Teil 2
Das Telefon klingelt. Giovanna ruft an, atemlos: »Wir freuen uns, endlich eine Bestätigung!« Das Landesversorgungsamt hat sie als Gewaltopfer anerkannt, sie wird Entschädigung bekommen. Frau Sommer rechnet mit einer jahrelangen Therapie, zumal sich etliche der Innenpersonen nach wie vor einer Behandlung verweigern. Andere bedrohen die Therapeutin sogar. »Ziel ist es, alle Innenpersonen miteinander bekannt zu machen, innerhalb des Kreises Akzeptanz füreinander aufzubauen, die Kommunikation zwischen allen zu fördern und eine Absprache über die Organisation des Lebens aud die Aufteilung der Alltagsaufgaben zu erreichen«, sagt Frau Sommer. »Dieses Ziel ist aber noch weit entfernt.« Eine Integration der anderen in die Kernperson hält die Therapeutin für schwierig:als würden die Planeten ihre Umlaufbahn verlassen, um in die Sonne zurückzustürzen. Für Giovanna ist die Fusion unvorstellbar: »Wie soll das gehen ?«, fragt sie erstaunt. »43 von uns müßten umgebracht werden, damit eine überlebt.«
Wir fahren an die Nordsee. »Weißt du, warum wir das Meer so lieben ?«, fragt Giovanna. »Weil es das Selbstloseste, Zärtlichste, Weicheste ist, was uns jemals berührt hat.« Zur Stunde unserer Verabredung ist sie so fremd, daß ich sie kaum erkennen. Irgendwie scheint sie geschrumpft, Ihre Augen glänzen, das Gesicht ist gerötet, der Mund leicht geöffnet. Im Arm einen riesigen Teddy und den Rucksack voller Kuscheltiere, deren Köpfe über ihre Schultern lugen. Sie tappelt auf mich zu, schiebt ihr viel zu kleine, rundliche Hand in meine. »Guck, da, da! Autos, so viele. Tatütata! Guck mal !« Die Leute drehen sich nach uns um. Als ich mich mit dem kleinen Jungen weiter in Kindersprache zu unterhalten versuche, sagt plötzlich eine mir unbekannte Erwachsene: »Was redest du für ein Kauderwelsch ? Bitte sprich doch vernünftig mit uns.« Sie beginnt zu philosophieren: »Es muß einen Sinn haben, daß uns so viel Brutales angetan wurde. Ansonsten wäre unser Überleben sinnlos. Wie denkst du über Fügungen ?» Ich fahre vorsichtig an einer Baustelle vorbei und setze zu einer Antwort an, als es von hinten loskräht:>> Ein Kran, oohh ein Kran ! Guck mal, ein Kran...keine Angst, nein !« Einer der kleinen Jungen ist wieder da und drückt seine Nase am Autofenster platt. Gerade will ich mich auf ihn einlassen, als Giovanna nach vorn kommt: »Weißt du, was Angst für uns heißt ? Daß Joris und Flora sich von uns wenden. Daß wir uns in uns nicht mehr erkennen. Und daß wir Glück nicht mehr aushalten können.« Ein junger, lebhafter Mann mit brüchiger Stimme mischt sich ein: »Glück ? Cola-Trinken ist Glück.« Giovanna, ein wenig genervt: »Verstehst du was das heißt, ständig mit so vielen Leuten zusammen zu sein ?!« Der Tag ist windig und kühl, schon spät im Oktober. Endlich das Meer. Die Gischt geht hoch, kein Mensch im Wasser. Giovanna- ich denke, es ist Giovanna- stürzt sich aus dem Auto. Jauchzend wirft sie sich in die grauschwarzen fluten. »Mach dir keine Sorgen«, ruft sie, »wir erfrieren nicht. Du weißt doch, heiß und kalt ist uns schon lange anhanden gekommen.