot, weil ich dumm bin.“ oder „Ich habe ein feine Beurteilung für die Dinge.“. Dabei mache er einen durchaus zufriedenen Eindruck und sei bisweilen gar „zu kleinen Scherzen aufgelegt“.
Nietzsche selbst interpretierte sein Leiden als physiologische Störungen aufgrund eines vom Vater ererbten „Mangels an Lebenskraft“ und einer „krankmachenden Dekadenz der abendländisch-christlichen leibfeindlichen Lebensweise“. Er meinte, seine Krankheit durch tapferes Ertragen und durch „Selbstüberwindung“ kompensieren zu müssen. Mut macht Nietzsche sich und anderen mit dem ihm zugeschriebenen Ausspruch: „Keiner ist so verrückt, dass er nicht einen noch Verrückteren findet, der ihn versteht.“