Corsario
New Member
- Registriert
- 6. Dezember 2007
- Beiträge
- 248

Natürlich sagten sie nein. "Wachsen lassen" war die Losung. Die 68er sind aus der Mode gekommen, es gehört vielmehr zum guten Ton, über sie herzuziehen. Aber ihre Themen beherrschen noch immer die Diskussion. Wenn vielleicht auch nicht mehr in den Hochschulen, so doch immer noch… imAlltag! Welche Eltern wären nicht hin- und her gerissen? Und gerieten mit Nachbarn und Verwandten nicht immer wieder in Wortgefechte!
Die Diskussion ist so mühselig und verwirrend, weil ‚erziehen’ ein Wort von bunt schillernder Bedeutung ist. Kein Wunder. Es ist ein Wort der Alltagssprache, dessen ursprünglicher Sinn etwas mit dem Züchten der Pflanzen zu tun hatte: Noch Bertolt Brecht schrieb eine Stalin-Ode unterm Titel "Erziehung der Hirse".
Seit der Zeit der Aufklärung, das heißt seit der Ausbildung bürgerlicher Verhältnisse, hat dann das Wort seine heutige umgangssprachliche Vieldeutigkeit erhalten. Für die alltägliche Verständigung ist eine solche Bedeutungsvielfalt der Wörter kaum ein Mangel, sondern sogar ein Vorteil. Wie es jeweils gemeint ist, geht stets aus dem Zusammenhang hervor, in dem sie ausgesprochen werden - dem Satz, dem Gesprächsverlauf usw. Und im Gespräch wird nicht jedes Wort auf die Goldwaage gelegt - das wäre kleinlich und gehört sich nicht.
Anders wird es, wenn man das Wort schreibt. Das ist dann nicht mehr ganz alltäglich. Man muss ja eine bestimmte Absicht haben, wenn man schreibt. Man muss also etwas Besonderes aussagen wollen, nichts nur Ungefähres.
Da zeigt sich nun, dass unser ERZIEHEN nicht bloß in der Umgangssprache zuhause ist, sondern auch in den oberen Etagen des sprachlichen Ausdrucks - in der Wissenschaft. Doch siehe da, hier ist seine Bedeutung nicht ein bisschen weniger schillernd als im alltäglichen Gespräch! Nun kann sich der Wissenschaftler aber nicht darauf verlassen, dass der Sinn seines persönlichen Wortgebrauchs schon irgendwie „aus dem Zusammenhang hervorgeht“. Die Kritiker lauern, er darf sich keine Blöße geben, und also muss er - definieren.
Wissenschaftliche Definitionen von ERZIEHEN gibt es ebenso viele wie Autoren. Das liegt daran, dass man zwar das Wort in den Adelsstand der wissenschaftlichen Diskurse erheben kann; dessen ungeachtet bleibt doch immer die Sache, die gemeint ist, eine gutbürgerliche Angelegenheit unseres - Alltags. Der prosaische Umstand nämlich, dass der Mensch, wenn er heranwächst, hinterher nicht mehr ganz derselbe ist wie vorher.
Das Erwachsen eines jugendlichen Exemplars von Homo sapiens zu dem, was wir emphatisch einen MENSCHEN nennen, ist nämlich - anders als bei unsern tierischen Verwandten - nicht einfach eine ‚Entfaltung’ von ererbten ‚Anlagen’. Denn der Mensch hat, außer und über seiner ersten, biologischen Natur noch eine zweite, historische, eine selbst gemachte Natur: er ist nicht nur Naturgewächs, sondern Kulturgeschöpf.
Das Hineinwachsen in das Wertesystem seiner gesellschaftlichen Umwelt nennt man eben landläufig seine „Erziehung“. Der Mensch ‚wächst’ nicht einfach, sondern er ‚er’-wächst der Kultur. Und da Träger und Reproduzenten dieser Kultur derselben bereits ‚erwachsen’ sind, ist es nicht falsch zu sagen, dass Kinder von Erwachsenen ERZOGEN werden. Johann Gottfried Herders Kernspruch, dass jeder Mensch nur durch Erziehung zum Menschen wird, war die Grundlage der humanistischen Bildung der letzten zwei Jahrhunderte.
