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Ausdifferenzierung und Identität

Hi Denkforum :)

Kontingenz

Robin schrieb:
[...] Luhmann sprach übrigens bei seiner eigenen "Selbstfindung" einer Karriere von einem Staatsbeamten zu einem der bedeutensten Denker der Nachkriegszeit vor allem über die Bedeutung von Zufällen. [...]
Ja genau, er sagt: „Eine Biographie ist eine Sammlung von Zufällen, das Kontinuierliche besteht in der Sensibilität für Zufälle. Insofern kann man auch bezüglich meiner Biographie von einer Kette von Zufällen sprechen: [...]“

Warum spricht er von Zufällen, aber nicht von schicksalhaften Fügungen? Nun, weil eine ([post-]moderne) Biographie, anders als ein Schicksal, nicht bestimmt wird von einem ‚Sinn des Ganzen’, der etwa auf eine hierarchische Gliederung verweist mit einem Gott als (universalem) Sinnstifter oder auf eine Geschichte, die (im Sinne von Marx) auf ein Ziel zuläuft. Nur wenn man das akzeptiert, kann man ja überhaupt von einer ‚Sensibilität für Zufälle’ sprechen. Ein Teil meines Vorschlages war:„Schätze die Kontingenz, stelle dich ihr.“ Ich sehe da große Berührungspunkte zu dem Luhmannschen Begriff. Das ist bereits eine ganz andere Grundeinstellung! Robin spricht in seinem Eingangstext von einem Gefühl der Heimat- oder Orientierungslosigkeit, welches viele Menschen ergriffen hat. Ja, wenn man seine Orientierungsmarken irgendwo ‚da draußen’ zu finden hofft, in einer klar erkennbaren äußeren Ordnung zum Beispiel oder einem Geschichtsziel, wird man möglicherweise Orientierungsprobleme haben. Eben weil man nicht Sensibel ist die Zufälligkeit der eigenen Biographie und sich dem nicht stellt oder stellen kann, weil es im eigenen Weltbild gar nicht vorkommt.

Es ist ja wahrscheinlich kein Zufall :), dass etwa in ‚esoterischen Kreisen’, wenn ich es recht sehe, Kontingenz gerne negiert und behauptet wird, es gäbe keinen Zufall. Das hört man ja recht häufig. Und das ist eine ganz und gar andere Einstellung, ein ganz anderer Lösungsansatz des „Problems Postmoderne“.


Selbsterfinden, Selbstfinden

Robin schrieb:
Selbstfinden und Selbsterfinden halte ich übrigens für keinen so großen Gegensatz. Beiden gemein ist die Illusion, dass man es wirklich "selbst" ist, der etwas tut.
Ich finde der Unterschied ist fundamental.

Das Modell Selbstfindung geht von einem inneren Kern des Individuums und einem wahren Selbst aus. Das gilt es zu finden. Oder: Das je schon vorhandene Selbst muss befreit werden von entfremdenden gesellschaftlichen Überformungen. Oder: Es gibt ein Selbst, das quasi darauf wartet, verwirklicht zu werden.

Das Modell der Selbstproduktion, Selbsterfindung postuliert hingegen kein aufzufindendes wahres Selbst, sondern „Selbsterfindung“ ist eher Kreation des eigenen Selbst, vielleicht sogar vergleichbar mit künstlerischen Produktionen. Für Rorty steht dabei, soweit ich sehe, die Sprache im Mittelpunkt. Die Selbstfindung, das ist ein anderer großer Unterschied, ist sozusagen abgeschlossen, wenn man weiß, wer man ist :). Selbsterfindung ist ein dauernder Prozess. Es geht immer weiter ... Beiden Modellen ist ein völlig unterschiedliches Weltbild unterlegt.


