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Mein Vater

MartinL

Well-Known Member
Registriert
4. Juli 2022
Beiträge
2.643
Ich erzählte hier im Forum schon das eine oder andere über meine verstorbene Mutter, im Kontext mit dem Einfluss unseres Gesundheitssystems auf ihren frühen Tod.



"Der Tod des Vaters ist das wichtigste Ereignis, der schmerzlichste und ergreifendste Verlust im Leben eines Mannes."

Siegmund Freud



Mein Vater war, mit Ausnahme einer Periode, in der ich ihn pflegte, die letzten 7 Jahre seines Lebens im Pflegeheim.



Er litt an Demenz, die ihre ersten Symptome während eines Klinikaufenthalts zeigte, in der er seltsame Medikamente bekam.



Ich erinnere mich noch sehr gut an diese Klinikzeit meines Vaters, weil ich ihn während eines Besuchs beim Fernsehen der berühmten Elton John Aufnahme weinend vorfand, als Lady Diana starb.
 
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Trauer ist ein Gefühl, mit dem alle Menschen im Laufe ihres Lebens mehrfach konfrontiert werden. Dem kann sich keiner so richtig entziehen; dabei stehen die Erinnerungen in einer wechselseitigen Beziehung zum autobiografischen Gedächtnis. Es gibt zwei Ansätze zur Überwindung der Trauer: Die Verdrängung und die Verarbeitung; letzterem werden wir hier anteilig gewahr. Die Psychologin Verena Kast entwickelte durch die Beobachtung an Trauernden ein Modell von Trauerphasen: 1. Die Phase des Nicht-wahrhaben-Wollens, 2. Die Phase der aufbrechenden Emotionen, 3. Die Phase des Suchens und Sich-Trennens, und 4. Die Phase des neuen Selbst- und Weltbezugs.
 
Ach nimm ihn doch!



Als wir eines Tages mit dem Auto an dem Haus im Nachbardorf vorbeifuhren, in dem Vater die meiste Zeit seiner Kindheit gelebt hatte, erzählte er mir, wie alles anfing, dass er immer diesen Satz in den Ohren klingen höre, wenn er dort vorbeikäme: Ach nimm ihn doch!



Nach der Geburt seines jüngsten Bruders wurden seine Eltern von der NS zwangssterilisiert, sein Vater kam in eine Klinik, in der medizinische Versuche mit ihm gemacht wurden. Man ließ ihm die Wahl, alternativ nach Dachau zu gehen.



Außer seinem jüngsten Bruder, der damals ein Baby war, musste seine Mutter alle ihre Kinder abgeben. Sie kamen zu unterschiedlichen Pflegefamilien im Ort und durften bei Strafe nicht ihre Mutter besuchen, die im gleichen Ort lebte.



Mein Vater erzählte, dass er bei der Suche nach einer Pflegefamilie vor der verschlossenen Tür dieses Hauses warten musste und natürlich das Gespräch hören konnte, das der kommunale Beamte mit den potentiellen Pflegeeltern führte. Der Vater der Familie wehrte sich mit Händen und Füßen gegen diese zusätzliche Aufgabe, bis seine Frau schließlich, deutlich hörbar für meinen Vater, zu ihm sagte:



Ach nimm ihn doch!
 
...von der NS zwangssterilisiert...
Zwangssterilisationen im dritten Reich beruhten auf dem national-sozialistischen Verständnis der Rassenhygiene; im Einklang mit jener damaligen „Wissenschaft von der Aufwertung der menschlichen Rasse durch verbesserte Fortpflanzung“. Diese strebte die Vermehrung der „rassisch wertvollen“ und gleichzeitig die Ausrottung der „rassisch minderwertigen“ Volksbürger an und wurde durch die „Deutsche Gesellschaft für Rassenpflege" gefördert.
...Suche nach einer Pflegefamilie
Das System der Jugendämter in Deutschland ist eine der umstrittensten Einrichtungen der Moderne. Da seine Wurzeln in der Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus liegen, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von internationalen Politikern mehrfach gefordert, es abzuschaffen bzw. durch ein anderes System zu ersetzen. Bis heute jedoch ohne Erfolg. Im Nationalsozialismus wurde die Fürsorgeerziehung ideologisierend missbraucht; zunächst für gefährdete und verwahrloste Jugendliche und schließlich für die Umerziehung und Auslesepraxis.
 
Als Mutter starb und ich mit Vater und meiner Schwester im Büro des Pfarrers war, um die kirchliche Trauerfeier zu besprechen, verließen wir am Ende das Büro des Pfarrers, als Vater plötzlich in der Tür noch mal stehen blieb und in den Raum hinein einen Satz sagte, als wäre Mutter anwesend: "Danke, dass Du mich genommen hast, ()"



Er nannte ihren Vornamen.



Es war eine Venus-Pluto-Ehe, die in meiner Familie seit Generationen sehr häufig war. Der Gärtner heiratet die Prinzessin.
 
Eines Tages saß ich im Pflegeheim auf der Couch mit meinem Vater, gegenüber saß eine andere Bewohnerin, die körperlich behindert ist und meinen Vater sehr mochte. Sie fragte schließlich, warum er nie von seinem Enkelkind besucht würde. Ich sagte ihr das, was sie mir gesagt hatte, wortwörtlich. Sie wolle ihn in diesen Zustand nicht mehr kennen lernen. Vater schien das noch zu verstehen, es liefen Tränen seine Wangen herunter. Anschließend hungerte er sich aus, nahm nur noch von mir Nahrung an, wenn ich am Wochenende zu Besuch kam.
 
