mwirthgen
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Liebe Mitdenker,
hier eine lesenswerte Rezension des Buches Pascal Boyer: Und Mensch schuf Gott, die den Unterhaltungswert derartiger wissenschaftlicher Literatur lobt. Mehr aber auch nicht!
Mich hat diese Rezension so erheitert, dass ich sie hier für andere zum Schmunzeln einstelle.
diepresse.com
23.12.2004 - Kultur&Medien / Literatur
Wo Gott wohnt
Von Adolf Holl
Religion als Singular existiert nur im Klub der toten Denker, so Pascal Boyer, Experte für Religionen und Neurobiologie, in einem neuen Anlauf, die alte Religion zu erklären: "Und Mensch schuf Gott".
Immer dann, wenn eine religionswissenschaftliche Neuerschei nung den ersten Platz auf meiner persönlichen Bestenliste ergattern möchte, muss ich an "A Theory of Religion" von Rodney Stark und William Sims Bainbridge aus dem Jahr 1987 (Peter Lang Publishing Group, New York) denken. Die Arbeit bietet neben sieben Axiomen 104
Definitionen und 344 Propositionen. Das macht zusammen 455 Begriffsbestimmungen, was eigentlich für die nächsten 50 Jahre reichen sollte.
Weit gefehlt. Pascal Boyer, Autor des neuesten Anlaufs, die alte Religion neu zu erklären, nimmt Stark und Bainbridge nicht mehr zur Kenntnis. So rasch veralten die Religionstheorien auf dem Jahrmarkt der akademischen Gottlosigkeit. Auf dem Markt muss laut geschrien werden. Boyer sei, so der Klappentext, der "weltweit führende
Experte für Religionen, Kognition und Neurobiologie". Offenbar soll der Autor als Wunderkind dargestellt werden. Er hat nach der obligaten Praxis als Anthropologe in Afrika schnell begriffen, dass ohne Hirnforschung gegenwärtig nichts läuft, wenn Karriere gemacht werden soll. Das Buch Boyers kann als Frontberichterstattung von der vordersten Kampfzone der Wissenschaften gelesen werden. Der Feind heißt, je nach Geschmack, Natur oder Gott.
Am witzigsten ist Boyer, zumindest für Insider, wenn er die verlorenen Schlachten im Krieg gegen die Religion rapportiert. Dann klappern die Skelette der gefallenen Helden mit den klingenden Namen aus der Arabistik, der Sumeriologie oder Volkskunde, mitsamt ihren scharfsinnigen Beweisführungen über den Ursprung der Religion aus dem Aberglauben, der Furcht vor dem Tod, dem Selbstbetrug, den Scheinheiligkeiten der Priester.
Angenehm wirkt, dass der gebürtige Franzose Boyer flüssig, knapp und verständlich schreibt, nach der trockenen angelsächsischen Art, sparsam beim Nennen von Referenzen aus dem erlauchten Kreis der international renommierten Fachkräfte. In den Lektüreempfehlungen wird auf den Gräzisten Walter Burkert verwiesen, auf den Archäologen Steven Mithen, den Sozial-Anthropologen Ernest Gellner, den Historiker Marc Bloch - durchwegs beste Adressen. Warum Peter L. Berger (Soziologie) und Daniel L. Schacter (Psychologie) fehlen, bleibt ein Geheimnis. Auch Wunderkinder kochen gelegentlich mit Wasser.
Boyers Kernthese lautet: Die Religion als Abstraktsingular existiert lediglich im Klub der toten Denker. Um diesen nicht mehr ganz taufrischen Befund zum Glänzen zu bringen, taucht unser Autor ganz tief ins lautlose Gewitter der hundert Milliarden Neuronen in unserem Hirnkasten, die unter anderem mit der Erfindung Gottes beschäftigt sind, rund um die Uhr, besonders an Sonn- und Feiertagen.
