Ich lass nicht locker, bin aber nicht foot loose...
Tja, liebe Leute, jetzt wollte ich auch mit Chomsky kommen, aber ihr ward zuerst
Der kam mir nämlich auch in den Sinn, als Marianne Herder zitierte...
Aber gut, ich werde die Sache von einer anderen Seite aufzäumen. Zunächst werde ich den Begriff "Charakter" streichen. Ihr habt Recht, von einem National- oder Sprach-Charakter zu sprechen ist unseriös. Ich ersetze den Begriff also durch "Gesellschaftsstruktur".
Dahinter steckt der Gedanke, dass die Semantik einer Sprache die Gesellschaftsstrukur prägt. WIe geht das? Nun, die Sprache stellt Codes zur Verfügung, die dann durch Kommunikation zu Leben erweckt werden und wieder zurückwirken, auf die Individuen, die die Codes verwenden und weiterentwickeln. Ein kurzes Beispiel, dass ich schon bei Diskussionen über die Liebe verwendet habe: "Der Code [der Liebe] ermutigt, entsprechende Gefühle zu bilden. Ohne ihn würden die meisten, meint La Rochefoucauld, gar nicht zu solchen Gefühlen finden." Zitat der Rückseite von "Liebe als Passion", N. Luhmann
Da Liebe aber in verschiedenen Sprachen unterschiedlich codiert wird, werden sich auch die Ausdrucksformen der Liebe unterscheiden, vielleicht sehr gering in Ländern innert Europas, vielleicht aber erheblich in Ländern, die räumlich und sprachlich weiter entfernt sind.
Ein kleines weiteres Beispiel habe ich, glaube ich, auch schon angeführt: Im Englischen wird zwischen Elternliebe und geschlechtlicher Liebe - von der Spache her!- weniger scharf unterschieden als im Deutschen. Man sagt also auch zu seinen Kindern: "ich love you", auch zu Freunden, was man im Deutschen m.E. nur in emotionalen Extremsituationen tut. Dadurch ist Love etwas anderes als Liebe. Und diese leichte Verscheibung MUSS, wenn man von der Wechselwirkung zwischen Gesellschaftsstruktur und Semantik ausgeht, eine Auswirkung auf die Kommunikation und damit auf die Individuen des englischsprachigen Raumes haben. Dies als unterschiedlichen Charakter zu definieren, ja überhaupt diese geringfügige Differenz vernünftig beschreiben zu können, ist sicher unseriös, aber sie existiert.
Jérôme, ich habe nicht behauptet, dass sich diese Unterschiede im Frühkindlichen zeigen. Ich glaube sogar ganz im Gegenteil, dass sie sich erst beim gereiften Menschen zeigen, denn erst der untersteht ja massiv dem Zwang und hat die Kompetenz, sich den sprachlichen Codes "zu fügen"!
Ich will das japanische Beispiel wieder aufgreifen: Wir wissen aus Beschreibungen, dass es den Japanern quasi unmöglich ist, Missbehagen, Kritik direkt auszusprechen. Daher verstecken sie diese in wolkenreichen Andeutungen. Wie auch immer sich diese Konvention entwickelt haben mag: Es ist klar, dass sie sprachlich ihren Ausdruck gefunden hat, durch ein Übermaß an "absurden" Höflichkeitsformeln. Und es ist doch glasklar, dass dieses Repertoire an Höflichkeitsfloskeln zurückgewirkt hat und die Konvention, die ja einmal nur schwach ausgeprägt gewesen sein mag, rekursiv verstärkt hat! Das hat dann nichts damit zu tun, ob "die" Japaner unehrlich sind, das sage ich nicht, aber der sprachliche Code im Verbund mit der Konvention lässt ihnen wenig Spielraum.
Und denkbar ist doch auch: Die Tatsache, dass die asiatischen Sprachen Symbolschriften benutzen, hat ihren Metaphernreichtum erhöht und dieser hat dann schnell ein Repertoire bereitstellen können, für das blumige "Drumherumreden". Und vielleicht ist es gar der speziellen Struktur der SPrache zu verdanken, dass sich die extreme Flut an Höflichkeitsfloskeln, die es ja auch früher in Europa gab, länger halten konnte, weil diese Strukturen wegen der "Blockhaftigkeit" der Sprache weniger "geschliffen" werden.
Wie man dem von mir gelobten Buch "Tokyo Blues" entnehmen kann, erscheint diese Konfliktvermeidungsstrategie dem Europäer nicht sehr sympathisch, weil damit eine fast gänzlich fehlende Aufarbeitung der japanischen "dunklen Flecken" in ihrer Geschichte einhergeht. WIe gesagt, den Japanern dann einen bestimmten Charakter zusprechen zu wollen, ist gefährlich, denn diesen formulieren wir ja mit
unserer Sprache. Die Japaner verstehen nicht, was für ein Problem wir damit haben könnten - denn genau dieses Problem, die Differenz in der Gesellschaftsstruktur ist
unübersetzbar
Jetzt widerspreche ich auch noch Céline: Wenn du behauptest, man könne in verschiedenen Sprachen Sachverhalte gleich gut beschreiben. Ich sage: Kann man nicht. So wie es eben in der Sprache der Eskimos Worte für Schnee gibt, die wir auch mit ellenlangen Umschreibungen nicht ersetzen können, so gibt es auch zwischend dem Deutschen und Französischen Differenzen, die nicht durch Austausch zu verdecken sind. Sie fallen nur nicht groß auf. Und diese Unterschiede mögen nicht für den Charakter prägend sein - aber für die Ausdrucksweise und die Komplexität, wie Marianne sagt.
Jetzt mögt ihr einwenden, es sei prägender, mehrere Sprachen zu lernen, als die Tatsache,
welche Sprachen man lernt. Ich behaupte, beides hat einen Einfluss. Es hat Rückwirkung auf das Individuum, ob es nun isländisch oder französisch zusätzlich lernt, davon bin ich überzeugt.
Zum Schluss möchte ich noch auf das Beispiel der Deutschen hinweisen, die nach Amerika gehen und dann nur noch englisch sprechen, sich sogar weigern, mit einem deutsch zu sprechen. Natürlich nicht alle, aber ein paar habe ich kennengelernt. Meine Theorie ist, dass dies Exemplare sind, denen die Tatsache, Deutsche zu sein, Minderwertigkeit oder gar Selbsthass eingibt, während ihnen das amerikanische Englisch Coolheit und neues Selbstbewusstsein einimpft. Sie flüchten in eine andere Sprache, streifen das Deutsche ab, versuchen einen "Reset" ihres Charakters über die Sprache und hassen es, darauf hingewiesen zu werden, wo sie herkommen. Dies deutet m.E. darauf hin, wie stark die Wechselwirkung zwischen Sprache und Ausdruck der Persönlichkeit empfunden werden kann...
P.S. EInen eigenen Thread wäre es wert, ob Tiere einen Charakter haben können. Ich behaupte, sie können keinen haben - dies zeigt aber auch, dass das ganze Problem eng mit der Definiton von "Charakter" zu tun hat.
P.P.S. Ihr habt mich bei dem Beispiel der Schweizerin widerlegen können, obwohlich nicht ganz überzeugt bin - ich fand alle Schweizer langsamer als die Deutschen, oder sagen wir: gelassener; Ob in Solothurn, Luzern, Bern oder Zürich. Nun gut. Aber wenn diese Schweizerin meinte, dass ihr das Hochdeutsch besser liege, also sozusagen mehr zu ihrem Charakter passe, dann muss diese Eigenschaft ja auch in der Sprache angelegt sein, die ja letztendlich menschengemacht ist, oder?