Kein Sinn = kein Marx :)

„Dennoch denke ich an einen substanziellen Unterschied [zwischen systemtheoretischen und marxistischen Ansätzen], zumindest was den humanistischen Einschlag angeht, der der Marxschen Art und Weise, das Individuum und die Gesellschaft zu betrachten, unterliegt. Wenn ich recht verstehe, teilt Marx mit allen Hegelianern die Idee einer allgemeinen Aufgabe der Menschheit, einer Art humanistischen Ziels der Gesellschaft, die sich – umstritten ist dann nur: automatisch oder nicht, revolutionär oder nicht – in einen Zustand entwickeln soll, der irgendwie dem Wesen des Menschen besser entspricht. In den ‚Grundrissen’ ist dies sehr deutlich: Die Gesellschaft entwickelt sich zu größerer Universalität, zu einer Universalität, die die Menschen, die die Menschlichkeit, die in jedem von uns ist mehr befriedige.“ (Niklas Luhmann in einem Interview)

Hier haben wir, denke ich, auch den Universalitäts-Begriff von dem Jérôme spricht, oder? Aber dieser Geschichtsbegriff hat überhaupt keinen zentralen Platz für Kontingenz. Denn die Geschichte läuft nicht zufällig, sie hat einen Sinn! Hier passt auch gut, der Selbstfindungsbegriff rein, der auf die Befreiung von einem entfremdeten Selbst aus ist. Das hat mit Selbsterfindung aber nichts zu tun! Zur Selbsterfindung, so wie ich es verstehe, gehört zwingend „Sensibilität für Zufälle“ (Luhmann) oder eine Achtung der Kontingenz.

Jérôme, ich sehe sehr wohl den Unterschied zu deiner Position, ich will dir nichts ‚unterschieben’ :) Du schreibst:„Das sehe ich als einen Übergang/Aufbruch zu etwas Neuem, das aber mit meiner Identität, oder besser der Summe meiner Identitäten möglichst wenig kollidieren soll, um mich nicht noch mehr verunsichern.“


Begriffe?

Worauf ich hinaus will, ist vielleicht eine Klärung der Begriffe ... Ich glaube, dass Robin zum Beispiel den Begriff Differenzierung ganz anders sieht und verwendet als z.B. Muzmuz und Jérôme. (Wenn Robin ihn denn überhaupt im Luhmannschen Sinne einer ‚horizontalen funktionalen Differenzierung’ benutzt sehen will.)

Jérôme schrieb zum Beispiel: „Die Mehrzahl der Erwerbstätigen sind doch nur relativ leicht ersetzbare Glieder einer Kette. Während ein Arbeiter (...) früher den ganzen Arbeitsablauf nicht nur kannte, sondern auch ausführen konnte, wird er heute nur für eine einzelne Phase des Prozesses eingesetzt - oft ohne Kenntnis davon, was 'vor ihm' und 'nach ihm' mit dem Produkt geschieht- seine Arbeit durch Maschinen/Computer ersetzt etc.“

Der Begriff der funktionalen Differenzierung, den Luhmann verwendet, spricht aber von unterschiedlichen Funktionssystemen, wie Recht, Religion, Kunst, Politik etc. Diese Systeme bestehen im übrigen gar nicht aus Arbeitern oder Künstlern usw., sondern aus Kommunikationen. Ich bin mir nicht sicher, ob man das im Rahmen dieses Threads ausarbeiten sollte. Vielleicht eher nicht, oder? Aber wenn alle dem Begriff Differenzierung einen anderen Sinn unterlegen, kann es natürlich auch zu Begriffverwirrungen kommen. Aber vielleicht habt ihr das ja in einem anderen Thread bereits geklärt.
 
Zuletzt bearbeitet:
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_its_not_from_me_

Der Begriff "Identitäts-Erfindung" wurde auch von mir nicht erfunden, gefällt mir aber sehr gut,
weil er sehr schön den kreativen Beitrag der eigenen Psyche zur Identitätsfindung ausdrückt.

Der kreative Beitrag kann bei der bewussten Wahrnehmung und bei der Bildung wirken.

Die eigene Identität ist ja nicht ein objektiver "hard fact" wie etwa ein Tisch, den wir bei
seiner Wahrnehmung nur in unserem Hirn irgendwie abzubilden und zuzuordnen brauchen.
Die Wahrnehmung der eigenen Identität ist vielmehr ein komplexer psychischer Prozess,
dem etliche andere psychische Prozesse, wie Selektion, Ergänzung, Bewertung, Gewichtung,
Willensbildung, Reflexion, etc., vorgelagert sind.

