Neues Jahr - neue Runde
Salut!
Das Thema scheint ausgeschöpft. Schade. Habe leider erst gestern alles lesen können und musste über den Vorwurf an meine Adresse sowie die Antwort erst nachdenken.
Die ursprüngliche Frage 'Ist es den wirklich eine solche Tugend, eine eigene Meinung zu besitzen?' verstand ich eher als rhetorisch. Sie war mir zu allgemein, und da sie mit der Aufgabe, die Mittelmässigkeit verstehen zu lernen/wollen, verbunden war, 'stürzte' ich mich - wie die Meisten - auch auf die Mittelmässigkeit. Drücken wollte ich mich , glaub', nicht.
Das Mittelmass wurde vielfach über den Intellekt definiert. Ist aber Intellektualismus das Mass?
Philosophisch könnte ich das Prinzip des Utilitarismus anzuwenden versuchen (setzt voraus, was der grösste Nutzen für die grösstmögliche Zahl ist), aber wie soll ich den Nutzen quantifizieren? So muss ich also mit perspektivischem Wissen vorlieb nehmen. Wir sind - trotz Informationsgesellschaft - nicht genügend darüber informiert, was für die anderen Menschen von Nutzen ist. Auch kränkelt die Informationsgesellschaft an Desinteresse der Masse, wie hier 'bewiesen' wurde. Ist also der grösstmögliche Nutzen für die grösstmögliche Zahl das, was ich persönlich dafür halte. Mein Urteil bleibt immer ein ganz persönliches.
Beantworte ich die Frage -vgl. oben- mit 'Nein, es ist nicht wichtig...', meine ich damit, ich brauche nicht zu jedem Thema eine Meinung zu haben - es würde mich überfordern, sie mir zu bilden. Handelt es sich z.B. um technische Dinge, überlasse ich dies den Fachleuten, lasse mich beraten und glaube/hoffe auf ihre Seriosität und Loyalität. Mit einem generellen 'Nein' würde sich auch kaum jemand davon abhalten lassen, weiter zu denken, weiter eine eigene Meinung besitzen zu wollen.
Es ist also opportuner, 'Ja' zu sagen, wobei ich das Substantiv 'Tugend' an dieser Stelle gestrichen haben möchte.
Es ist mir sehr wichtig, zu gewissen Fragen eine 'eigene' Meinung zu haben. Vielleicht auch, um 'von Nutzen zu sein', aber vorwiegend, damit keiner aus meiner Unwissenheit einen Nutzen ziehen kann. Scheint mir der wichtigste, wenn auch auf den ersten Blick sehr egoistische Aspekt zu sein - im Hinblick auf unsere Staatsform, die Demokratie, ist der Aspekt aber doch schon eher weniger egoistisch - vgl. alle Formen des Extremismus.
Es wurde schon gesagt, dass unsere Meinungen kaum nur unsere eigenen sind. Sie werden gebildet als Zusammenschluss verschiedener Informationen, die wir anhand des Intellekts und -falls vorhanden- gesunden Menschenverstandes auf Wahrheit, Plausibilität oder wenigstens Anschein von Wahrscheinlichkeit, ev. mit Zuhilfenahme der Gesetze der Naturwissenschaften und/oder der sogenannten quellen-kritischen Methode der Geschichtswissenschaft überprüft haben. Ein Gespräch darüber kann auch hilfreich sein: wie wird der gleiche Sachverhalt von anderen gedeutet, sieht ihn ein anderer überhaupt? Dann entscheide ich für mich, bilde mir 'meine' Meinung, übernehme sogar die gegebene als meine. Intelligenz = die Fähigkeit, Zusammenhänge zu erkennen ist da sicher notwendiger als anderswo. Jemand, der nicht über die notwendige Intelligenz verfügt, oder auch jemand, der nicht verschiedene Quellen anzapfen kann/will, hat es bedeutend schwerer, sich eine Meinung zu bilden. Sind aber gebildete Menschen bessere Menschen?
