_its_not_me_
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Hi Denkforum
Kontingenz
Warum spricht er von Zufällen, aber nicht von schicksalhaften Fügungen? Nun, weil eine ([post-]moderne) Biographie, anders als ein Schicksal, nicht bestimmt wird von einem ‚Sinn des Ganzen’, der etwa auf eine hierarchische Gliederung verweist mit einem Gott als (universalem) Sinnstifter oder auf eine Geschichte, die (im Sinne von Marx) auf ein Ziel zuläuft. Nur wenn man das akzeptiert, kann man ja überhaupt von einer ‚Sensibilität für Zufälle’ sprechen. Ein Teil meines Vorschlages war:„Schätze die Kontingenz, stelle dich ihr.“ Ich sehe da große Berührungspunkte zu dem Luhmannschen Begriff. Das ist bereits eine ganz andere Grundeinstellung! Robin spricht in seinem Eingangstext von einem Gefühl der Heimat- oder Orientierungslosigkeit, welches viele Menschen ergriffen hat. Ja, wenn man seine Orientierungsmarken irgendwo ‚da draußen’ zu finden hofft, in einer klar erkennbaren äußeren Ordnung zum Beispiel oder einem Geschichtsziel, wird man möglicherweise Orientierungsprobleme haben. Eben weil man nicht Sensibel ist die Zufälligkeit der eigenen Biographie und sich dem nicht stellt oder stellen kann, weil es im eigenen Weltbild gar nicht vorkommt.
Es ist ja wahrscheinlich kein Zufall , dass etwa in ‚esoterischen Kreisen’, wenn ich es recht sehe, Kontingenz gerne negiert und behauptet wird, es gäbe keinen Zufall. Das hört man ja recht häufig. Und das ist eine ganz und gar andere Einstellung, ein ganz anderer Lösungsansatz des „Problems Postmoderne“.
Selbsterfinden, Selbstfinden
Das Modell Selbstfindung geht von einem inneren Kern des Individuums und einem wahren Selbst aus. Das gilt es zu finden. Oder: Das je schon vorhandene Selbst muss befreit werden von entfremdenden gesellschaftlichen Überformungen. Oder: Es gibt ein Selbst, das quasi darauf wartet, verwirklicht zu werden.
Das Modell der Selbstproduktion, Selbsterfindung postuliert hingegen kein aufzufindendes wahres Selbst, sondern „Selbsterfindung“ ist eher Kreation des eigenen Selbst, vielleicht sogar vergleichbar mit künstlerischen Produktionen. Für Rorty steht dabei, soweit ich sehe, die Sprache im Mittelpunkt. Die Selbstfindung, das ist ein anderer großer Unterschied, ist sozusagen abgeschlossen, wenn man weiß, wer man ist . Selbsterfindung ist ein dauernder Prozess. Es geht immer weiter ... Beiden Modellen ist ein völlig unterschiedliches Weltbild unterlegt.
Kein Sinn = kein Marx
„Dennoch denke ich an einen substanziellen Unterschied [zwischen systemtheoretischen und marxistischen Ansätzen], zumindest was den humanistischen Einschlag angeht, der der Marxschen Art und Weise, das Individuum und die Gesellschaft zu betrachten, unterliegt. Wenn ich recht verstehe, teilt Marx mit allen Hegelianern die Idee einer allgemeinen Aufgabe der Menschheit, einer Art humanistischen Ziels der Gesellschaft, die sich – umstritten ist dann nur: automatisch oder nicht, revolutionär oder nicht – in einen Zustand entwickeln soll, der irgendwie dem Wesen des Menschen besser entspricht. In den ‚Grundrissen’ ist dies sehr deutlich: Die Gesellschaft entwickelt sich zu größerer Universalität, zu einer Universalität, die die Menschen, die die Menschlichkeit, die in jedem von uns ist mehr befriedige.“ (Niklas Luhmann in einem Interview)
Hier haben wir, denke ich, auch den Universalitäts-Begriff von dem Jérôme spricht, oder? Aber dieser Geschichtsbegriff hat überhaupt keinen zentralen Platz für Kontingenz. Denn die Geschichte läuft nicht zufällig, sie hat einen Sinn! Hier passt auch gut, der Selbstfindungsbegriff rein, der auf die Befreiung von einem entfremdeten Selbst aus ist. Das hat mit Selbsterfindung aber nichts zu tun! Zur Selbsterfindung, so wie ich es verstehe, gehört zwingend „Sensibilität für Zufälle“ (Luhmann) oder eine Achtung der Kontingenz.