Wie sie das machen, ist Gegenstand eines Projekts, das Boyer in einem Aufsatz von 1994 "Mapping the mind" nannte - die Kartografie der Geistestätigkeit. Bildgebende Verfahren, etwa die Positronen-Emissions-Tomografie (PET), gestatten seit ein paar Jahren die direkte Beobachtung der Hirntätigkeit und reduzieren so die vielen weißen Flecken auf den neurowissenschaftlichen Landkarten. Fertig sind sie noch lange nicht. Trotzdem gibt es viel zu erzählen.
Zum Beispiel von den "Experimenten", wie sie in der Welt Boyers üblich sind. Im Gegensatz zu handfesten Wissenschaften wie Physik und Chemie, die an Teilchenbeschleunigern oder mit Mondgestein arbeiten, müssen sich Ethnologen, Soziologen und Psychologen wie Meinungsforscher benehmen, die ihren Versuchspersonen merkwürdige Fragen stellen, etwa "Wie ist Gott?". Boyer nennt das "experimentelle Theologie". Das einschlägige Standardverfahren, in den empirischen Sozialwissenschaften längst Routine, bringt die Menschenkundler dazu, Behauptungssätze ("Es gibt einen Gott") zu formulieren und ausgewählte Probanden zu bitten, sie vorbehaltlos zu bejahen oder zu verneinen beziehungsweise unentschieden zu bleiben. Die Antworten können dann gezählt und damit quantifiziert werden.
Wie dünn das Eis ist, auf dem sich die
gelehrsame Mühewaltung dabei bewegt, habe ich bereits vor 40 Jahren gelernt, am "Institut für Höhere Studien und Wissenschaftliche Forschung" in Wien. Meine damaligen Arbeiten "experimentelle Theologie" zu nennen ist mir damals nicht eingefallen. Boyer dagegen kam auf die Idee, seinen Probanden Geschichten zu erzählen, in denen die Alltagserfahrung auf prinzipielle Weise gestört wird, und hernach zu prüfen, wie gut solche Störungen erinnert werden. Die Probanden fand er unter Dorfbewohnern im afrikanischen Gabun und unter tibetischen Mönchen in Nepal. Es stellte sich heraus, dass durchwegs jene Inhalte am dauerhaftesten im Gedächtnis blieben, die dem gesunden Menschenverstand eklatant widersprechen, und zwar im Bereich der abstrakten Allgemeinbegriffe wie Mensch, Tier, Werkzeug, Zahl. Die
Geschichte von einer Jungfrau, die ohne männlichen Samen ein Baby bekommt, gehört in diese Kategorie.
Religiöse Geschichten, so Boyer, transportieren "kontraintuitive" Inhalte und erweisen sich dabei, unter bestimmten Bedingungen, als ultrastabil und höchst erfolgreich, wie der Blick auf die weltweit tätigen christlichen Kirchen und muslimischen Formationen zeigt.
Warum? Um hier weiterzukommen, ohne gleich in die Klischees der Freidenker aus Kaisers Zeiten zu geraten, erzählt Boyer seine nächste Geschichte, nämlich die der neuesten Hirnforschung. Auf den 50 Seiten, die er dafür benötigt, stehen eine Menge interessanter Details über die Bedeutung des Tratsches, das Benehmen von Kleinkindern und Autisten, über Ekelempfindungen und Gruppenmentalität - didaktisch bestens aufbereitet, mit Gespür für den Aufbau einer Vorlesung in St. Louis, Missouri, wo Boyer unterrichtet.
Auffällig oft kommen Vokabel vor, wie sie im Umgang mit Computern selbstverständlich sind ("System", "Datenverarbeitung", "speichern"), und immer wieder wird betont, wie kompliziert die Maschine funktioniert, die Gehirn genannt wird. Seelisch labile Leser laufen eventuell Gefahr, sich bei fortschreitender Lektüre des Buchs von Boyer zunehmend als Biomaschinen zu erleben beziehungsweise ihre Mitmenschen dafür zu halten, wie in einem Film mit Arnold Schwarzenegger in der Hauptrolle. Religionswissenschaftlich abgebrühte Leser wie ich werden eher dazu neigen, die Geschichten Pascal Boyers wie Science-Fiction zu genießen. Unterhaltsam sind sie durchaus.