Mein Vater hatte zuletzt vier Geschwister in seiner Generation. Er und drei Geschwister bekamen im Alter Demenz. Der einzige, der nicht dement wurde, ist sein jüngster Bruder, der noch lebt. Er war auch der einzige, der als Kind bei der Mutter bleiben durfte.
 
In einer emotionalisierten Selbstbeschreibung repräsentiert das Öffentlichmachen eine wohltuende virtuelle Einheit zwischen dem Sender und den Empfängern; denn: „Sozialpsychologisch gesehen ist Öffentlichkeit jener Zustand, wo der einzelne von allen gesehen und beurteilt wird, wo sein Ruf und seine Beliebtheit auf dem Spiel stehen, [quasi] Öffentlichkeit als Tribunal“ (Noelle-Neumann, 1997 : 376). Gleichwohl führt ein Zuviel an Emotionalisierung, abseits deren gegebenen Tatsächlichkeit, beim Leser oftmals zu einem Glaubwürdigkeitskonflikt; d. h. Tatsachen können vom Rezipienten nur wohldosiert verinnerlicht werden. - Nach diesem Konzept des Veröffentlichens ist das Individuum in der Lage, Sachverhalte bewusster zu erkennen, um sich auf Basis des Verstandes (bisweilen auch ‚rationales Denken‘ genannt) ein nachhaltiges Urteil zu bilden, welches logisch begründbar ist und zugleich auch umfänglich sozialisiert; denn die Ergebnisse dieses Prozesses müssen für alle intersubjektiv nachvollziehbar sein.
 
Als Vater 40 war, hatte er einen schweren Autounfall bei Aquaplaning, wie es damals hieß. Sinnigerweise hieß der Unfallort Leichendorf. Er war ganze 9 Monate im Waldkrankenhaus Fürth, brauchte unter anderem zwei neue Kniegelenke. Das war mit dem ersten Auto, einem Opel Kadett. Damals gab es im deutschen Gesundheitssystem die schroffe Trennung zwischen Privat- und Kassenpatienten, die der Beamte Horst Seehofer später zur Begünstigung der Beamten einführte bzw. zementierte, noch nicht. Vater lag zeitweise zusammen mit 'Schampus' im Zimmer, einem Fußballer, dem ewigen Trainer von Werder Bremen, der damals noch bei der Spvgg Fürth spielte. Ich erinnere mich noch gut an den überaus sympathischen Fußballer.
 
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In den 90er Jahren waren die zwei künstlichen Kniegelenke verschlissen. Er brauchte neue. Nachdem das erste neue -ambulant in einer Ansbacher Praxis eingesetzt- nebenwirkungsfrei funktionierte, ließ er sich von derselben Praxis auch das zweite Kniegelenk erneuern. Drei Wochen nach dem Eingriff kam ich zum zweiten mal auf Wochenendbesuch, nahm mir dann kurzfristig noch einen Tag Urlaub, um Vater zum Nachsorgetermin zu begleiten. Obwohl Vater einen Termin hatte, mussten wir zwei Stunden warten. Immer wieder kamen unangemeldet Privatpatienten in die Praxis und wurden vorgezogen. Ein befreundeter Beamter meinte einmal, dass er auch oft eine Stunde beim Arzt sitze, sich dabei mit ihm eigentlich immer über Fußball oder Politik unterhalte. Meist sei ihm das sehr unangenehm, weil er ja merkt, dass die Kassenpatienten, die meistens höhere Beiträge als er zahlen, lange im Wartezimmer warten müssten. Es sei nie er, sondern der Arzt, der sich so lange privat unterhalten wolle. Er will es sich aber nicht mit den weißen Göttern verscherzen. Als wir schließlich dran waren, sagte ich zum Arzt: "Mein Vater kommt seit drei Wochen 2-3 mal wöchentlich zur Nachsorge wegen der Knie OP zu Ihnen. Ist Ihnen noch nie aufgefallen, dass Eiter aus dem operierten Gelenk läuft? Mein Vater hatte mir am Wochenende gesagt, Sie hätten sich dabei noch nie sein Knie angesehen. Als er das Eiter sah, wies er Vater in die Uniklinik ein, deren zuständiger Arzt bei meinem ersten Besuch sagte, dass der einweisende Arzt die Unterlagen meines Vaters nicht mehr finden könne. Vermutlich hatte er Angst vor Regressforderungen. In der Klinik bekam er einen Tropfer mit einer Flüssigkeit an sein Kniegelenk angeschlossen, mit der dies ausgespült werden sollte. Am Ausgang saugte ein Schlauch die Flüssigkeit von Eingang des Gelenks an. Der Tropfer war immer nach zwei Stunden leer, sodass man rechtzeitig wechseln musste, was die Klinik aber sehr oft vergaß, sodass Vater unter höllischen Schmerzen litt, da der Schlauch dann Luft in seinem Kniegelenk ansaugte. Als er dadurch sehr unleidlich wurde, pumpte man ihn mit Haldiperol zu, was die ersten demenzartigen Dauerzustände bei Vater auslöste.
 
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