AW: Carlos Castaneda?
Hallo EarlyBird,
du hast aus meiner Sicht in sofern völlig recht, als dass es einen Unterschied zwischen den Urteilen und Beurteilungen gibt die wir unreflektiert hinnehmen und denen, die wir durch unsere Reflektion gefiltert und für gut befunden, einsetzen.
Aber der Unterschied ist nicht wirklich ein großer, denn am Ende kommt ein Urteil dabei heraus. Ein Urteil das mit all dem zu tun hat, was wir über die Welt und uns selbst denken und erfahren haben. Auf diese Weise bewerten wir die Welt und uns selbst und schneiden dabei manchmal besser und manchmal schlechter ab. Wenn wir unser Urteil aber einer ernsthaften Prüfung unterziehen stellen wir fest, dass es nichts weiter als unsere persönliche Sicht der Dinge ist. Diese Sicht ist zwar manchmal mehr und manchmal weniger gut begründet, aber es sind immer Gründe subjektiver oder kollektiver Ansichten. Ein Urteil ist niemals allgemeingültig oder gar die einzige uns allen zu Gebote stehende Wahrheit.
Wenn wir also festgestellt haben, dass ein Urteil oder eine Bewertung immer nur eine subjektive oder kollektive Ansicht ist, müssten wir eigentlich zu dem Schluss kommen, dass ein Urteil keine Aussagekraft über das Wahrhafte hat, sondern darüber wie wir und andere die Welt wahrnehmen.
Der Verstand ist da ganz ähnlich. Ich würde sagen, dass der Verstand der Vater des Urteils ist, weil es ohne den Verstand kein Urteil gibt. Du wirst feststellen, dass ein Urteil seinen Sinn und seine Berechtigung verliert, wenn Du es ohne die Vernunft betrachten möchtest.
Beispiel: Frieden ist etwas Wundervolles, Positives und Erstrebenswertes.
Dieses Urteil ist auf Erfahrungen, Erlebnissen, Bildung und Überzeugung begründet. Im Krieg (sei es ein großer oder ein kleiner zwischenmenschlicher) gibt es immer Opfer auf beiden Seiten. Es gibt Wunden und Verletzungen, aber keine Freude und keine Liebe. Was mühsam aufgebaut wurde wird zerstört, was wir lieb gewonnen haben vernichtet.
Wenn ich nun versuchen wollte mein Urteil ohne die Vernunft zu betrachten, würde mir auffallen, dass es dann kein Urteil mehr wäre. Dass es keine Gründe mehr gäbe und keinen Nutzen.
Und hier komme ich zum wesentlichen Punkt, wie ich meine. Der Nutzen eines Urteils. Warum urteilen wir? Wenn ich sage dass Frieden etwas Wundervolles ist, sage ich damit, dass wir den Krieg vermeiden müssen. Ich sage damit auch, dass ich ein friedfertiger Mensch bin und ich sage damit, dass jeder Mensch der es anders sieht, ein Mensch ist, den ich für verurteilenswert halte. Ein Mensch vor dem man sich in Acht nehmen, oder den man vielleicht sogar bekämpfen muss.
Mit diesem Urteil definiere ich mich und meine Position in dieser Welt. Ich weise den anderen Menschen ihre Position zu und lebe fortan in der Spannung die dieses Urteil erzeugt. Mit der Ansammlung hunderter und tausender solcher Urteile beschreibe ich exakt wie ich mich selbst sehe. Und weil wir uns mit unseren Urteilen identifizieren, beschreibe ich sogar wie ich selbst bin.
Solche Urteile kommen nicht zustande, wenn ich mich nicht der Vernunft bediene, denn ohne die Vernunft gibt es keine Unterscheidungskriterien. Ein Urteil braucht die Bewertung dass etwas ganz richtig oder eben ganz falsch ist.
Außer dass wir uns mit unseren Urteilen selbst definieren, tun wir aber noch etwas anderes. Wir separieren uns von anderen Menschen und wir verbünden uns mit Meinungsgefährten.
An all dem ist nichts auszusetzen. Der Fallstrick dabei ist nur, dass wir glauben unser Urteil würde etwas über das Wahrhafte aussagen. Wir glauben wirklich dass wir so sind, wie wir urteilen. Indem ich sage, dass Frieden gut und erstrebenswert ist, sage ich dass ich selbst ein friedliebender Mensch bin. Aber das ist nicht wahr. Ich bin nicht friedliebend und ich bin kein Kriegstreiber. Ich liebe den Frieden nicht und ich hasse den Krieg nicht. Aber mein Ego liebt es mich als friedliebenden Menschen zu sehen, der sich für die Gerechtigkeit und Freiheit einsetzt. Und dennoch trifft nichts von alledem zu. Es sind Sichtweisen, die obwohl gut begründet, nichts mit dem zu tun haben was ich bin, oder dem wie die Welt ist.
