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Artikel "Wie viel Türkei verträgt die EU?" von Valéry Giscard d'Estaing

Walter

Administrator
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3. Oktober 2002
Beiträge
5.013
Wie viel Türkei verträgt die EU?
von Valéry Giscard d'Estaing

Quelle:
http://derstandard.at/?id=1880341

Eine Vollmitgliedschaft würde die Türkei zum wichtigsten Entscheidungsträger der EU erheben und damit die Natur des ohnehin fragilen Integrationsprojekts gravierend verändern. Ein Plädoyer für eine "Rückkehr zur Vernunft".

* * *

Die mehrfachen EU-Erweiterungen in der jüngsten Vergangenheit haben die Gemüter zunehmend verwirrt. Wohin führt diese Flucht nach vorn eines noch unorganisierten, wenig effizienten Europa, dem die Bevölkerung die demokratische Untermauerung versagt?

Die Europäer brauchen eine starke eigene Identität. Einen "europäischen Patriotismus" wird es aber erst dann geben, wenn die europäischen Bürger sich bewusst werden, dass sie einem selben Ganzen angehören. Der Europäische Konvent hat versucht, das Fundament dieses Ganzen näher zu bestimmen: der kulturelle Reichtum des antiken Griechenland und des Alten Rom, das religiöse Erbe, das das Leben in Europa geprägt hat, der schöpferische Elan der Renaissance, die Philosophie des "Siècle des Lumières", die Errungenschaften des rationellen und wissenschaftlichen Denkens.

Die Türkei hat keine dieser Aufbauphasen mit uns geteilt. Dies festzustellen heißt nicht darüber zu urteilen! Die Türkei hat während dieser Zeit ihre eigene Geschichte und ihre eigene Kultur gehabt,‑ die Anerkennung verdienen. Doch muss objektiv festgehalten werden, dass die identitätsbildenden, für den EU-Zusammenhalt unentbehrlichen Fundamente eben andere sind. Der Beitritt der Türkei, zu welchem Zeitpunkt auch immer, würde die Natur des europäischen Projektes völlig verändern.

Zunächst muss man sich darüber klar sein, dass dieser Beitritt kein Einzelfall bleiben könnte. Schon bildet sich in Ost und West eine Warteschleife. Die Möglichkeit eines Beitritts zur EU war ein zentrales Thema im ukrainischen Wahlkampf. Und auch Marokko wird wahrscheinlich bald versuchen, den von der Türkei geöffneten Weg zu beschreiten. Dies würde zu einem ständigen Erweiterungsprozess führen, der das Funktionieren des Systems beeinträchtigt und ihm seine ursprüngliche Rationalität rauben würde.

Zum zweiten muss berücksichtigt werden, dass die Einwohnerzahl ein wesentliches Element ist für die Arbeit der EU-Institutionen: Im Parlament ist die Zahl der Abgeordneten derzeit auf 750 begrenzt, wobei vorgesehen ist, eine Verteilung zwischen den Staaten im Verhältnis zu ihrer Einwohnerzahl vorzunehmen, mit einer Korrektur zugunsten der kleinsten Länder und einer Höchstzahl von 96 Mitgliedern pro Staat. Bei ihrem Beitritt würde die Türkei etwas mehr als 15 Prozent der Unionsbevölkerung stellen und hätte somit 96 Mitglieder – genauso viele wie Deutschland. Um Platz für die neuen Abgeordneten zu schaffen, müsste die Zahl der anderen Volksvertreter, insbesondere der britischen, französischen und italienischen, schrumpfen.

Hinsichtlich des Ministerrates sieht die Verfassung bei Abstimmungen die doppelte Mehrheit vor: Bevor ein Beschluss verabschiedet wird, müssen ihm 55 % der Staaten zustimmen, die 65 % der Bevölkerung darstellen. Die Türkei mit ihrem 15-Prozent-Bevölkerungsanteil wird somit zu einem zentralen Pfeiler für die Beschlussfassung. Erinnern wir uns nur an die leidenschaftliche Ablehnung Spaniens und Polens in Sachen Abstimmung mit doppelter Mehrheit, die doch nur eine geringfügige Benachteiligung für sie bedeutete. Der türkische Beitritt würde das Bild um 15 Punkte verändern! Um nicht in eine Situation zu geraten, in der das zuletzt beigetretene und somit in EU-Belangen unerfahrenste Land zum wichtigsten Entscheidungsträger erhoben wird, müsste man die Verfassung neu schreiben und eine Höchstgrenze für die Berücksichtigung der Bevölkerung der einzelnen Mitgliedstaaten festsetzen: Wie hoch aber wären wohl die Chancen, eine neue Formulierung zu finden, die alle befriedigen würde?