Das gilt auch für den Hauptteil der Abhandlung Boyers, die Kapitel vier bis neun, in denen Kinderfragen wie "Warum geht es in der Religion um den Tod" gestellt und beantwortet werden. Fürwahr keine leichte Aufgabe. Um ihr gerecht zu werden, erzählt Boyer seine dritte Geschichte, jenen Epos der Menschwerdung, welche einen Zeitraum von rund sieben Millionen Jahren benötigte.
Die gängige Wissenschaftsprosa leiert diese sieben Millionen wie das Lied eines Bänkelsängers herunter, wie ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht, wie den Bericht einer Schlacht aus den Napoleonischen Kriegen. Und dann geschah dies, passierte jenes, ereignete sich, trat ein. Und dann. Zwischen zwei Begebenheiten der menschlichen Evolution liegen gelegentlich zwei oder drei Millionen Jahre, nach dem jeweiligen Stand der Paläobiologie, die ganz locker übersprungen werden. Immer wieder wird ein versteinerter Kieferknochen aus dem afrikanischen Sand geholt, und die Zunft steht Kopf.
Zu erfahren ist immerhin, dass Kunsthandwerk und Religion während der letzten Eiszeit aufkamen, also vor 50.000 Jahren, und zwar in Europa. "Was wir Religion nennen", schreibt Boyer, "entstand vermutlich zusammen mit dem menschlichen Geist in seiner heutigen Gestalt, ausgelöst durch eine plötzliche Veränderung in der geistigen Tätigkeit." Boyer nennt den Gebrauch des roten Ockers, die ersten Höhlenmalereien und komplizierte Bestattungsrituale als Hinweise für eine "Explosion des Symbolischen" zur Zeit der Neandertaler.
Seither sind wir religiös, um es kurz zu machen, das heißt, wir können gar nicht anders, als Gott zu denken, wegen der Struktur unseres Gehirns. Mit dieser unerwarteten Pointe entlässt Boyer seine Gemeinde in den grauen Alltag. Wir Menschen haben uns damit abzufinden, als komplizierte lebendige Maschinen herumzulaufen und uns darüber zu wundern, wie wir es fertig gebracht haben, "einem unwirklichen Nichts Wohnstatt und Namen zu geben". Gemeint ist selbstverständlich der liebe Gott. So Boyer. Der Verdacht, bei dem Mann könnte es sich um einen Combot (Computer plus Roboter) handeln, ist mir während der Suche nach dem Lebenslauf Boyers im Internet gekommen.
Trotz der rund 60.000 Eintragungen keinerlei Hinweis auf ein Geburtsdatum. Combots haben keine Mutter. Sie sind so perfekt gebaut, dass sie von ihrer Umgebung für Menschen gehalten werden. So könnte es auch im Fall Boyer sein. Zurzeit ist er unter dem Telefonanschluss 001-314-935-6596 erreichbar, hebt allerdings selten ab. Er verfügt über mächtige Freunde, unter anderem kennt er den Direktor des renommierten Centre National de Recherche Scientifique in Paris, Dan Sperber. Sperber weiß allerdings auch nicht genau, wie alt Boyer ist.
Lassen wir es dabei. Um mich von Boyer zu erholen, las ich "Montedidio" von Erri De Luca in der deutschen Übersetzung, die mir ein befreundeter Neurologe in Zürich schenkte. In dem Roman kommt ein liebenswerter buckliger Jude vor, der als Schuster in Neapel gelandet ist. Er sagt, "dass Gott durch unsere Beharrlichkeit gezwungen ist zu existieren, durch die Gebete bildet sich sein Ohr, durch unsere Tränen können seine Augen sehen, durch Fröhlichkeit erscheint sein Lächeln".