Müssen wir also erziehen wollen?
Man kann nicht nicht-erziehen
Tasten wir uns also ohne Zorn und Eifer an die Sache heran. Was immer der eine oder andere unter ERZIEHEN verstehen mag - über eines wird es wohl keinen Streit geben: „Erziehen“ ist auf jeden Fall eine Form von „zwischenmenschlichem Verhalten“. Und was immer „zwischenmenschliches Verhalten“ sonst auch noch sein mag: Es ist stets (auch) ‚Kommunikation’.
Kommunikation ist ihrem Wesen nach keine Einbahnstraße, sondern grundsätzlich und immer Wechselwirkung. Subjekt X sendet eine Botschaft an Subjekt Y. Y empfängt sie und wird in seinem Zustand verändert: in-formiert. Die Art und Weise, wie Y die Information aufnimmt, ist ihrerseits eine Botschaft an X: eine Information über eine Information. Denn selbst, wenn Y auf die Botschaft von X „überhaupt nicht reagiert“, ist das noch eine Stellungnahme. Und als solche verändert, in-formiert sie wiederum die Zuständlichkeit von X. Und so weiter und so fort.
Daher der Elementarsatz der Kommunikationstheorie: Man kann nicht nicht-kommunizieren.
Ob es bezweckt wird oder nicht: Kommunikation ist auf jeden Fall ‚Einflussnahme’. Wer niemanden beeinflussen wollte, dürfte mit niemandem kommunizieren. Aber das kann er nicht.
Besteht nun zwischen X und Y eine Art Kompetenzgefälle, mag man die Einflussnahme durch den hier Überlegenen „Erziehung“ nennen. Ein solches Gefälle ist zwischen Erwachsenen und Kindern grundsätzlich gegeben - und sei es nur in Gestalt des gesellschaftlichen Rangunterschieds. Daher gilt der Satz: Man kann nicht nicht-erziehen.
Wir befinden uns hier an dem einen Ende der umgangssprachlichen Bedeutungsskala von ERZIEHEN.
Die Wissenschaft kann (auf diesem Felde) auch nichts anderes tun, als die Alltagsbedeutung des Worts auf ihre Weise auszudrücken: „Erziehen meint hier nichts anderes als den alltäglichen Umgang.“*
Wenn einer in diesem Sinne des Wortes sagen würde: ich erziehe, dann spricht er eine bloße Faktizität aus wie etwa: ich habe Schwerkraft. Und wollte einer sagen: ich will nicht erziehen, dann ist das kaum sinnvoller, als sagte er: ich will nichts wiegen. Allenfalls könnte er noch sagen: ich will weniger wiegen (und das wollen viele), oder auch: so will ich nicht erziehen...
Ganz anders sieht es aber aus, wenn einer sagt: Ich WILL erziehen. Damit begibt er sich nämlich aufs andere Ende der Bedeutungsskala unseres Wörtleins.
Man kann nicht erziehen
Hier ist kein unvermeidliches Alltagsgeschehen gemeint, das sowieso stattfindet und „ganz von allein“ - egal, ob man es will oder nicht. Sage ich: ich will, dann formuliere ich ein Ziel. Hier ist das andere Ende der Bedeutungsskala: Erziehen heißt jetzt, aus einem Menschen etwas anderes machen als er ist.
Beginnen wir bei der wissenschaftlichen Formulierung dieses Gedankens: „Erziehen = Von einem Menschen s1 auf einen Menschen s2 gerichtetes absichtsvolles und geplantes Zuführen von Impulsen mit dem Ziel, daß s2 diese Impulse als Reize oder Informationen so verarbeitet, daß s2 Verhaltensbereitschaften bewahrt oder erwirbt oder so verändert, daß s2 (in einer festgelegten Zeit) Verhalten realisiert, das den Soll-Zuständen von s1 entspricht.“ So stand es in einem pädagogischen Lehrbuch der achtziger Jahre. Befreien wir diesen Satz von seiner unfreiwilligen Komik und übersetzen wir ihn in simpleres Deutsch, dann hört er sich etwa so an: X wirkt auf Y ein, um Y aus einem unerwünschten Zustand a in einen erwünschten Zustand a' zu versetzen.