Jérôme, ich sehe sehr wohl den Unterschied zu deiner Position, ich will dir nichts ‚unterschieben’ Du schreibst:„Das sehe ich als einen Übergang/Aufbruch zu etwas Neuem, das aber mit meiner Identität, oder besser der Summe meiner Identitäten möglichst wenig kollidieren soll, um mich nicht noch mehr verunsichern.“
Begriffe?
Worauf ich hinaus will, ist vielleicht eine Klärung der Begriffe ... Ich glaube, dass Robin zum Beispiel den Begriff Differenzierung ganz anders sieht und verwendet als z.B. Muzmuz und Jérôme. (Wenn Robin ihn denn überhaupt im Luhmannschen Sinne einer ‚horizontalen funktionalen Differenzierung’ benutzt sehen will.)
Jérôme schrieb zum Beispiel: „Die Mehrzahl der Erwerbstätigen sind doch nur relativ leicht ersetzbare Glieder einer Kette. Während ein Arbeiter (...) früher den ganzen Arbeitsablauf nicht nur kannte, sondern auch ausführen konnte, wird er heute nur für eine einzelne Phase des Prozesses eingesetzt - oft ohne Kenntnis davon, was 'vor ihm' und 'nach ihm' mit dem Produkt geschieht- seine Arbeit durch Maschinen/Computer ersetzt etc.“
Der Begriff der funktionalen Differenzierung, den Luhmann verwendet, spricht aber von unterschiedlichen Funktionssystemen, wie Recht, Religion, Kunst, Politik etc. Diese Systeme bestehen im übrigen gar nicht aus Arbeitern oder Künstlern usw., sondern aus Kommunikationen. Ich bin mir nicht sicher, ob man das im Rahmen dieses Threads ausarbeiten sollte. Vielleicht eher nicht, oder? Aber wenn alle dem Begriff Differenzierung einen anderen Sinn unterlegen, kann es natürlich auch zu Begriffverwirrungen kommen. Aber vielleicht habt ihr das ja in einem anderen Thread bereits geklärt.
Kontingenz
Ja genau, er sagt: „Eine Biographie ist eine Sammlung von Zufällen, das Kontinuierliche besteht in der Sensibilität für Zufälle. Insofern kann man auch bezüglich meiner Biographie von einer Kette von Zufällen sprechen: [...]“Robin schrieb:[...] Luhmann sprach übrigens bei seiner eigenen "Selbstfindung" einer Karriere von einem Staatsbeamten zu einem der bedeutensten Denker der Nachkriegszeit vor allem über die Bedeutung von Zufällen. [...]
Warum spricht er von Zufällen, aber nicht von schicksalhaften Fügungen? Nun, weil eine ([post-]moderne) Biographie, anders als ein Schicksal, nicht bestimmt wird von einem ‚Sinn des Ganzen’, der etwa auf eine hierarchische Gliederung verweist mit einem Gott als (universalem) Sinnstifter oder auf eine Geschichte, die (im Sinne von Marx) auf ein Ziel zuläuft. Nur wenn man das akzeptiert, kann man ja überhaupt von einer ‚Sensibilität für Zufälle’ sprechen. Ein Teil meines Vorschlages war:„Schätze die Kontingenz, stelle dich ihr.“ Ich sehe da große Berührungspunkte zu dem Luhmannschen Begriff. Das ist bereits eine ganz andere Grundeinstellung! Robin spricht in seinem Eingangstext von einem Gefühl der Heimat- oder Orientierungslosigkeit, welches viele Menschen ergriffen hat. Ja, wenn man seine Orientierungsmarken irgendwo ‚da draußen’ zu finden hofft, in einer klar erkennbaren äußeren Ordnung zum Beispiel oder einem Geschichtsziel, wird man möglicherweise Orientierungsprobleme haben. Eben weil man nicht Sensibel ist die Zufälligkeit der eigenen Biographie und sich dem nicht stellt oder stellen kann, weil es im eigenen Weltbild gar nicht vorkommt.
Es ist ja wahrscheinlich kein Zufall , dass etwa in ‚esoterischen Kreisen’, wenn ich es recht sehe, Kontingenz gerne negiert und behauptet wird, es gäbe keinen Zufall. Das hört man ja recht häufig. Und das ist eine ganz und gar andere Einstellung, ein ganz anderer Lösungsansatz des „Problems Postmoderne“.
Selbsterfinden, Selbstfinden
Ich finde der Unterschied ist fundamental.Robin schrieb:Selbstfinden und Selbsterfinden halte ich übrigens für keinen so großen Gegensatz. Beiden gemein ist die Illusion, dass man es wirklich "selbst" ist, der etwas tut.
