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Der Koran - ein Interview mit dem syrischen Koranexegeten Muhammad Shahrour

Walter

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Der Koran - ein Interview mit dem syrischen Koranexegeten Muhammad Shahrour

Alphabet der Freiheit
Mona Sarkis 01.02.2005

Der Koran als Quelle eigener Entscheidungsfindung und Basis von Zivilrechtlichkeit - ein Gespräch mit dem syrischen Koranexegeten Muhammad Shahrour
Als "very slippery ground" definierte der ägyptische Islamforscher Nasr Hamid Abu Zaid den Koran. Sein syrischer Kollege Muhammad Shahrour schließt sich da grundsätzlich an - schließt aber aus, dass das gesamte Buch möglicherweise nur Diskurs sei. Vielmehr verortet er die größte Ausrutschgefahr in der mangelnden Grenzziehung zwischen absoluter und menschlicher Autorität (Gottes Wort vs. dessen Interpretation). Unter dieser Prämisse müsse sich jede Generation mit der Offenbarung direkt auseinandersetzen, statt traditionell Beleuchtetes stur weiterzureichen. Ins Kreuzfeuer seiner Kritik gerät dabei vor allem die Scharia.

Sie betonen, dass die Demokratie in den arabischen Ländern mit einer religiösen Reform steht und fällt. Warum?

Muhammad Shahrour: Weil Religion hier die normative Kraft ist. Und weil Demokratie mit Wahlfreiheit zu tun hat, der Islam aber in seiner traditionellen Lesart eben diese Freiheit unterdrückt.

Mona Sarkis: Inwiefern?

Muhammad Shahrour: Freiheit bedeutet für Muslime, gegen die Sklaverei zu sein - weder gekauft noch verkauft werden zu können. Mehr nicht. Dass sie auch das Moment der Wahl, etwa zwischen Glaube und Nichtglaube, Gehorsam oder Ungehorsam impliziert, schließt unsere Geschichte seit Jahrhunderten rigoros aus. Unsere Kultur fußt auf der Unterdrückung der Werte von Freiheit und Leben. Statt dessen werden wir gelehrt, wie wir sterben sollen. Wenn ich aber mein Leben liebe, bin ich ein schlechter Muslim und mache mich schuldig.

Diese Vorstellung wuchs ja nicht auf Bin Ladens Mist, aber er, die Hamas, Al-Jihad etc. machen sie sich ebenso zunutze wie unsere Regime, die genau wissen, dass sie von diesen gefangenen Gesellschaften keine Gegenwehr befürchten müssen. Beispiel Mubarak: Wenn nichts von außen kommt, wird er bis an sein Lebensende regieren und dann von seinem Sohn gefolgt - schließlich ist Ägypten nicht die Ukraine. Daher insistieren unsere Diktatoren darauf, dass Reformen "nur von innen heraus" erfolgen dürfen. Sie wissen genau, dass es nie dazu kommt. Praktisch, nicht?



Mona Sarkis: Demnach begrüßen Sie den derzeitigen Eingriff von außen in den Irak?

Muhammad Shahrour: Ich bin mir sicher, dass die Amerikaner ein neues System im Irak einführen, das in zehn, fünfzehn Jahren aus dem Land ein zweites Südkorea machen könnte. Jedenfalls ging es ihnen nie nur um das Öl, denn das hätte ihnen Saddam auch so gegeben. Wenn sie also eine Umstrukturierung à la Südkorea oder Japan planen, dann sind sie willkommen, denn hier herrscht die pure Stagnation.

Mona Sarkis: Das ist zumindest eine andere Sichtweise als die gängige. Aber es impliziert doch, dass Sie nicht wirklich an die Durchsetzungskraft einer religiösen Reform glauben?

Muhammad Shahrour: Mit meiner Lesart des Korans versuche ich den Menschen den Wert der Freiheit zu vermitteln - und ich habe sehr viele Anhänger. Die meisten sitzen interessanterweise im islamistischsten aller arabischen Staaten, in Saudi-Arabien.

Mona Sarkis: Dann lassen Sie uns im Detail auf Ihre Freiheitstheorie eingehen. Worauf gründet sie?