Das erinnert ein wenig an Boyer, aber eben nur ein wenig. Der Unterschied zwischen der Prosa Boyers und der Prosa De Lucas lässt an den Unterschied zwischen künstlicher und natürlicher Intelligenz denken. Nach der Lektüre des Romans von De Luca mag sich das Gefühl einstellen, ein besserer Mensch geworden zu sein. Montedidio, ein Stadtviertel Neapels, heißt auf Deutsch Gottesberg. Dort sind Engel und Geister so selbstverständlich wie eine gute Pizza: Engel können fliegen, Geister nicht. Auch in dem Buch von Boyer kommen Geister vor, aber sie wirken wie geschnitzte Masken im Völkerkundemuseum.
De Luca entlässt seine Gemeinde mit einem Blick auf die Flügel im Buckel des alten Schuster Raffaniello, der von Gott bisher nicht sonderlich verwöhnt worden ist. In der Neujahrsnacht gibt der Buckel die Flügel frei, und Raffaniello darf endlich nach Jerusalem fliegen, wo er ja hingehört. Es ist das die einzige Stadt der Welt, sagt Raffaniello, "wo der Tod sich schämt, dass es ihn gibt".
Auch so lässt sich Religion zur Sprache bringen. [*]
Pascal Boyer
Und Mensch schuf Gott
Aus dem Amerikanischen von Ulrich Enderwitz, Monika Noll und Rolf Schubert, 428 S., geb., € 23,20 (Klett-Cotta Verlag, Stuttgart)
Erri De Luca
Ich bin da
Roman. Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki, 128 S., geb., € 15,40 (Rowohlt Verlag, Reinbek)
gruß
manni
PS: Ich fand sehr interessant, dass selbst ein Neurobiologe entscheidende evolutionäre Veränderungen dem Geist des Menschen zuordnet, wie in dem Abschnitt über die Entstehung der Religion zu entnehmen ist.
hier eine lesenswerte Rezension des Buches Pascal Boyer: Und Mensch schuf Gott, die den Unterhaltungswert derartiger wissenschaftlicher Literatur lobt. Mehr aber auch nicht!
Mich hat diese Rezension so erheitert, dass ich sie hier für andere zum Schmunzeln einstelle.
diepresse.com
23.12.2004 - Kultur&Medien / Literatur
Wo Gott wohnt
Von Adolf Holl
Religion als Singular existiert nur im Klub der toten Denker, so Pascal Boyer, Experte für Religionen und Neurobiologie, in einem neuen Anlauf, die alte Religion zu erklären: "Und Mensch schuf Gott".
Immer dann, wenn eine religionswissenschaftliche Neuerschei nung den ersten Platz auf meiner persönlichen Bestenliste ergattern möchte, muss ich an "A Theory of Religion" von Rodney Stark und William Sims Bainbridge aus dem Jahr 1987 (Peter Lang Publishing Group, New York) denken. Die Arbeit bietet neben sieben Axiomen 104
Definitionen und 344 Propositionen. Das macht zusammen 455 Begriffsbestimmungen, was eigentlich für die nächsten 50 Jahre reichen sollte.
Weit gefehlt. Pascal Boyer, Autor des neuesten Anlaufs, die alte Religion neu zu erklären, nimmt Stark und Bainbridge nicht mehr zur Kenntnis. So rasch veralten die Religionstheorien auf dem Jahrmarkt der akademischen Gottlosigkeit. Auf dem Markt muss laut geschrien werden. Boyer sei, so der Klappentext, der "weltweit führende
Experte für Religionen, Kognition und Neurobiologie". Offenbar soll der Autor als Wunderkind dargestellt werden. Er hat nach der obligaten Praxis als Anthropologe in Afrika schnell begriffen, dass ohne Hirnforschung gegenwärtig nichts läuft, wenn Karriere gemacht werden soll. Das Buch Boyers kann als Frontberichterstattung von der vordersten Kampfzone der Wissenschaften gelesen werden. Der Feind heißt, je nach Geschmack, Natur oder Gott.