Aus meiner Sicht ist das Verständnis dieser Zusammenhänge für den Krieger und den „normalen“ Menschen gleichermaßen nützlich. Ein Krieger kann durch das Loslassen seiner Urteile ein vorurteilsfreier Zeuge der Existenz werden. Frei und eins mit allem. Ein „normaler“ Mensch hingegen, kann zwar die Einsicht nicht als Kraft beanspruchen die ihn frei macht, aber er ist ohne die zwingenden Bindungen seiner Urteile in der Lage, das Gefühl zu entdecken das wir sind. Er kann zumindest erahnen, dass es da etwas gibt auf das er sich verlassen kann. Etwas das außerhalb unserer Ansichten existiert, etwas das wir selbst sind und das uns alle umgibt.
Aber unser Verstand geht noch deutlich weiter. Beobachte eine Weile die Wolken. Bereits nach kurzer Zeit wird Dir auffallen, dass Du nicht im Stande bist die Wolke einfach nur als Wolke wahrzunehmen, sondern als Gesichter, Tiere, Gegenstände – eben als alles was wir bereits kennen. Und dieser Effekt, der so tief in uns ist wie das Denken selbst, stellt für einen Menschen der nach voller Bewusstheit strebt, ein ernstes Risiko dar. Denn mit den Dingen die wir aus unserer Wahrnehmung machen, sind auch Gefühle verbunden und mit den Gefühlen sind auch unsere Urteile verbunden, dass es nämlich gute oder schlechte Gefühle sind.
Entschuldige die vielen Worte aber es ist so schwer zu erklären, dass ich es noch von einer anderen Seite versuchen werde. Nehmen wir zum Beispiel einen Klaustrophobiker. Er kommt in einen Fahrstuhl, die Türen schließen sich und die Kettenreaktion seiner selbst definierten Wahrnehmung nimmt seinen Lauf. Er spürt Enge, da ist kein Platz mehr zum Atmen, er kann nirgends hingehen, er fühlt wie sich sein Hals zuschnürt, er fühlt wie in seinen Lungen kein Platz mehr ist, sein Körper verkrampft sich, der Schock seiner Angst führt dazu dass sein Blut in die Beine abfällt, sein Herz rast, … er ist dem Tode nahe. Nun in Anbetracht des unglaublichen Seins das wir sind, sind wir alle Klaustrophobiker. Denn wir alle haben etwas das unsere schrecklichsten Ängste aufweckt. Wir alle sehen im Anblick der wundervoll bewussten Energie die wir sind nicht diese Energie, sondern das was wir auf dem Flimmern ihres Leuchtens durch unsere Beschreibungen erzeugen. Deshalb ist es nicht übertrieben, wenn man sagt dass der Tod eine natürliche Folge unserer zwanghaften Übertragung des Erlebten in das uns bekannte System unserer Bewertungen, unseres Glaubens und unserer Sichtweisen ist.
<< Hm, ich bin mir nicht sicher, ob es der Verstand ist, der uns im Weg steht. Schließlich kann ja auch der Verstand kapieren, dass die Welt voll von Unbekanntem und Neuem für uns ist! >>
Der Verstand kann davon überzeugt werden, dass er nicht in der Lage ist die Dinge zu durchdringen und sie zu erfassen, wie es nötig wäre um überhaupt irgendetwas zu verstehen. Aber weder kann er das aus sich selbst heraus kapieren, noch kann er sich selbst davon überzeugen, denn schließlich ist es ja nicht vernünftig.
Die einzige Art den Verstand davon zu überzeugen, dass er lediglich das verstehen kann, was in die Welt seiner Vernunft gehört, ist zu erleben dass es Dinge gibt die er nicht erklären kann. Deshalb benutzt Don Juan Hilfsmittel wie die psychotropen Pflanzen, um Castanedas Bewusstsein Dinge erfahren zu lassen, die sein Verstand nicht erfassen kann. Du hast ja einige seiner Bücher gelesen und erinnerst Dich bestimmt, mit welch unaufhörlicher Beharrlichkeit Castaneda das unbeschreiblichste in das System zu bringen versucht, das er kennt. Seine Vernunft.
Also selbst wenn Castanedas Vernunft nur solche Urteile fällen würde, die er nach jahrelanger Reflektion für richtig erachtet hat, wäre er in keiner besseren Position. Im Gegenteil wären dann seine Urteile noch fester und stabiler. Und dennoch wäre das was er wahrnimmt immer das was es ist, ganz gleich auf welche Art sein Verstand aus seiner Wahrnehmung eine körperliche Welt macht.
Ich hoffe ich habe die Dinge nicht zu sehr verkompliziert.
Liebe Grüße,
Energiesammler