Muhammad Shahrour: Auf der "Theorie der Grenzen". Meines Erachtens setzt uns Gott im Koran unsere Grenzen. Beispielsweise ist laut Koran-Vers 5:38 die höchste Strafe für Diebstahl das Abhacken der Hand. Es ist die oberste Grenze der Strafe, aber nicht die Strafe an sich. Ebenso gut kann der Delinquent zu ehrenamtlicher Arbeit verurteilt werden. Alles, was zwischen diesen beiden Grenzen liegt, ist zulässig und eine Frage der Gesetzesentwürfe, über die im Parlament abzustimmen ist.

Mona Sarkis: Von hier aus spannen Sie den Bogen zur Demokratie?

Muhammad Shahrour: Ja, sobald die Idee der Wahlfreiheit verinnerlicht ist, folgt alles andere von selbst. Nach dem göttlichen Gesetz sind in meiner Lesart die Befürworter der Todesstrafe ebenso im Recht wie ihre Gegner. Welche Rechtsprechung letztlich angewandt wird, ist Sache des demokratisch gewählten Parlaments, nicht irgendwelcher Fatwas. Die Idee der Zivilgesellschaft ist dem Koran zutiefst inhärent.

Mona Sarkis: Das klingt im Prinzip sehr simpel. Aber gibt der Koran wirklich auf jede Frage dieses Antwortspektrum? Und zwar in eindeutiger Weise?

Muhammad Shahrour: Nein, viele Verse sind in der Tat mehrdeutig. Aber vergessen Sie nicht, dass es sich nicht um eine rigide Gebrauchsanweisung fürs Leben, sondern um Gottes Offenbarung - und damit Weisheit handelt. Er öffnet damit das Tor zu eigenverantwortlicher Meinungsfindung, zum Ijtihad. Eine Anstrengung, die jede Generation neu unternehmen muss. Meines Erachtens können wir heute den Koran besser deuten als zur Zeit des Propheten bzw. der Beduinen, weil wir mit einem anderen Erkenntnisstand operieren. Stellen, die beispielsweise vom Kosmos sprechen, werden Jahrhunderte nach Kopernikus und Galilei anders gelesen als Jahrhunderte zuvor.

Mona Sarkis: Sie spielen auf die Zeit der Beduinen an: Der Hijab, das islamische Kopftuch, ist ein traditionelles Kleidungsstück der Beduinen. Welchen gesetzlich zulässigen Spielraum ermöglicht der Koran in Ihrer Lesart der Frau?

Muhammad Shahrour: Die oberste Grenze liegt bei der Verhüllung des gesamten Körpers, Gesicht und Hände ausgenommen. Die unterste bei der Unterwäsche. Somit ist alles, was sich zwischen einer Totalverschleierung inklusive des Gesichts und der Hände einerseits und dem nackten Herumspazieren auf der Straße andererseits bewegt, zulässig. Also sind 99% der Frauen weltweit korrekt gekleidet.

Mona Sarkis: Aber nicht die Frauen, die die Burka tragen oder totalverschleiert sind wie in Saudi-Arabien? Wenn das nicht buchstäblich unorthodox ist. Andererseits belegen die unterschiedlichen Rechtsgutachten darüber, ob frau Gesicht und Hände zeigen darf oder nicht, ja den Interpretationsspielraum des Koran. Ausgangspunkt Ihrer Theorie ist dabei die Unterscheidung zwischen Gottes Wort - als Absolutem - und seiner menschlichen Interpretation. Aber wo hört das eine auf und fängt das andere an?

Muhammad Shahrour: Meines Erachtens gibt es zwei fundamentale Kategorien: Sein und Werden. Erstes ist göttlich und absolut, zweites menschlich und relativ. Ich habe mich diesbezüglich sehr von Hegel und dem Briten Whitehead inspirieren lassen und ihrer Begrifflichkeit vom Werden und Prozesshaften. Das Sein ist für mich Gottes Wort, das er Mohammed in der Offenbarung zuteil werden ließ und das im Koran niedergeschrieben ist. Die Interpretation des Textes hingegen ist ein beständiges Werden. Ich unterscheide auch sehr deutlich zwischen dem Gesandten und dem Propheten Mohammed. In dem Moment, da er Gottes Wort erfuhr, war er kein Prophet, sondern der Übermittler des Absoluten. Aber als Prophet war er ein Mensch aus Fleisch und Blut, verankert in seiner damaligen Kultur und ihrem Erkenntnisstand. Was Mohammad in seiner Funktion als Prophet tat und sprach - und was uns in der Sunna, als zweitwichtigster Quelle für islamische Prinzipien überliefert ist - ist für mich daher nicht absolut, weil nicht ewiggültig.