Am witzigsten ist Boyer, zumindest für Insider, wenn er die verlorenen Schlachten im Krieg gegen die Religion rapportiert. Dann klappern die Skelette der gefallenen Helden mit den klingenden Namen aus der Arabistik, der Sumeriologie oder Volkskunde, mitsamt ihren scharfsinnigen Beweisführungen über den Ursprung der Religion aus dem Aberglauben, der Furcht vor dem Tod, dem Selbstbetrug, den Scheinheiligkeiten der Priester.
Angenehm wirkt, dass der gebürtige Franzose Boyer flüssig, knapp und verständlich schreibt, nach der trockenen angelsächsischen Art, sparsam beim Nennen von Referenzen aus dem erlauchten Kreis der international renommierten Fachkräfte. In den Lektüreempfehlungen wird auf den Gräzisten Walter Burkert verwiesen, auf den Archäologen Steven Mithen, den Sozial-Anthropologen Ernest Gellner, den Historiker Marc Bloch - durchwegs beste Adressen. Warum Peter L. Berger (Soziologie) und Daniel L. Schacter (Psychologie) fehlen, bleibt ein Geheimnis. Auch Wunderkinder kochen gelegentlich mit Wasser.
Boyers Kernthese lautet: Die Religion als Abstraktsingular existiert lediglich im Klub der toten Denker. Um diesen nicht mehr ganz taufrischen Befund zum Glänzen zu bringen, taucht unser Autor ganz tief ins lautlose Gewitter der hundert Milliarden Neuronen in unserem Hirnkasten, die unter anderem mit der Erfindung Gottes beschäftigt sind, rund um die Uhr, besonders an Sonn- und Feiertagen.
Wie sie das machen, ist Gegenstand eines Projekts, das Boyer in einem Aufsatz von 1994 "Mapping the mind" nannte - die Kartografie der Geistestätigkeit. Bildgebende Verfahren, etwa die Positronen-Emissions-Tomografie (PET), gestatten seit ein paar Jahren die direkte Beobachtung der Hirntätigkeit und reduzieren so die vielen weißen Flecken auf den neurowissenschaftlichen Landkarten. Fertig sind sie noch lange nicht. Trotzdem gibt es viel zu erzählen.
Zum Beispiel von den "Experimenten", wie sie in der Welt Boyers üblich sind. Im Gegensatz zu handfesten Wissenschaften wie Physik und Chemie, die an Teilchenbeschleunigern oder mit Mondgestein arbeiten, müssen sich Ethnologen, Soziologen und Psychologen wie Meinungsforscher benehmen, die ihren Versuchspersonen merkwürdige Fragen stellen, etwa "Wie ist Gott?". Boyer nennt das "experimentelle Theologie". Das einschlägige Standardverfahren, in den empirischen Sozialwissenschaften längst Routine, bringt die Menschenkundler dazu, Behauptungssätze ("Es gibt einen Gott") zu formulieren und ausgewählte Probanden zu bitten, sie vorbehaltlos zu bejahen oder zu verneinen beziehungsweise unentschieden zu bleiben. Die Antworten können dann gezählt und damit quantifiziert werden.
Wie dünn das Eis ist, auf dem sich die
gelehrsame Mühewaltung dabei bewegt, habe ich bereits vor 40 Jahren gelernt, am "Institut für Höhere Studien und Wissenschaftliche Forschung" in Wien. Meine damaligen Arbeiten "experimentelle Theologie" zu nennen ist mir damals nicht eingefallen. Boyer dagegen kam auf die Idee, seinen Probanden Geschichten zu erzählen, in denen die Alltagserfahrung auf prinzipielle Weise gestört wird, und hernach zu prüfen, wie gut solche Störungen erinnert werden. Die Probanden fand er unter Dorfbewohnern im afrikanischen Gabun und unter tibetischen Mönchen in Nepal. Es stellte sich heraus, dass durchwegs jene Inhalte am dauerhaftesten im Gedächtnis blieben, die dem gesunden Menschenverstand eklatant widersprechen, und zwar im Bereich der abstrakten Allgemeinbegriffe wie Mensch, Tier, Werkzeug, Zahl. Die
Geschichte von einer Jungfrau, die ohne männlichen Samen ein Baby bekommt, gehört in diese Kategorie.