Humanistische Bildung galt eine sehr lange Zeit als Garantie dafür, dass man die höheren Stufen des Menschsein erreicht. Die naturwissenschaftlich-technisch orientierte Intelligenz behauptete, die Bildung sollte nur aus unmittelbarem Anwendungswissen bestehen. Die menschveredelnde Wirkung humanistischer Bildung ist tatsächlich kaum gegeben. Weder die Gedichte von Goethe noch die Reden von Cicero haben uns vor dem Rückfall in die Barbarei bewahrt. Die Fähigkeit, vorliegende Probleme technisch zu lösen, scheint aber noch weniger gegeben. Jeder wird also auf die Frage, worin Bildung bestehen könnte, eine eigene Antwort haben, bzw. finden müssen. Natürlich wird man auch von aussen bestimmt, aber die radikale Auswahl trifft man schlussendlich selbst. Auch dann, macht man sich klar, wie wenig man am Ende wissen wird. So kann man auch das Wissen -das Speichern des Wissens- den Büchern und Computern überlassen, und den Kopf für den freieren Umgang mit weniger geistigen Werten zu haben. Diese Chance ist keine Selbstverständlichkeit, es ist ein Privileg. So was wie Freiheit. Die Freiheit unverbindlich zu bleiben, auch die Freiheit des Verzichts auf Lebensfragen-Beantwortung. Ein Recht darauf, sich in einer flüchtigen Welt eine Option offen zu halten.
Viele Menschen stehen unter dem Druck, ständig etwas beweisen zu müssen, sich ins rechte Licht zu setzen - auch durch die gerade opportunen Meinungen oder Moden etc. Das macht Gespräche unangenehm und langweilig. Oft hilft es, das Gespräch nur vom Zwang zur Tiefe zu befreien. Meist sind es nämlich die, die sich stets mit grossen Themen beschäftigen, ohne auch mal Banales zuzulassen, die andere aus der Runde ausschliessen. Wer ausgeschlossen wird, entwickelt Lethargie oder auch Hass - auch sich selbst gegenüber - prädestiniertes Opfer der Populisten oder Extremisten. Es ist Frage der Manieren -nicht mit Benimmregeln zu verwechseln, das Gespräch der Runde auf das schwächste Glied auszurichten. Damit wird Distanz verringert und jeder kann sich - auch in der Gegenwart ihm geistig überlegenen - entsprechend seinem Intellekt entfalten, Informationen sammeln und verwerten. Niemand sonst hat so eine panische Angst, einen Fauxpas zu begehen, wie ein Kleinbürger. Die prätentiösen Aufsteiger lassen ja auch keine Gelegenheit aus, ihm auf die Füsse zu treten, ihm das Gefühl der Minderwertigkeit zu verleihen. Also bleibt er der Spiessertyp, der nach ev. falschen Zielen strebt. Wie soll er der Forderung 'niemals seine Contenance verlieren', nachkommen, wenn ihm entweder aus Angst vor einem Fauxpas oder wegen fehlender Intelligenz, die Antwort in Form eines Bonmots versagt bleibt?
Es kann nie schaden, sich zurückzunehmen, die geistige Überlegenheit nicht auszuspielen - fehlende Manieren und Takt sind vulgär. Es gibt einen schönen Satz, den wir uns -mich absolut nicht ausgenommen!- viel stärker zu Herzen nehmen sollten: 'Don't spread your culture like jam!'
'Kompetenz und Information ist nur schwer zu verbreiten', schrieb Robin zu Beginn. Stimmt unbedingt. Aber machen wir uns -wir Schlauen, wie uns Majanna nennt- nicht mitschuldig, wenn wir dafür sorgen, dass uns nur wieder die Elite -vgl. Robin- versteht, d.h., dass wir untereinander bleiben?
Es ist alles nur Frage der Rhetorik. Wäre an dieser Stelle ein wenig Populismus für einen guten Zweck wirklich so verwerflich? Ohne persönlich werden zu wollen: wenn ein 'einfacher' Mensch unsere Beiträge lesen würde, hätte er nicht ab und zu das Gefühl des Ekels oder Hasses vor und auf die elitäre Klasse? Den Einwand: 'Aber Ihr versteht mich doch!' - kann man hier, glaube ich, nicht gelten lassen. Wollen wir die Mittelmässigen verstehen lernen, müssten wir auch dafür sorgen, dass wir verstanden werden, nicht? Sonst bleibt es immer nur bei akademischen Debatten, beim Setzen von rhetorischen Duftmarken, bei sanfter Verachtung. Auch wenn wir eine Antwort finden, wird sie uns nicht so viel bringen, wenn wir sie für uns behalten.
