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Diskursethik

Thorsten

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26. März 2007
Beiträge
1.114
Die "Diskursethik", formuliert von Jürgen Habermas, war in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts zumindest in Deutschland die beherrschende Denkrichtung. So sehr beherrschend, daß es uns gar nicht auffiel, daß wir jede alltägliche Handlung so gestalten, wie sie bei Habermas formuliert wurde.

Ich zitiere im Folgenden aus Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Band I, Seite 37 bis 40:




Zusammenfassend läßt sich sagen, daß normenregulierte Handlungen, expressive Selbstdarstellungen und evaluative Äußerungen konstative Sprechhandlungen zu einer kommunikativen Praxis ergänzen, die vor dem Hintergrund einer Lebenswelt auf die Erzielung, Erhaltung und Erneuerung von Konsens angelegt ist, und zwar eines Konsenses, der auf der intersubjektiven Anerkennung kritisierbarer Geltungsansprüche beruht. Die dieser Praxis innewohnende Rationalität zeigt sich darin, daß sich ein kommunikativ erzieltes Einverständnis letztlich auf Gründe stützen muß. Und die Rationalität derer, die an dieser kommunikativen Praxis teilnehmen, bemißt sich daran, ob sie ihre Äußerungen unter geeigneten Umständen begründen könnten. Die der kommunikativen Alltagspraxis innewohnende Rationalität verweist also auf die Argumentationspraxis als die Berufungsinstanz, die es ermöglicht, kommunikatives Handeln mit anderen Mitteln fortzusetzen, wenn ein Dissens durch Alltagsroutinen nicht mehr aufgefangen werden kann und gleichwohl nicht durch den unvermittelten oder strategischen Einsatz von Gewalt entschieden werden soll. Ich meine deshalb, daß der Begriff der kommunikativen Rationalität, der sich auf einen bisher noch ungeklärten systematischen Zusammenhang universaler Geltungsansprüche bezieht, durch eine Theorie der Argumentation angemessen expliziert werden muß.

Argumentation nennen wir den Typus von Rede, in dem die Teil nehmer strittige Geltungsansprüche thematisieren und versuchen, diese mit Argumenten einzulösen oder zu kritisieren. Ein Argument enthält Gründe, die in systematischer Weise mit dem Geltungsanspruch einer problematischen Äußerung verknüpft sind. Die »Stärke« eines Arguments bemißt sich, in einem gegebenen Kontext, an der Triftigkeit der Gründe; diese zeigt sich u. a. daran, ob ein Argument die Teilnehmer eines Diskurses überzeugen, d. h. zur Annahme des jeweiligen Geltungsanspruchs motivieren kann. Vor diesem Hintergrund können wir die Rationalität eines sprach- und handlungsfähigen Subjekts auch danach beurteilen, wie es sich gegebenenfalls als Argumentationsteilnehmer verhält. (…)

In der philosophischen Ethik gilt es keineswegs als ausgemacht, daß die mit Handlungsnormen verknüpften Geltungsansprüche, auf die sich Gebote oder Sollsätze stützen, in Analogie zu Wahrheitsansprüchen diskursiv eingelöst werden können. Aber im Alltag würde sich niemand auf moralische Argumentationen einlassen, der nicht intuitiv von der starken Voraussetzung ausginge, daß im Kreise der Betroffenen grundsätzlich ein begründeter Konsens erzielt werden kann. Das ergibt sich, wie ich meine, konzeptuell notwendig aus dem Sinn normativer Geltungsansprüche. Handlungsnormen treten für ihren Geltungsbereich mit dem Anspruch auf, im Hinblick auf eine jeweils regelungsbedürftige Materie ein allen Betroffenen gemeinsames Interesse auszudrücken und darum allgemeine Anerkennung zu verdienen; deshalb müssen gültige Normen unter Bedingungen, die alle Motive außer dem der kooperativen Wahrheitssuche neutralisieren, grundsätzlich auch rational motivierte Zustimmung aller Betroffenen finden können. Auf dieses intuitive Wissen stützen wir uns immer dann wenn wir moralisch argumentieren; in diesen Präsuppositionen wurzelt der »moral point of view«. Das muß noch nicht bedeuten, daß diese Laienintuition auch tatsächlich rekonstruktiv gerechtfertigt werden kann; allerdings neige ich selbst in dieser ethischen Grundfrage zu einer kognitivistischen Position, derzufolge praktische Fragen grundsätzlich argumentativ entschieden werden können. Aussichtsreich ist diese Position gewiß nur zu verteidigen, wenn wir praktische Diskurse, die durch einen internen Bezug zu interpretierten Bedürfnissen der jeweils Betroffenen charakterisiert sind, nicht vorschnell an theoretische Diskurse mit ihrem Bezug zu interpretierten Erfahrungen eines Beobachters assimilieren.






und ich bin mir sicher, daß niemand von uns den konkreten Handlungsanweisungen widersprechen wird, die Habermas hier formuliert.