Religiöse Geschichten, so Boyer, transportieren "kontraintuitive" Inhalte und erweisen sich dabei, unter bestimmten Bedingungen, als ultrastabil und höchst erfolgreich, wie der Blick auf die weltweit tätigen christlichen Kirchen und muslimischen Formationen zeigt.
Warum? Um hier weiterzukommen, ohne gleich in die Klischees der Freidenker aus Kaisers Zeiten zu geraten, erzählt Boyer seine nächste Geschichte, nämlich die der neuesten Hirnforschung. Auf den 50 Seiten, die er dafür benötigt, stehen eine Menge interessanter Details über die Bedeutung des Tratsches, das Benehmen von Kleinkindern und Autisten, über Ekelempfindungen und Gruppenmentalität - didaktisch bestens aufbereitet, mit Gespür für den Aufbau einer Vorlesung in St. Louis, Missouri, wo Boyer unterrichtet.
Auffällig oft kommen Vokabel vor, wie sie im Umgang mit Computern selbstverständlich sind ("System", "Datenverarbeitung", "speichern"), und immer wieder wird betont, wie kompliziert die Maschine funktioniert, die Gehirn genannt wird. Seelisch labile Leser laufen eventuell Gefahr, sich bei fortschreitender Lektüre des Buchs von Boyer zunehmend als Biomaschinen zu erleben beziehungsweise ihre Mitmenschen dafür zu halten, wie in einem Film mit Arnold Schwarzenegger in der Hauptrolle. Religionswissenschaftlich abgebrühte Leser wie ich werden eher dazu neigen, die Geschichten Pascal Boyers wie Science-Fiction zu genießen. Unterhaltsam sind sie durchaus.
Das gilt auch für den Hauptteil der Abhandlung Boyers, die Kapitel vier bis neun, in denen Kinderfragen wie "Warum geht es in der Religion um den Tod" gestellt und beantwortet werden. Fürwahr keine leichte Aufgabe. Um ihr gerecht zu werden, erzählt Boyer seine dritte Geschichte, jenen Epos der Menschwerdung, welche einen Zeitraum von rund sieben Millionen Jahren benötigte.
Die gängige Wissenschaftsprosa leiert diese sieben Millionen wie das Lied eines Bänkelsängers herunter, wie ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht, wie den Bericht einer Schlacht aus den Napoleonischen Kriegen. Und dann geschah dies, passierte jenes, ereignete sich, trat ein. Und dann. Zwischen zwei Begebenheiten der menschlichen Evolution liegen gelegentlich zwei oder drei Millionen Jahre, nach dem jeweiligen Stand der Paläobiologie, die ganz locker übersprungen werden. Immer wieder wird ein versteinerter Kieferknochen aus dem afrikanischen Sand geholt, und die Zunft steht Kopf.
Zu erfahren ist immerhin, dass Kunsthandwerk und Religion während der letzten Eiszeit aufkamen, also vor 50.000 Jahren, und zwar in Europa. "Was wir Religion nennen", schreibt Boyer, "entstand vermutlich zusammen mit dem menschlichen Geist in seiner heutigen Gestalt, ausgelöst durch eine plötzliche Veränderung in der geistigen Tätigkeit." Boyer nennt den Gebrauch des roten Ockers, die ersten Höhlenmalereien und komplizierte Bestattungsrituale als Hinweise für eine "Explosion des Symbolischen" zur Zeit der Neandertaler.