All das hat weder mit Ablehnung noch mit Missachtung der Türkei zu tun. Im Gegenteil. Gerade weil dieses Land durch seine Flächengröße und seine demografische Entwicklung zu einer großen Nation geworden ist, stellt es Europa vor ein "Problem der Dimensionen". Die Türkei stellt heute, und erst recht morgen, ein solches Gewicht dar, dass sie das gemeinschaftliche Bauwerk, das noch anfällig und für andere Zwecke bestimmt ist, aus dem Gleichgewicht bringen würde. Verfassungen sind keine Allerweltsformulare, bei denen es genügt, den Namen des zuletzt Beigetretenen hinzuzufügen. Alle Verfassungen beruhen auf sorgfältigster Ausarbeitung und sind das Ergebnis von Kompromissen. Tatsache ist: Die europäische Verfassung, die nun ratifiziert werden soll, ist einfach nicht dazu geeignet, eine Macht in der Größe der Türkei aufzunehmen.

Was am meisten überrascht, wenn man sich dieser Angelegenheit näher widmet, ist die Art und Weise, in der die meisten europäischen Politiker sich in eine argumentative Sackgasse manövrieren ließen: Entweder man bejaht die Eröffnung von Verhandlungen, die in eine Aufnahme der Türkei in die EU münden, oder man schlägt ihr die Tür vor der Nase zu. Wie konnte es zu dieser Ideenarmut, zu so einer extremen Vereinfachung kommen? Anderswo versteht man es besser, mit diesen Fragen umzugehen: Die USA, Kanada und Mexiko haben unter sich ebenso viele, wenn nicht noch mehr Gemeinsamkeiten als Europa mit der Türkei. Niemand aber denkt daran, sie zusammenzuschließen. Sie haben mit viel Geduld eine Freihandelszone aufgebaut und praktizieren die bilaterale Zusammenarbeit.

Europa muss wieder Kreativität und Fantasie in die Definition seiner Beziehungen zu den Nachbarstaaten bringen – zur Türkei selbstverständlich, aber auch zu Russland und zu den Mittelmeer-Anrainerstaaten. Wenn die einzig denkbare Lösung entweder der Beitritt zur Union oder das Zerwürfnis mit seinen Partnern sein sollte, wäre die EU dazu verdammt, zu einer regionalen Sektion der Vereinten Nationen abzugleiten, die in der globalen Entwicklung nur mehr eine Randstellung einnehmen würde. Die Verhandlungen mit der Türkei sollten sich deshalb nicht auf den Beitritt konzentrieren, sondern die Art der Beziehungen untersuchen, die die EU mit seinen großen Nachbarn anknüpfen sollte. Versuchen wir, konkret an die Sache heranzugehen: Wirtschaftlich gesehen ist alles möglich, nur muss man schrittweise vorgehen; politisch gesehen können nur Kooperationen ins Auge gefasst werden.

icht zufällig hat der europäische Konvent die Aufnahme des Artikels 57 in die Verfassung vorgeschlagen hat, der es der EU ermöglicht, privilegierte Partnerschaftsverträge mit ihren Nachbarn auszuhandeln. Dieser Text ist das Ergebnis einer eingehenden Überlegung über die Art und Weise, in der die EU die legitimen Anträge ihrer Nachbarn im Osten, im Südosten und im Süden beantworten kann, ohne ihre eigene Natur aufs Spiel zu setzen.

Daraus folgt die eindeutige Schlussfolgerung: Im Dezember sollte der Europäische Rat die Eröffnung von Verhandlungen beschließen, mit dem Ziel, die Grundlage zu schaffen für eine privilegierte Partnerschaft zwischen der Türkei und der EU.

Dies erscheint mir als realistische und konstruktive Haltung, die den Erwartungen der Türken Rechnung trägt, ohne das anfällige Bauwerk der EU, das die institutionellen und haushaltstechnischen Konsequenzen der letzten Erweiterung noch nicht überwunden hat, zu gefährden.
 
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zur Haltung von Valéry Giscard d'Estaing

zu den Eu-Beitritts-Ambitionen der Türkei:

Ich gehe vollkommen mit ihr d'accord: Verhandlungen mit der Perspektive einer privilegierten Partnerschaft. Einige Politiker müssten halt manns (fraus) genug sein, früher der Türkei gemachte Hoffnungen auf einen EU-Beitritt als Irrtum einzugestehen.

Besonders die Hoffnungen von Marokko auf die EU finde ich ganz illusorisch; da müsste man den Staatenbund ja außerdem noch umbenennen.

Allen Ländern, die geografisch zur Gänze zu Europa gehören (bis zum Ural), dürfte natürlich die Option EU nicht verweigert werden.

Womit für mich das Thema Türkei-Beitritt zur EU abgehandelt ist; ich werde jetzt auch in dem von mir eröffneten thread dieses Themas nicht mehr posten.