Wohlverstanden: Wenn damit gemeint wäre, dass X die Auffassung vertritt, ein jeder müsse sich seine Schnürsenkel selber zubinden können, und daran Anstoß nimmt, dass Y das eben nicht kann, und auf ihn einwirkt, daß er es nun lernt - dann wird wohl keiner was dagegen sagen wollen. X wird sich also einen Plan zurechtlegen, wie er Y in absehbarer Zeit dahin bringt, wo er ihn haben will. Er wird das ganze Programm in einzelne, auf einander aufbauende Lernschritte zerlegen – „operationalisieren“ - und immer dicht am Ziel bleiben.
Allerdings würde der Volksmund hier schwerlich von ERZIEHEN reden. Er würde sagen: Herr Lehmann bringt seinem Jungen bei, wie man sich die Schuhe zubindet. Und die Wissenschaft würde sekundieren: Der Junge lernt.
Wenn man im emphatischen Sinn von ERZIEHEN redet, von einem Erziehen, das man WOLLEN kann, dann ist nicht dieses oder jenes Beibringen gemeint, sondern ‚der ganze Mensch’. Gemeint ist das, was Herder sagen wollte: dass der Mensch nur durch Erziehung zum Menschen werde.
Hier geht es nicht mehr um bestimmte, definier- bzw. abgrenzbare Lernziele, sondern um ein ‚System von Werten’. Um das, was man landläufig ein „Menschenbild“ nennt. Die Vorstellung, man könne einen Menschen planmäßig nach einem gegebenen Bild „formen“, ist nun aber - je nach Reflexionsebene - auf dreifache Weise falsch: In diesem emphatischen Sinn kann man nicht ‚erziehen’.
Erste Ebene: So bunt und vielgestaltig die Menschenbilder, die sich auf dem pädagogischen Markte tummeln, auch scheinen mögen - wenn man mal von den semantischen Feinheiten absieht, bezeichnen die Menschenbilder, die in unserm jüdisch-christlichen Kulturkreis entworfen werden können, im Grund alle dasselbe; nicht einmal - und schon gar nicht - Margot Honeckers „sozialistische Persönlichkeit“ macht da eine Ausnahme: sie ist vielmehr eine besonders spießige Variante von ein und demselben. (Selbst Nietzsches Übermensch bestätigt als Kontrastprogramm noch die Regel.)
Das bedeutet nur dies: Was hier beschrieben wird, sind gar keine Eigenschaften, Fertigkeiten oder Verhaltensweisen, die man fest umreißen und dingfest machen könnte, sondern eben - Werte. Das sind gar keine ‚Stellen’, im Raum oder in der Zeit, die man irgendwann man ‚erreicht’ haben könnte, sondern bloße Gebote, die ständig zu befolgen; Maßstäbe, die immer anzulegen sein werden. Kurz, es geht hier gar nicht um ‚Verhalten’, das man einüben, abrufen und überprüfen könnte, sondern um Haltungen zum Leben und Einstellungen zur Welt. Man kann sie nicht in Stücke zerlegen und - Schritt für Schritt – „lehren“. Denn Moral besteht ja nicht darin, stets das Richtige zu tun (das kann der Lakai auch), sondern darin, selber das Richtige zu wollen. Und das Selber-Wollen lehren wollen ist eine Absurdität; bzw. der Urtyp dessen, was die Kommunikationstheorie eine Beziehungsfalle nennt: Es kann nicht klappen. „Du sollst wollen“ ist ein Widersinn. Und Werte lassen sich nicht vermitteln; sie gelten unvermittelt ganz und gar - oder eben nicht. Man kann sie höchstens bezeugen.