Mona Sarkis: Damit sägen Sie kräftig an den Grundpfeilern des traditionellen islamischen Diskurses.

Muhammad Shahrour: Sie sagen es: Diskurs. Nur Gottes Wort ist absolut, alles andere ist geschichtlich und stets mit den Mitteln von Verstand und Erkenntnis neu zu lesen. Ich weigere mich, dem Menschlichen absolutistische Weihen zu verleihen. Das gilt auch für Mohammed, außerhalb seiner Funktion als Gesandter.

Mona Sarkis: Wenn Sie die Sunna nicht als sakrale Normsetzung anerkennen, kommen Sie automatisch in Reibung mit der islamischen Jurisprudenz, dem Fiqh.

Muhammad Shahrour: Das Fiqh wurde von Muhammad al-Schaffii zur Zeit der Gewaltherrschaft der Abbasiden begründet. Seine Grundlage waren die Hadithe, die die Sunna überliefern und die damals gleichfalls fixiert wurden. Statt die Hadithe zu hinterfragen, erklärte al-Schafii sie zum A und O sämtlicher Rechtsfragen. Er erhob so eine schon zu seinen Lebzeiten lang vergangene Epoche - Mohammed war damals über 150 Jahre tot -, zu einem Part des Sakralen.

Mona Sarkis: ...vermischte also "Sein" und "Werden"?

Muhammad Shahrour: Ja, zudem schloss er die freie Entscheidungsfindung aus, weil er sämtliche Fragen durch die Analogien zu Mohammeds Leben beantwortete. Besonders fatal schließlich war, dass er das Verbotene, haram, in den Vordergrund der Religion rückte. Dieser Geist wurde vor über 1200 Jahren in einer reaktionären Epoche begründet und ist bis heute ungebrochen. 1200 Jahre Angst, Schuld, Verbote. Da wundert nicht, dass den Arabern bei der Einführung des Internets als erste Frage einfiel: "Ist das haram?!"

Mona Sarkis: Gemäß Ihrem Diskurs befolgen die Muslime also seit Jahrhunderten nicht nur Gottes Wort, sondern vor allem das anderer Menschen?

Muhammad Shahrour: An jeder Straßenecke gibt es einen Mullah oder Scheich, der Schuldgefühle verbreitet. Die religiösen TV-Kanäle trichtern den Menschen täglich ein, dass sie Sklaven Gottes sind. Gottes Wort und somit das absolute Gesetz aber lautet: Du bist frei zu wählen. Aus dem Kampf dafür besteht der Jihad, der echte. Ob man Muslim ist, oder nicht.

Mona Sarkis: Angst ist immer ein gutes Mittel für den Machterhalt.

Muhammad Shahrour: Das ist der Punkt: Seit den Abbasiden waren die islamischen Religionsgelehrten die Diener der politischen Autorität, ganz im Gegensatz zum Christentum, in dem der Papst die Könige ernannte. Hier berufen bis heute die Staatspräsidenten die Mullahs, die wiederum ihre Fatwas nach politischem Gutdünken erlassen. Das beste Beispiel dafür ist der Überfall Saddams auf den Kuwait, 1990. Aus Saudi-Arabien folgte prompt eine Fatwa, die die USA zu Hilfe rief, während zeitgleich Baghdad eine Fatwa losließ, die die Richtigkeit der Invasion untermauerte. Diese Rechtsprechung im Namen Gottes ist eine Farce zugunsten politischer Machtkalküle.

Mona Sarkis: Es werden aber auch seitens der Mullahs immer mehr Stimmen gegen wahllos verhängte Fatwas laut.

Muhammad Shahrour: Die Menschen werden des Bluts und der Gewalt müde. Beispiel Palästina: Es war absehbar, dass die Mehrheit für Abbas und nicht für die Hamas stimmen wird. Die Menschen sehen ja auch, wie politisch naiv die Fundamentalisten vorgehen. Etwa die Taliban, über deren Untergang sich ausnahmslos alle freuten. Aber solange sich in islamischen Köpfen nicht endlich die Idee der Freiheit etabliert, werden sie weiter kompensieren. Diese Unterjochung muss sich notgedrungen in Selbst- und Fremdhass entladen. Daher gibt es nach wie vor zahlreiche Predigten, die Christen und Juden verteufeln.

Mona Sarkis: Behaupten die Islamisten deshalb, dass der Islam universal sei?