Aber:

So wie Habermas im letzten Absatz den Vorrang der Theorie, den Horkheimer/Adorno noch behaupteten, an Lieschen Müller verrät, stellt er seine "Theorie des kommunikativen Handelns" auf den ohnehin vorhandenen "Common Sense" um, der nicht mehr als banale Alltagsweisheit bedeutet.
 
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AW: Diskursethik

Hallo Thorsten, danke für das Thema :) . Der Abschnitt von Habermas ist ja zunächst eine Beschreibung von Diskussionen auch im Zusammenhang mit dem Leben. Er blickt quasi über den Tellerrand des wissenschaftlichen Gesprächs. Eine ethische Forderung geht daraus indirekt hervor, nämlich indem er beschreibt, welche Argumentationen rational sind. Eine Kommunikation muss, meiner Meinung nach, Rationalität enthalten, weil dieses etwas Objektives ist. Auch Gefühlsbeschreibungen sind auf rationale Weise z.B. mit entsprechenden Ereignissen verknüpft. „Ich bin traurig weil…“. Ein anderes Gebot konnte ich bei ihm nicht entdecken (ansonsten musst du mich aufklären).
Insofern stellt der letzte Absatz auch keine reine Umstellung auf den Common Sense dar, sondern ordnet die Rationalität eher in den alltäglichen Sprachgebrauch ein: etwas Rationalität steckt in jedem Satz, schon allein dadurch, dass Worte Symbole darstellen, die erstmal logisch bzw. rational zugeordnet werden müssen. Natürlich steckt in jedem Satz auch Gefühl, doch das ist im Gegensatz zur Ratio eher subjektiv während Ratio eher objektiv ist.

Viele Grüße
J.
 
AW: Diskursethik

Ist Dir aufgefallen, jing6, daß Habermas die Begriffe "subjektiv" und "objektiv" zur Erklärung von Sachverhalten der Kommunikation überhaupt nicht benützt, außer wenn er nicht anders kann:
Habermas schrieb:
... Konsens, der auf der intersubjektiven Anerkennung kritisierbarer Geltungsansprüche beruht.
Und genau hier widerspricht er dem Geltungsanspruch seiner Theorie, die als Allgemeingültige sich behaupten möchte: plötzlich findet "Anerkennung" zwischen Subjekten statt, wo sonst allenfalls von Individuen die Rede ist, ohne daß diese Begriffe je geklärt würden.

Das fällt mir spontan zu Deinen Worten ein.

Meines Erachtens formuliert Habermas nichts als "ich bin traurig, weil...", ohne die drei Pünktchen hinter dem "weil" mit Inhalt zu füllen; seinem Ziehvater Adorno zufolge würde Philosophie bei diesen drei Pünktchen überhaupt erst beginnen. Vielleicht wollte der Text auch nichts wissen von den Gründen von Traurigkeit; so aber wird der ganze Habermassche "Rationalitäts"-Begriff kommunikativen Handelns sinnlos: unglaubwürdig, weil auf halluzinatorischen Vorstellungen von bloß "rational" sich verhaltenden Menschen beharrend.

Verstehst Du?
Thorsten
 
AW: Diskursethik

Hallo Thorsten, Individuen sind, wenn nicht anders definiert einfach Einzelpersonen und Intersubjektiv bedeutet dann „zwischen Einzelpersonen“. Man muss doch auch als Philosoph nicht jedes Wort aus dem allgemeinen, hochdeutschen Sprachgebrauch definieren.

„Ich bin traurig, weil…“ habe ich der Einfachheit halber so gelassen, ohne die Punkte auszufüllen. Ich wollte halt ausdrücken, dass man sie beliebig ergänzen kann. Nimm doch einfach „Ich bin traurig, weil ich nicht so viel Geld habe, wie mein Nachbar.“

Viele Grüße
J.
 
AW: Diskursethik

und ich bin mir sicher, daß niemand von uns den konkreten Handlungsanweisungen widersprechen wird, die Habermas hier formuliert.

Wer mit gesundem Menschenverstand wird sagen, dass Bild-Schlagzeilen - auch Teil des Diskurses - auf Konsens aus sind? Wer, dass es bei "Sabine Christiansen" darum geht, durch Argumente die Anderen zu überzeugen? Wer, dass es Teilnehmern wie z.B. Claus (oder auch: Robin) um kommunikative Rationalität geht?

Teilhabe, nicht Konsens ist die Motivation für Individuen für Kommunikation.

So hat es auch Habermas' großer Gegenspieler Luhmann gesehen.

Konsens ist nur eine Seite der Form Konsens/Dissens - nur eine Möglichkeit, der Teilhabe an Kommunikation Sinn zu verleihen. Dass dabei jeder auch irgendwie geliebt werden will - geschenkt...