Seither sind wir religiös, um es kurz zu machen, das heißt, wir können gar nicht anders, als Gott zu denken, wegen der Struktur unseres Gehirns. Mit dieser unerwarteten Pointe entlässt Boyer seine Gemeinde in den grauen Alltag. Wir Menschen haben uns damit abzufinden, als komplizierte lebendige Maschinen herumzulaufen und uns darüber zu wundern, wie wir es fertig gebracht haben, "einem unwirklichen Nichts Wohnstatt und Namen zu geben". Gemeint ist selbstverständlich der liebe Gott. So Boyer. Der Verdacht, bei dem Mann könnte es sich um einen Combot (Computer plus Roboter) handeln, ist mir während der Suche nach dem Lebenslauf Boyers im Internet gekommen.
Trotz der rund 60.000 Eintragungen keinerlei Hinweis auf ein Geburtsdatum. Combots haben keine Mutter. Sie sind so perfekt gebaut, dass sie von ihrer Umgebung für Menschen gehalten werden. So könnte es auch im Fall Boyer sein. Zurzeit ist er unter dem Telefonanschluss 001-314-935-6596 erreichbar, hebt allerdings selten ab. Er verfügt über mächtige Freunde, unter anderem kennt er den Direktor des renommierten Centre National de Recherche Scientifique in Paris, Dan Sperber. Sperber weiß allerdings auch nicht genau, wie alt Boyer ist.
Lassen wir es dabei. Um mich von Boyer zu erholen, las ich "Montedidio" von Erri De Luca in der deutschen Übersetzung, die mir ein befreundeter Neurologe in Zürich schenkte. In dem Roman kommt ein liebenswerter buckliger Jude vor, der als Schuster in Neapel gelandet ist. Er sagt, "dass Gott durch unsere Beharrlichkeit gezwungen ist zu existieren, durch die Gebete bildet sich sein Ohr, durch unsere Tränen können seine Augen sehen, durch Fröhlichkeit erscheint sein Lächeln".
Das erinnert ein wenig an Boyer, aber eben nur ein wenig. Der Unterschied zwischen der Prosa Boyers und der Prosa De Lucas lässt an den Unterschied zwischen künstlicher und natürlicher Intelligenz denken. Nach der Lektüre des Romans von De Luca mag sich das Gefühl einstellen, ein besserer Mensch geworden zu sein. Montedidio, ein Stadtviertel Neapels, heißt auf Deutsch Gottesberg. Dort sind Engel und Geister so selbstverständlich wie eine gute Pizza: Engel können fliegen, Geister nicht. Auch in dem Buch von Boyer kommen Geister vor, aber sie wirken wie geschnitzte Masken im Völkerkundemuseum.
De Luca entlässt seine Gemeinde mit einem Blick auf die Flügel im Buckel des alten Schuster Raffaniello, der von Gott bisher nicht sonderlich verwöhnt worden ist. In der Neujahrsnacht gibt der Buckel die Flügel frei, und Raffaniello darf endlich nach Jerusalem fliegen, wo er ja hingehört. Es ist das die einzige Stadt der Welt, sagt Raffaniello, "wo der Tod sich schämt, dass es ihn gibt".
Auch so lässt sich Religion zur Sprache bringen. [*]
Pascal Boyer
Und Mensch schuf Gott
Aus dem Amerikanischen von Ulrich Enderwitz, Monika Noll und Rolf Schubert, 428 S., geb., € 23,20 (Klett-Cotta Verlag, Stuttgart)
Erri De Luca
Ich bin da
Roman. Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki, 128 S., geb., € 15,40 (Rowohlt Verlag, Reinbek)
gruß
manni
PS: Ich fand sehr interessant, dass selbst ein Neurobiologe entscheidende evolutionäre Veränderungen dem Geist des Menschen zuordnet, wie in dem Abschnitt über die Entstehung der Religion zu entnehmen ist.