« Selbst bei Minusgraden geht Giovanna ohne Strümpfe auf die Straße. Ihre Internistin Sibylle Berg traute ihren Augen nicht, als die Patientin bei Schneetreiben fast barfuß vor ihr stand. Im Laufe der Zeit hat sich die Ärztin an vieles gewöhnt. Abhängig davon, welche der Innenpersonen in die Praxis kommt oder sich während der Untersuchung nach vorne drängt, sei die Patientin überempfindlich oder einen Moment später völlig ohne Schmerzempfinden. Von Person zu Person seien auch Werte wie Blutdruck oder Herzfrequenz verschieden. Eine der Personen sei allergisch, eine andere nicht. Jemand hat eine Halsentzündung und erhöhte Temperatur. Als die Ärztin Fieber mißt, hat sie jemand vor sich, der völlig beschwerdefrei ist. Dr. Berg wundert sich nicht mehr, sie hat sich mit MPS vertraut gemacht.>> Wir brauchen dringend eine neue Brille, sagt Giovanna eines Tages. Ich begleite sie zum Optiker. Der Mann macht seine Untersuchungen, notiert die Werte. Das Telefon unterbricht seine Arbeit. Anschließend setzte er seine Messungen fort. Irritiert stellt er die Geräte immer wieder neu ein. Nach einer Weile steht er auf, schüttelt den Kopf und bittet um einen erneuten Besuch; er müsse erst den Techniker holen. Draußen sagt Giovanna:>> Wenn wir wiederkommen, wird es genauso sein. Der Mann kann nicht wissen, daß die Kinder jedes Mal ganz wild darauf sind durch die Linsen zu gucken. Wir haben uns schon damit abgefunden, zeitlebens mit der Lupe zu lesen.<<
Ich sehe sie an. Mir ist, als hätten sich ihre bernsteinbraunen Augen in ein dunkles Blau verwandelt. Die Blauäugige, von der Giovanna erzählt hatte. Kann das sein? Oder will ich es sehen, weil ich an Giovannas Geschichte glaube? »Vielleicht ist es auch nur so etwas banales wie die ganz normale Reaktion der Iris auf verändertes Licht. Giovanna...?«, frage ich unsicher. »Wer weiß«, lacht die Frau mit den blauen Augen und amüsiert sich über meine Verwirtheit. Ich habe gelernt, mich zu revanchieren. Möchte vielleicht jemand mit mir eine Cola trinken ?, frage ich wie nebenher. der glückliche Cola-Freak kommt augenblicklich nach vorn, und die Blauäugige verschwindet in der Versenkung. Später bemerkt Giovanna bleiläufig: »Du bist bald fertig mit deiner Arbeit, nicht wahr ?« Als ich nicke, sagt sie erleichtert : »Dann kehrt endlich wieder Ruhe bei uns ein.«
Die Namen der Hauptperson, der Psychologin und der Ärztin wurden von der Redaktion geändert.
Das System Giovanna. Wie soll man anderen die verwirrende Pluralität des eigenen Innenlebens verdeutlichen ? Diese Papierfiguren anzufertigen war die Idee einer Sozialarbeiterin, die der multiplen Persönlichkeit Giovanna half. Farbe und Größe veranschaulichen jeweils das Geschlecht und Alter der 44 Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen, die alle zum Gruppenportrait Giovanna gehören. Manche sind, wie einst das Gewaltopfer, »eingerollt« oder »weggedreht«. Jede Figur hat eine Aufgabe, jeder gab Giovanna einen-oft poetischen Namen: »Rapunzel« etwa trägt ihre Verzweiflung. »Klinge« taucht auf, wenn Giovanna sich selber Verletzungen zufügt. »Alpha«, »Beta«, »Gamma«, »Delta« bezeichnen ihre Selbstmordversuche. Die »Große« Frau hat ihre Kinder geboren. »Sonnenschein« kann Vertrauen zeigen.
Was meint ihr wohl was passiert wäre wenn sie oder Menschen in ihrer
Nähe intensiveren Kontakt zur kath. Kirche gehabt hätte.
Ich gebe zu das Giovanni ein Extremfall ist, aber es gibt hunderttausende
Menschen die in sich zwei/drei Persölichkeiten in sich haben.
Sind die jetzt alle vom Teufel besessen???