Zweite Ebene: Selbst wenn man Werte in Teilchen zerlegen und portionsweise weiterreichen könnte - sie beträfen dann immer noch den ‚ganzen Menschen’, und nicht einzelne Verhaltensweisen. Kann man den ‚ganzen Menschen’ nun aber gezielt beeinflussen? Nein. Denn nur im Labor des Verhaltensforschers ‚reagieren’ die Menschen auf ‚Reize’. Im wirklichen Leben orientieren sie sich in Situationen. Die Situation ist stets komplex. Sie ist, in der Sprache der Physik ausgedrückt, ein ‚Feld’, in dem sich mannigfaltige ‚Kraftlinien’ schneiden, die von unbestimmbar vielen ‚Energiequellen’ ausgehen. Der Erzieher ist immer nur eine von diesen Energiequellen. Die andern kann er nicht einmal zählen, geschweige denn „beherrschen“. Er kann, wenn er gut Acht gibt, genau bestimmen, welche Informationen er aussendet. Darauf, was aus der Information geworden sein wird, wenn sie beim Adressaten ankommt, hat er schon kaum noch Einfluss: Er kann es nicht einmal wissen, sondern höchstens erraten aus der Rückmeldung, die er erhält.
Nur in der Theorie ist Kommunikation eine Wechselwirkung zwischen nur-Zweien. Im Leben ist sie immer ein wechselseitiger mannigfaltiger Prozess zwischen Vielen. Das bringt eine Unwägbarkeit in die menschlichen Verhältnisse, die für die Illusion einer zielgerichteten Einflussnahme wenig Platz lässt. Der Erzieher kann immer wieder nur probieren - und sich gegebenenfalls trösten, dass er getan hat, was er tun konnte.
Ein grundsätzliches Hindernis finden wir auf einer dritten Ebene. Es ist der Umstand, dass die Menschen im wirklichen Leben nicht auf einzelne Signale ‚reagieren’, sondern sich in Situationen - orientieren. Sie ‚verhalten’ sich nicht kausal, sondern handeln final: Sie suchen einen Weg, der sie durch die Situationen führt. Die Situation ist nicht einfach Anlass, sondern immer auch Aufgabe. Allgemein gesprochen: Nicht die Realität „wirkt“ auf den und durch den menschlichen Organismus, sondern - die Vorstellung, die er sich von ihr macht. Was er die Wirklichkeit nennt, ist immer nur ein Bild. Das Bild „stimmt“, wenn es erlaubt, sich in seiner Welt zurecht zu finden - in die Richtung, die er selber wählen mus. Wahn und Wirklichkeit unterscheiden sich nur als jenes Bild, auf das sich die vielen Lebenstüchtigen untereinander verständigt haben, und die Bilder, die sich die wenigen Irrläufer jeweils ganz für sich alleine machen. (Alles Neue erscheint darum immer als Irrung.)
Also der Grund unseres Handelns sind nicht die Anlässe, sondern unsere Vorstellungen. Die Vorstellung ist aber - man erlaube mir das starke Wort - das Reich der Freiheit par excellence, und scheidet uns von den Graugänsen. Man kann den ‚ganzen Menschen’ darum nicht zielgerichtet beeinflussen, weil man schlechterdings keine Macht über seine Vorstellung hat. Die produktive Einbildungskraft ist, psychologisch gesprochen, der irreduzible Kern der Ichheit. Man kann sie unter Umständen zerstören, aber abrichten kann man sie nicht.
Wenn also erziehen in dem beiläufigen Sinne von „man kann nicht nicht-erziehen“ so gut wie gar nichts sagt und wenn erziehen in dem emphatischen Sinn von ‚den ganzen Menschen formen’ eine Unmöglichkeit ist - warum klammern sich dann so viele an das Wort?
Ganz einfach. Die erwerbsmäßigen Kinderkümmerer brauchen es, um ihr monatliches Gehalt zu rechtfertigen, und der Steuerzahler ist's zufrieden.
*) Fischer-Lexikon Pädagogik