Auch sind bei der Bildung der Identität nicht alle Bedingungen von aussen starr vorgegeben,
sondern etliche der Bedingungen können vom Individuum innerhalb gewisser Grenzen gestaltet
werden. Ich würde die starr vorgegebenen Bedingungen (z.B. die genetische Ausstattung) am
ehesten mit dem Grundriss einer Wohnung gleichsetzen.
Selbst bei vorgegebenem Grundriss lässt sich der "Charakter" einer Wohnung durch entsprechende
Innenausgestaltung in weiten Grenzen variieren.

ERfindung der eigenen Identität erscheint mir deshalb als ein sehr treffender Begriff.

Das musste auch einmal gesagt werden.

lg nase
 
Fundstück aus den Tiefen des Internetzes zum Begriff Kontingenz :)

Was hat dieser Begriff in den letzten beiden Jahrzehnten für eine erstaunliche Karriere gemacht: Kontingenz. Zwei stilprägende Denker der Epoche - Richard Rorty und Niklas Luhmann - haben ihn ins Zentrum ihrer Theorien gestellt. Rortys populärstes Buch trägt ihn schon im Titel: Kontingenz, Ironie und Solidarität. Rorty spricht von der Kontingenz der Sprache, des Selbst und des Gemeinwesens. In Niklas Luhmanns bahnbrechendem Werk Soziale Systeme gibt es ein eigenes Kapitel über Doppelte Kontingenz als Schlüsselbegriff seiner Systemtheorie. Luhmann meint damit etwas, "was weder notwendig ist noch unmöglich; was also so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist".
 
@Neugier
Hat Luhmann auch immer gesagt, dass man ihn nicht zu ernst nehmen sollte...;) :zunge 5:

@itsnotme
Dass ich Ausdifferenzierung im Sinne von einem Übergang von einer stratifizierten zu einer funktionalen Gesellschaft sehe (eine Idee, die übrigens schon vor Luhmann da war), habe ich schon, glaube ich, im zweiten Beitrag diesen Threads klar gemacht.
Das was man heute postmodern nennt, ist aber noch nicht direkt Folge der funktionalen Gesellschaft; denn mit der ist man erst in der Moderne angekommen.
Die Ausdifferenzierung von Lebenswelten, von Meinungen, Rollenmodellen, kurz gesagt Optionen, korreliert zwar mit einer verstärkten funktionalen Ausdifferenzierung, kann man aber nicht monokausal darauf zurückführen. "Kontingente" Ereignisse, wie der Zusammenbruch der UDSSR, spielen ebenso eine Rolle wie die Entwicklung der Technik, die Entwicklung der Medien und globale Einflüsse. Das sind alles Aspekte, die man mit soziologischer Theorie zwar beschreiben kann, aber nicht Teil von ihr sind. Daher habe ich den Begriff der Postmoderne auch von Luhmann abgesetzt.
Wenn man das Thema nur auf Kommunikation beschränken wollte, würde es schwierig, denn dann müssten in der Tat alle einen bestimmten theoretischen Begriffsapparat verwenden. Und das scheint mir nicht nötig, zumal es ja auch um Psychologie, um Selbstbilder und um Personen geht.
Beim Unterschied Selbstfindung/Selbsterfindung würde ich dir zustimmen. Der wesentlichste Unterschied scheint darin zu liegen, dass das eine statisch wäre, dass andere sozusagen bewusst dynamisch. Trotzdem haben beide Begriffe gemeinsam, dass man sich beide Male verschätzen könnte, wie groß wirklich die Macht des "Selbst" ist. Und ein Selbstfinder könnte sich daran reiben, dass alles dynamischer ist, als er dachte, ein Selbsterfinder aber daran, dass ein Teil von ihm sich doch stark nach sicheren, statischen Zuständen zurücksehnt.
Im Grunde beschreibt das die Differenz, der sich jeder Mensch, - sich selbst beobachtend, postmodern lebend - ausgesetzt sieht.
 