LG
Das Telefon klingelt. Giovanna ruft an, atemlos: »Wir freuen uns, endlich eine Bestätigung!« Das Landesversorgungsamt hat sie als Gewaltopfer anerkannt, sie wird Entschädigung bekommen. Frau Sommer rechnet mit einer jahrelangen Therapie, zumal sich etliche der Innenpersonen nach wie vor einer Behandlung verweigern. Andere bedrohen die Therapeutin sogar. »Ziel ist es, alle Innenpersonen miteinander bekannt zu machen, innerhalb des Kreises Akzeptanz füreinander aufzubauen, die Kommunikation zwischen allen zu fördern und eine Absprache über die Organisation des Lebens aud die Aufteilung der Alltagsaufgaben zu erreichen«, sagt Frau Sommer. »Dieses Ziel ist aber noch weit entfernt.« Eine Integration der anderen in die Kernperson hält die Therapeutin für schwierig:als würden die Planeten ihre Umlaufbahn verlassen, um in die Sonne zurückzustürzen. Für Giovanna ist die Fusion unvorstellbar: »Wie soll das gehen ?«, fragt sie erstaunt. »43 von uns müßten umgebracht werden, damit eine überlebt.«
Wir fahren an die Nordsee. »Weißt du, warum wir das Meer so lieben ?«, fragt Giovanna. »Weil es das Selbstloseste, Zärtlichste, Weicheste ist, was uns jemals berührt hat.« Zur Stunde unserer Verabredung ist sie so fremd, daß ich sie kaum erkennen. Irgendwie scheint sie geschrumpft, Ihre Augen glänzen, das Gesicht ist gerötet, der Mund leicht geöffnet. Im Arm einen riesigen Teddy und den Rucksack voller Kuscheltiere, deren Köpfe über ihre Schultern lugen. Sie tappelt auf mich zu, schiebt ihr viel zu kleine, rundliche Hand in meine. »Guck, da, da! Autos, so viele. Tatütata! Guck mal !« Die Leute drehen sich nach uns um. Als ich mich mit dem kleinen Jungen weiter in Kindersprache zu unterhalten versuche, sagt plötzlich eine mir unbekannte Erwachsene: »Was redest du für ein Kauderwelsch ? Bitte sprich doch vernünftig mit uns.« Sie beginnt zu philosophieren: »Es muß einen Sinn haben, daß uns so viel Brutales angetan wurde. Ansonsten wäre unser Überleben sinnlos. Wie denkst du über Fügungen ?» Ich fahre vorsichtig an einer Baustelle vorbei und setze zu einer Antwort an, als es von hinten loskräht:>> Ein Kran, oohh ein Kran ! Guck mal, ein Kran...keine Angst, nein !« Einer der kleinen Jungen ist wieder da und drückt seine Nase am Autofenster platt. Gerade will ich mich auf ihn einlassen, als Giovanna nach vorn kommt: »Weißt du, was Angst für uns heißt ? Daß Joris und Flora sich von uns wenden. Daß wir uns in uns nicht mehr erkennen. Und daß wir Glück nicht mehr aushalten können.« Ein junger, lebhafter Mann mit brüchiger Stimme mischt sich ein: »Glück ? Cola-Trinken ist Glück.« Giovanna, ein wenig genervt: »Verstehst du was das heißt, ständig mit so vielen Leuten zusammen zu sein ?!« Der Tag ist windig und kühl, schon spät im Oktober. Endlich das Meer. Die Gischt geht hoch, kein Mensch im Wasser. Giovanna- ich denke, es ist Giovanna- stürzt sich aus dem Auto. Jauchzend wirft sie sich in die grauschwarzen fluten. »Mach dir keine Sorgen«, ruft sie, »wir erfrieren nicht. Du weißt doch, heiß und kalt ist uns schon lange anhanden gekommen.