Viele Grüße

Zeili
 
Valéry Giscard d'Estaing schrieb:
Daraus folgt die eindeutige Schlussfolgerung: Im Dezember sollte der Europäische Rat die Eröffnung von Verhandlungen beschließen, mit dem Ziel, die Grundlage zu schaffen für eine privilegierte Partnerschaft zwischen der Türkei und der EU.


Erinnert mich an Django Asül.

"Privilegierte Partnerschaft klingt wie Homoehe. Na. Sagst Du einem Türken, er ist schwul?!"

Ich halte von so 'ner Wischiwaschi-Lösung nix. Derzeit ist die Türkei kein diskutabler EU-Partner - es wären keine Weichei-Lösungsversuche notwendig, wenn's anders wäre.

LG, wirrlicht
 
Es ist mir völlig unverständlich, warum man den heutigen Status der Türkei überhaupt ändern soll. Es besteht bereits weitgehende Zollfreiheit und das Land ist in der NATO. Darüber hinaus besteht zwar wohl für die Türkei, aber nicht für die EU ein Bedarf an weiterer Annäherung. Die Türken sind keine Europäer in ihrere historischen Entwicklung und fühlen sich auch nicht als solche. Worum es geht, ist mitbestimmen und mitkassieren, ohne in der Lage zu sein, eine entsprechende Gegenleistung zu bringen.
Jedwede Erweiterung, egal für welches Land, kann nicht vor Ablauf vor 20 Jahren erfolgen. Es ist jetzt erste Aufgabe der EU, sich selbst weiter zu festigen und zu integrieren. Gerade die Osterweiterung muss verdaut werden. Wir haben es noch nicht einmal zu einem EURO in allen Ländern geschafft.
Kein vernünftiger Mensch macht den dritten Schritt vor dem ersten, das sollte auch für die Politik gelten.
Der Türkeibeitritt ist politisches Abenteuerertum. So geht man nicht mit der Zukunft Europas um, sie ist kein Rouletttisch.
 
Zeilinger schrieb:
Oh pardon, da hielt ich ja glatt Valérie für einen weiblichen Vornamen !
:autsch:
Zeilinger

Valérie/Valeria wäre auch ein weiblicher Vorname...
Wenn das jetzt kein Witz sein sollte, hier die früheren (und der amtierende) franz. Präsidenten. Es könnte ja sein, dass die Frage in "Wer wird Millionär" für 50 € gestellt wird ;)


Charles de Gaulle
Georges Pompidou
Valéry Giscard d'Estaing
François Mitterrand

Jacques Chirac

:maus:


Privilegierte Partnerschaft ist zwar kein schöner Ausdruck, aber warum nicht? Die Schweiz ist auch ein Partner. Wäre für die Türkei denkbar, zumal sie eher zu Vorderasien gehört. Nur die Hinhaltetaktik ist einfach unmöglich!
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:
Céline schrieb:
Valérie/Valeria wäre auch ein weiblicher Vorname...
Wenn das jetzt kein Witz sein sollte, hier die früheren (und der amtierende) franz. Präsidenten. Es könnte ja sein, dass die Frage in "Wer wird Millionär" für 50 € gestellt wird ;)


Charles de Gaulle
Georges Pompidou
Valéry Giscard d'Estaing
François Mitterrand

Jacques Chirac
Es war nicht als Witz gemeint, ich wusste auch, dass es einen (männlichen) französischen Präsidenten namens Giscard d'Estaing (in Amt und Würden) gab, ich wusste aber nichts vom Vornamen Valéry (den ich auch das zweite Mal falsch schrieb).
Aber sooo abwegig, dass es auch eine weibliche Verwandte von d'Estaing gibt, die sich eine Meinung über den Türkeibeitritt erlaubt, gar so abwegig ist diese Theorie auch nicht.

Nur die Hinhaltetaktik ist einfach unmöglich!
Da sind wir haarscharf einer Meinung.

Es grüßt

Zeili(nger)
 
Zeilinger schrieb:
Aber sooo abwegig, dass es auch eine weibliche Verwandte von d'Estaing gibt, die sich eine Meinung über den Türkeibeitritt erlaubt, gar so abwegig ist diese Theorie auch nicht.
QUOTE]

*lol* Nein, ist sie in der Tat nicht. Es wird bestimmt weibliche Verwandtschaft des Ex-Präsidenten geben, die sich eine Meinung erlaubt (wie in jeder Familie), vielleicht sogar seine Tochter, Mme Valérie-Anne Fixot. Er scheint mir aber dafür doch am prädestiniertesten, sass er jahrelang im Europäischen Parlament und präsidierte auch den Europäischen Konvent, der die Verfassung vorbereitete.
 
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