Muhammad Shahrour: Das alles ist Gerede, sie müssen einfach kompensieren. Allerdings wird der Islam in dem Moment tatsächlich universal, da man die ihm innewohnende Wahlfreiheit - innerhalb göttlich vorgegebener Grenzen - zulässt. Denn dann wird er menschlich. Eine Religion, die die Verachtung für das eigene Leben institutionalisieren und daraus ihre Überlebensfähigkeit beziehen will, ist die reinste Perversion. Aber der Islam ist nicht so. Wenn Sie so wollen, helfe ich den Fundamentalisten, ihre Theorie zu untermauern und entziehe ihnen damit ihr Fundament.

Dr. Muhammad Shahrour, geb. 1938. Nach dem Ingenieursstudium in Moskau und der Promotion an der Universität Dublin lehrte er bis 2000 Bauwesen an der Universität Damaskus. Seit 1967, dem Jahr der vernichtenden Niederlage im arabisch-israelischen Krieg, befasst sich der Theologie-Außenseiter mit der Koranexegese. Geprägt von naturwissenschaftlicher Methodik und beeinflusst von philosophischer Dialektik veröffentlichte er 1990 seine Analyse "Das Buch und der Koran - eine zeitgenössische Interpretation", die innerhalb von drei Monaten in Damaskus ausverkauft war und in Saudi-Arabien verboten wurde. Genau von dort erfährt Shahrours Internet-Forum aber starke Resonanz.

Quelle: Telepolis, http://www.heise.de/tp/r4/artikel/19/19313/1.html
 
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Sehr interessant, das Interview mit Muhammad Shahrour. Eine Spagatspreizug zwischen seiner religiösen Erziehung und dem Wunsch, in der Wirklichkeit zu stehen. Den Menschen die Macht zu geben. Er unterscheidet Mohammed einerseits als "Gesandten" und andrerseits als "Propheten". Der "Gesandte" sei göttlich, der Prophet nur ein Mensch, dessen Sprüche man nicht so ernst nehmen braucht... Welche Worte sagte er denn als "Gesandter"? Würde mich interessieren...
Wenn die muslimischen Gläubigen einer solchen Unterscheidung folgten, hieße das, 5/6 des Korans für null und nichtig zu erklären, und das wäre mehr als eine religiöse Reformation.
Gott (Allah) vermittelte durch den Koran "Ober- und Untergrenzen", sagt Shahrour. Damit ist auch nach ihm das Töten von Ungläubigen im Kampf um den Glauben also möglich und göttlich erlaubt! Nichts anderes ist heute Realität: Die meisten Muslime halten sich aus dem Kampf raus, aber der eine oder andere lässt sich eben doch finden, das Gotteswort - gemäß seiner Interpretation - durchzusetzen! Ich würde folgenden Vorschlag machen: Schmeißt nicht nur 5/6 des Korans in den Müll. Es darf 1/6 mehr sein...

Gysi
 
Gisbert Zalich schrieb:
Eine Spagatspreizug zwischen seiner religiösen Erziehung und dem Wunsch, in der Wirklichkeit zu stehen.

Mit dieser Schwierigkeit kämpfen doch viele Gläubige (mein ich jetzt keineswegs hämisch).

Ich wundere mich aber, dass Du nur das Negative in seinen Aussagen siehst. Was sagst Du denn zu

Frage: Gemäß Ihrem Diskurs befolgen die Muslime also seit Jahrhunderten nicht nur Gottes Wort, sondern vor allem das anderer Menschen?

Antwort: An jeder Straßenecke gibt es einen Mullah oder Scheich, der Schuldgefühle verbreitet.
 
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Ich sehe die Bemühungen des Muhammad Shahrour, den Islam zu humanisieren. Er lässt nicht von der Idee los, das Mohammed der "Gesandte" Allahs sei, der Koran also ein Gottesbuch. Das nur ein bisschen geschält werden muss... So kriegt er auch die Mullahs nicht los, die dir an jeder Straßenecke ein schlechtes Gewissen eintrichtern. Ich sehe seine Bemühungen auch als eine Bemühung um die HUMANISIERUNG der muslimisch geprägten Gesellschaften. Aber dazu muss er - nach meiner Meinung - den Schnitt zwischen Religion uns Gesellschaft tiefer setzen. Es gibt NICHTS, was an Mohammed göttlich ist, es gibt nichts von ihm Gesagtes und Aufgeschriebenes, was für eine Gesellschaft nützlich ist, in denen alle Menschen mit gleichen Freiheitsrechten ausgestattet sind.

Gysi
 
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