« Selbst bei Minusgraden geht Giovanna ohne Strümpfe auf die Straße. Ihre Internistin Sibylle Berg traute ihren Augen nicht, als die Patientin bei Schneetreiben fast barfuß vor ihr stand. Im Laufe der Zeit hat sich die Ärztin an vieles gewöhnt. Abhängig davon, welche der Innenpersonen in die Praxis kommt oder sich während der Untersuchung nach vorne drängt, sei die Patientin überempfindlich oder einen Moment später völlig ohne Schmerzempfinden. Von Person zu Person seien auch Werte wie Blutdruck oder Herzfrequenz verschieden. Eine der Personen sei allergisch, eine andere nicht. Jemand hat eine Halsentzündung und erhöhte Temperatur. Als die Ärztin Fieber mißt, hat sie jemand vor sich, der völlig beschwerdefrei ist. Dr. Berg wundert sich nicht mehr, sie hat sich mit MPS vertraut gemacht.>> Wir brauchen dringend eine neue Brille, sagt Giovanna eines Tages. Ich begleite sie zum Optiker. Der Mann macht seine Untersuchungen, notiert die Werte. Das Telefon unterbricht seine Arbeit. Anschließend setzte er seine Messungen fort. Irritiert stellt er die Geräte immer wieder neu ein. Nach einer Weile steht er auf, schüttelt den Kopf und bittet um einen erneuten Besuch; er müsse erst den Techniker holen. Draußen sagt Giovanna:>> Wenn wir wiederkommen, wird es genauso sein. Der Mann kann nicht wissen, daß die Kinder jedes Mal ganz wild darauf sind durch die Linsen zu gucken. Wir haben uns schon damit abgefunden, zeitlebens mit der Lupe zu lesen.<<
Ich sehe sie an. Mir ist, als hätten sich ihre bernsteinbraunen Augen in ein dunkles Blau verwandelt. Die Blauäugige, von der Giovanna erzählt hatte. Kann das sein? Oder will ich es sehen, weil ich an Giovannas Geschichte glaube? »Vielleicht ist es auch nur so etwas banales wie die ganz normale Reaktion der Iris auf verändertes Licht. Giovanna...?«, frage ich unsicher. »Wer weiß«, lacht die Frau mit den blauen Augen und amüsiert sich über meine Verwirtheit. Ich habe gelernt, mich zu revanchieren. Möchte vielleicht jemand mit mir eine Cola trinken ?, frage ich wie nebenher. der glückliche Cola-Freak kommt augenblicklich nach vorn, und die Blauäugige verschwindet in der Versenkung. Später bemerkt Giovanna bleiläufig: »Du bist bald fertig mit deiner Arbeit, nicht wahr ?« Als ich nicke, sagt sie erleichtert : »Dann kehrt endlich wieder Ruhe bei uns ein.«
Die Namen der Hauptperson, der Psychologin und der Ärztin wurden von der Redaktion geändert.
Das System Giovanna. Wie soll man anderen die verwirrende Pluralität des eigenen Innenlebens verdeutlichen ? Diese Papierfiguren anzufertigen war die Idee einer Sozialarbeiterin, die der multiplen Persönlichkeit Giovanna half. Farbe und Größe veranschaulichen jeweils das Geschlecht und Alter der 44 Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen, die alle zum Gruppenportrait Giovanna gehören. Manche sind, wie einst das Gewaltopfer, »eingerollt« oder »weggedreht«. Jede Figur hat eine Aufgabe, jeder gab Giovanna einen-oft poetischen Namen: »Rapunzel« etwa trägt ihre Verzweiflung. »Klinge« taucht auf, wenn Giovanna sich selber Verletzungen zufügt. »Alpha«, »Beta«, »Gamma«, »Delta« bezeichnen ihre Selbstmordversuche. Die »Große« Frau hat ihre Kinder geboren. »Sonnenschein« kann Vertrauen zeigen.
Was meint ihr wohl was passiert wäre wenn sie oder Menschen in ihrer
Nähe intensiveren Kontakt zur kath. Kirche gehabt hätte.
Ich gebe zu das Giovanni ein Extremfall ist, aber es gibt hunderttausende
Menschen die in sich zwei/drei Persölichkeiten in sich haben.
Sind die jetzt alle vom Teufel besessen???
LG