Selbsterkenntnis, das Thema reizt einen.
Was ist Selbsterkenntnis? Damit Selbsterkenntnis einen Sinn macht, ist es doch eigentlich Voraussetzung, dass da irgendwo etwas zu erkennen sei. Selbsterkenntnis ist somit der Vorgang, in welchem sich ein vorher nicht weiter differenziertes Subjekt/Objekt-Ganzes neu plötzlich in ein erkennendes Subjekt und ein erkanntes Objekt teilt. Damit bedeutet Selbsterkenntnis in meinen Augen immer den Vorgang von Ent-Identifizierung, weil sich das Subjekt von einer Identifizierung mit dem Objekt trennt. Indem das Subjekt das Objekt betrachtet, schafft es Distanziertheit und dadurch einen Freiraum, welcher zum erstenmal erlaubt, Freiheit von Anhaftung an das Objekt zu erlangen.
Indem ich beispielsweise versuche genau zu erkennen, wie Wut in mir entsteht, wie sie sich ausdrückt, lerne ich nach und nach zwischen mir und der Wut zu unterscheiden. Das gibt mir mit Sicherheit ein klein wenig mehr Gelassenheit in der nächsten vergleichbaren Situation. Ich weiss dann (und wusste eben zuvor noch nicht), oha, jetzt könnte in mir drin Wut entstehen. Alleine schon dieses Wissen ist enorm hilfreich, wenn es darum geht, frei zu werden von inneren Zwängen.
Darum ist Selbsterkenntnis für mich immer verbunden mit dem Wunsch nach Freiheit. Wer frei sein will muss notwendigerweise durch einen Prozess der Selbsterkenntnis erstmal Distanz zu "sich selbst" schaffen. Dadurch entsteht nach und nach Gelassenheit und eine gewissermassen gleichmütige Haltung.
Das scheint mir übrigens eigentlich das Thema des Buddhismus zu sein, wenn man mal von all den Göttern und deren Verehrung absieht. Buddha behauptet, dass Leiden vor allem durch Unwissenheit entsteht, eine Unwissenheit um die wahre Natur der Dinge. Diese Unwissenheit kann durchbrochen werden durch den Prozess der Selbsterkenntnis. Wer die tiefste und letzte Selbsterkenntnis verwirklicht, hat sich somit gleichzeitig von jeglicher Identifikation gelöst. Er hat alles Erkennbare zu einem Objekt gemacht und übrig bleibt nur noch das "reine Subjekt", das reine "Nicht-Selbst", die reine "Leere" der Dinge.
Ein grosses Problem heutzutage scheint mir aber, dass Selbsterkenntnis viel zu oft "von aussen" betrieben wird. Mit Selbsterkenntis meinen viele Menschen, sie könnten einzig durch das Lesen von Lektüre oder durch Diskussionen wie diese hier sich selbst erkennen. Nun, das ist sicher richtig, aber es genügt bei weitem nicht, denn dies ist immer ein Ansatz über den Verstand, ein Ansatz, welcher im wahrsten Sinne des Wortes versucht zu be-greifen. Unser Verstand kann aber immer nur Dinge dialektisch wahrnehmen, er kann immer nur in Widersprüchen denken. Entweder A oder Nicht-A, was anderes gibt es für ihn nicht.
Die Welt beweist aber dauernd, dass dieses "Verstandesdenken" massiv ungenügend zur echten Selbst-Erkenntnis ist. Der Verstand müsste konsequenterweise sich ja selbst ebenfalls zum Objekt machen um sich zu erkennen. Das ist ein philosophisches Problem des Zirkelschlusses. Der Verstand will sich selbst erkennen, wie soll das gehen?
Die Antwort ist einfach: Entweder gibt es nichts jenseits des Verstandes, dann können wir aber in letzter Konsequenz uns nie wirklich selbst erkennen. Oder es gibt etwas jenseits des Verstandes, mittels welchem der Verstand erkannt werden kann (allerdings nicht im üblichen Sinne), dann ist unser Verstand aber bereits in gewissem Masse disqualifiziert als Instrument zu echter Erkenntnis. Aus beiden Möglichkeiten folgt, dass auf unser Verstand leider kein letzter Verlass ist, wenn es um echte, das heisst um tiefe Selbsterkenntnis geht.
[Allerdings kann hier Kritik angebracht werden: Diese von mir aufgeführte Logik befindet sich auf Ebene des Verstandes. Wenn es tatsächlich jenseits dessen etwas gibt, so ist möglicherweise Logik als Mittel zur Erkenntnis ebenfalls disqualifiziert und daher obige Überlegungen obsolet.]
Das Thema bleibt nicht leicht.