Das Modell Selbstfindung geht von einem inneren Kern des Individuums und einem wahren Selbst aus. Das gilt es zu finden. Oder: Das je schon vorhandene Selbst muss befreit werden von entfremdenden gesellschaftlichen Überformungen. Oder: Es gibt ein Selbst, das quasi darauf wartet, verwirklicht zu werden.
Das Modell der Selbstproduktion, Selbsterfindung postuliert hingegen kein aufzufindendes wahres Selbst, sondern „Selbsterfindung“ ist eher Kreation des eigenen Selbst, vielleicht sogar vergleichbar mit künstlerischen Produktionen. Für Rorty steht dabei, soweit ich sehe, die Sprache im Mittelpunkt. Die Selbstfindung, das ist ein anderer großer Unterschied, ist sozusagen abgeschlossen, wenn man weiß, wer man ist . Selbsterfindung ist ein dauernder Prozess. Es geht immer weiter ... Beiden Modellen ist ein völlig unterschiedliches Weltbild unterlegt.
Kein Sinn = kein Marx
„Dennoch denke ich an einen substanziellen Unterschied [zwischen systemtheoretischen und marxistischen Ansätzen], zumindest was den humanistischen Einschlag angeht, der der Marxschen Art und Weise, das Individuum und die Gesellschaft zu betrachten, unterliegt. Wenn ich recht verstehe, teilt Marx mit allen Hegelianern die Idee einer allgemeinen Aufgabe der Menschheit, einer Art humanistischen Ziels der Gesellschaft, die sich – umstritten ist dann nur: automatisch oder nicht, revolutionär oder nicht – in einen Zustand entwickeln soll, der irgendwie dem Wesen des Menschen besser entspricht. In den ‚Grundrissen’ ist dies sehr deutlich: Die Gesellschaft entwickelt sich zu größerer Universalität, zu einer Universalität, die die Menschen, die die Menschlichkeit, die in jedem von uns ist mehr befriedige.“ (Niklas Luhmann in einem Interview)
Hier haben wir, denke ich, auch den Universalitäts-Begriff von dem Jérôme spricht, oder? Aber dieser Geschichtsbegriff hat überhaupt keinen zentralen Platz für Kontingenz. Denn die Geschichte läuft nicht zufällig, sie hat einen Sinn! Hier passt auch gut, der Selbstfindungsbegriff rein, der auf die Befreiung von einem entfremdeten Selbst aus ist. Das hat mit Selbsterfindung aber nichts zu tun! Zur Selbsterfindung, so wie ich es verstehe, gehört zwingend „Sensibilität für Zufälle“ (Luhmann) oder eine Achtung der Kontingenz.
Jérôme, ich sehe sehr wohl den Unterschied zu deiner Position, ich will dir nichts ‚unterschieben’ Du schreibst:„Das sehe ich als einen Übergang/Aufbruch zu etwas Neuem, das aber mit meiner Identität, oder besser der Summe meiner Identitäten möglichst wenig kollidieren soll, um mich nicht noch mehr verunsichern.“
Begriffe?
Worauf ich hinaus will, ist vielleicht eine Klärung der Begriffe ... Ich glaube, dass Robin zum Beispiel den Begriff Differenzierung ganz anders sieht und verwendet als z.B. Muzmuz und Jérôme. (Wenn Robin ihn denn überhaupt im Luhmannschen Sinne einer ‚horizontalen funktionalen Differenzierung’ benutzt sehen will.)
Jérôme schrieb zum Beispiel: „Die Mehrzahl der Erwerbstätigen sind doch nur relativ leicht ersetzbare Glieder einer Kette. Während ein Arbeiter (...) früher den ganzen Arbeitsablauf nicht nur kannte, sondern auch ausführen konnte, wird er heute nur für eine einzelne Phase des Prozesses eingesetzt - oft ohne Kenntnis davon, was 'vor ihm' und 'nach ihm' mit dem Produkt geschieht- seine Arbeit durch Maschinen/Computer ersetzt etc.“
Der Begriff der funktionalen Differenzierung, den Luhmann verwendet, spricht aber von unterschiedlichen Funktionssystemen, wie Recht, Religion, Kunst, Politik etc. Diese Systeme bestehen im übrigen gar nicht aus Arbeitern oder Künstlern usw., sondern aus Kommunikationen. Ich bin mir nicht sicher, ob man das im Rahmen dieses Threads ausarbeiten sollte. Vielleicht eher nicht, oder? Aber wenn alle dem Begriff Differenzierung einen anderen Sinn unterlegen, kann es natürlich auch zu Begriffverwirrungen kommen. Aber vielleicht habt ihr das ja in einem anderen Thread bereits geklärt.
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