Aber vielleicht ist dies der tiefere Sinn, die uns Thorsten durch seine Aufspaltung in Gaius/Thorsten vermitteln will? Er will diese Differenz Dissenz/Konsens "verkörpern". Und würde dann logischerweise Gaius formulieren lassen:

Wir lügen, provozieren, spalten, kämpfen - nur um an Kommunikation teilhaben zu können.
Und wer - mit gesundem Menschenverstand - wollte dem widersprechen?
 
AW: Diskursethik

Novalis - Monolog

"Es ist eigentlich um das Sprechen und Schreiben eine närrische Sache; das rechte Gespräch ist ein bloßes Wortspiel. Der lächerliche Irrtum ist nur zu bewundern, daß die Leute meinen -sie sprächen um der Dinge willen. Gerade das Eigenthümliche der Sprache, daß sie sich bloß um sich selbst bekümmert, weiß keiner. Darum ist sie ein so wunderbares und fruchtbares Geheimnis, -daß wenn einer bloß spricht, um zu sprechen, er gerade die herrlichsten, originellsten Wahrheiten ausspricht. Will er aber von etwas Bestimmten sprechen, so läßt ihn die launige Sprache das lächerlichste und verkehrteste Zeug sagen...

Der Rest davon...
 
AW: Diskursethik

Wer mit gesundem Menschenverstand wird sagen, dass Bild-Schlagzeilen - auch Teil des Diskurses - auf Konsens aus sind?
Die Bildzeitung führt bestimmt keinen Diskurs mehr. Trotzdem sind sie aber auf einen Konsens aus. Das Problematische bei diesem Blatt ist, dass dieser beinahe aus den Augen verloren wurde und in den halbbewussten Ecken der einfachen Redakteure herumdümpelt. Den führenden Redakteuren ist der völlig egal.

Wir lügen, provozieren, spalten, kämpfen - nur um an Kommunikation teilhaben zu können.
Und wer - mit gesundem Menschenverstand - wollte dem widersprechen?
Auch das wäre mit Habermas vereinbar (zumindest mit dem, was ich in diesem Thread gelesen habe). Neben unseren Gefühlen brauchen wir doch unsere Rationalität, um diese Gefühle kommunikativ einzusetzen.

Auch wenn in dem Abschnitt verschwiegen wird, dass es so etwas wie einen Dissens gibt, so braucht man immer noch Rationalität, um den anderen an den Stellen packen zu können, auf die man sich schon geeinigt hat bzw. die der Diskussionspartner schon zu erkennen gegeben hat.

Naja, ich hoffe meine Ausführungen sind richtig, sowenig wie ich über Habermas weis.

Freundliche Grüße
J.
 
AW: Diskursethik

Robin,

Du kannst mehr, als philosophische Hinterzimmerwitzchen rund um das Wort "Konsens" zu reißen, und ein einziges wahres Wort gegen Habermas von Dir hätte mir so gut gefallen.

Was soll ich Trockenknochen denn dazu sagen:

Robin schrieb:
Teilhabe, nicht Konsens ist die Motivation für Individuen für Kommunikation.
Demokratie bedeutet, für seine Waghalsigkeiten Mitwerker zu finden, gequatscht wird sowieso.

Wer konsentiert ist tot.

Oder was.

"Tanzen Gehen" von egotronic würde jetzt passen, Du erinnerst Dich? Mein Repertoire ist auch begrenzt, darum wiederhole ich:

irgendwo zwischen

Robin schrieb:
Aber vielleicht ist dies der tiefere Sinn, die uns Thorsten durch seine Aufspaltung in Gaius/Thorsten vermitteln will? Er will diese Differenz Dissenz/Konsens "verkörpern". Und würde dann logischerweise Gaius formulieren lassen:

Wir lügen, provozieren, spalten, kämpfen - nur um an Kommunikation teilhaben zu können.
Und wer - mit gesundem Menschenverstand - wollte dem widersprechen?
Nee, nee, Robin, ich bin viel einfacher gestrickt.

Grüße mit Musik (klar gucke ich komisch!)
Thorsten
 
AW: Diskursethik

Vielleicht, aber auch nur vielleicht, würde dazu das kleine Gedicht von Robert Gernhardt passen, dass ich gerade für Kathi "rezitiert" habe (so absolut unphilosophisch...na ja, das hätte ich gar nicht zu sagen gebraucht *looool*).

Gruss
C.
 
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AW: Diskursethik

Céline, laß uns mal tanzen gehen. Tango kann ich vielleicht nicht; aber bei Madonna und Robbie Williams kann ich Dich aus der Schwerkraft herauswirbeln, daß Du bis ans Ende Deiner Tage schwärmen wirst.

Was, das willst Du gar nicht? Pffft! Dann geh doch mit dem nächstbesten drittklassigen Spießer vulgo Frauenversteher aufs Parkett!
 
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