Es bleiben noch ein paar wenige Fragen am Rande, die ich auch noch gleich beantworten möchte, um mich vor gar nichts zu drücken. Der Beitrag wird ellenlang, tut mir Leid, aber Robin hätte es wissen müssen, dass man mich nicht reizen soll -grins.
War das tatsächlich eine elitäre Entscheidung, keinen Fernseher besitzen zu wollen? -vgl. Robin. Ich sehe es natürlich nicht so, aber von mir aus, bitte. Es gibt dafür Gründe, die ich allgemein ungefähr so zusammenfasse: Ich glaube, es sei nicht möglich, einen Fernseher zu haben, ohne Entfremdung herbeizuführen und will man glücklich werden/bleiben, sollte man versuchen, Überstimulation zu entgehen. Ich möchte Euch aber bitten, mir da dazu keine gutgemeinten Ratschläge zu erteilen. Ich nehme mir an dieser Stelle die Freiheit zu sagen: diese Frage diskutiere ich nicht mehr, bin einfach stur und auch etwas aus Erfahrung klüger geworden.
Lassen sich Intelligenz und das Streben nach Besitz und Aussehen vereinbaren? -vgl. e-a-s Ohne zu zögern und ohne Beigeschmack: Ja. Warum sollte man nich versuchen, gut auszusehen, gut gekleidet zu sein etc. - das Optimum aus sich auch in dieser Beziehung herauszuholen? Ist Intelligenz nur mit Hässlichkeit oder gar Ungepflegtheit erträglich, wünschenswert etc.? Warum sollte man auch auf Besitz verzichten - gibt es dafür Gründe? Die Auswüchse des Komunismus haben gezeigt, dass es kaum gelingt, Besitz gerecht zu verteilen. Die Spezies Künstler, Philosoph etc., die darbt, um kluge Gedanken zu Papier zu bringen, gibt es nicht mehr - abgesehen davon, dass es schon immer vermögende und arme Denker, Maler etc. gab. Es ist zwar nicht zwingend notwendig -und auch Frage des Stils- luxuriös zu sitzen, behaglich warm zu haben und in einer angenehmen Ambiance zu schreiben, aber gerade unangenehm oder abartig ist es auch nicht. Durch Intelligenz verliert man kaum die Freude an schönen, guten, angenehmen oder bequemen Dingen. Sie dann auch besitzen zu wollen, liegt in der Natur der meisten Menschen und scheint mir durchaus normal. Lange Beine und Ehevertrag -vgl. Mara- bedeuten zwar nicht zwingend auch Intelligenz -grins, sind ihr aber auch nicht hinderlich. Aber warum sollte sich ein intelligenter, gut verdienender Mensch kein Segelschiff kaufen dürfen, wenn er Spass am Segeln hat und auch klug genug ist, das Segelpatent zu bestehen? Genauso sind Schönheitschirurgen auch Menschen, mit denen sich ebenso intelligent wie auch amüsant reden lässt, ohne dass sie sich gleich über meine Nase oder Ohren hermachen wollen/dürfen. Ohne mit einem Schönheitschirurgen auf 'Du' zu sein, ohne ein Privatjet oder eine Yacht zu besitzen, möchte ich jetzt etwas provokant fragen: Ist Neid etwa ein weiteres Merkmal des Mittelmasses?
Zu sagen 'Das weiss ich nicht.', ist nicht das Vorrecht eines aus der Menge herausragenden Menschen. Diesen Satz müssen von Zeit zu Zeit - oder eher häufig - alle (auch ein Genie) sagen. Manchmal braucht es aber Mut, es auszusprechen. Der Mittelmässige wird es in der Folge dabei belassen. Der Neugierige, Interessierte wird sich, wenn er es als wichtig ansieht, befassen. Das macht eventuell den Unterschied.
Nur noch eine, mehr oder weniger scherzhafte Frage an Robin: Neigst Du tendenziell eher dazu: 'Oh, mein Glas ist schon halb leer' zu sagen, statt: 'Fein, mein Glas ist noch zur Hälfte voll'?
Den Beitrag möchte ich unter das Motto: 'Denke nicht in Schubladen, schaffe Dir wie ich viele kleine bunte Kartonschächtelchen an. Es ist schicker.' -grins und hoffe, alle sind lustvoll, köstlich und festlich ins neue Jahr geglitten, ohne dabei den Intellekt vergessen zu haben.