Hi Robin,

Robin schrieb:
Dass ich Ausdifferenzierung im Sinne von einem Übergang von einer stratifizierten zu einer funktionalen Gesellschaft sehe (eine Idee, die übrigens schon vor Luhmann da war), habe ich schon, glaube ich, im zweiten Beitrag diesen Threads klar gemacht.
Du hast das erwähnt, aber klar gemacht? :) Einzwei Sätze werden da kaum genügen, wenn (!) man mit dem Modell nicht vertraut ist, oder?


Robin schrieb:
Die Ausdifferenzierung von Lebenswelten, von Meinungen, Rollenmodellen, kurz gesagt Optionen, korreliert zwar mit einer verstärkten funktionalen Ausdifferenzierung, kann man aber nicht monokausal darauf zurückführen.
Das war auch nicht mein Vorschlag. Mein Gefühl beim Lesen dieses Threads war aber, dass der Begriff 'Differenzierung' sehr unterschiedlich verwendet und verstanden wird.


Robin schrieb:
Beim Unterschied Selbstfindung/Selbsterfindung würde ich dir zustimmen. Der wesentlichste Unterschied scheint darin zu liegen, dass das eine statisch wäre, dass andere sozusagen bewusst dynamisch.
Statisch / dynamisch? Ja, gefällt mir. Wichtig ist mir: Der Begriff ‚Selbstfindung’ hat all die Probleme im Koffer, von denen hier gesprochen wird. (Weil es nichts zu finden gibt.) Während der Begriff ‚Selbsterfindung’ der Vorschlag für eine Lösung ist. Rorty wendet dieses ‚Prinzip’ auch auf den Begriff Solidarität an! Er sagt: „Solidarität wird nicht entdeckt, sondern geschaffen.“



Jérôme schrieb:
a) Was darf/kann/muss die Gesellschaft von mir erwarten/mir zumuten/fordern/einfordern, was bin ich ihr schuldig - ohne meinen Individualismus aufgeben zu müssen/ohne darunter übermässig 'leiden' zu müssen?

b) Was kann ich der Gesellschaft an Individualismus zumuten und dabei trotzdem gleichzeitig solidarisch, sozial und loyal bleiben?
Ich finde der folgende Text ist für diese Fragestellung die Fragestellung des Threads ganz interessant:

Rorty: "Die liberale Ironikerin"
(Kontingenz, Ironie und Solidarität S.14ff)

"Dieses Buch versucht zu zeigen, wie es aussieht, wenn wir die Forderung nach einer Theorie, die das Öffentliche und das Private vereint, aufgeben und uns damit abfinden, die Forderungen nach Selbsterschaffung und nach Solidarität als gleichwertig, aber für alle Zeit inkommensurabel zu betrachten. Es zeichnet eine Gestalt, die ich "liberale Ironikerin" nenne. Meine Definition des "Liberalen" übernehme ich von Judith Shklar, die sagt: Liberale seien die Menschen, die meinen, dass Grausamkeit das schlimmste ist, was wir tun.
"Ironikerin" nenne ich eine Person, die der Tatsache ins Gesicht sieht, dass ihre zentralen Überzeugungen und Bedürfnisse kontingent sind. "Ironikerin" nenne ich jemanden, der so nominalistisch und historistisch ist, dass er die Vorstellung aufgegeben hat, seine zentralen Überzeugungen und Bedürfnisse bezögen sich zurück auf eine Instanz jenseits des raum-zeitlichen Bereiches. Liberale Ironiker sind Menschen, die zu diesen nicht auf tiefste Gründe rückführbaren Bedürfnissen auch ihre eigenen Hoffnungen rechnen, die Hoffnungen, dass Leiden geringer wird, daß die Demütigung von Menschen durch Menschen vielleicht aufhört.

Liberale Ironiker sehen keine Antwort auf die Frage: "Warum nicht grausam sein?", keine nicht-zirkuläre theoretische Begründung für die Überzeugung, dass Grausamkeit schrecklich ist; auch keine Entgegnung auf die Überzeugung, daß Grausamkeit schrecklich ist; auch keine Antwort auf die Frage: "Wie entscheidet man, wann man gegen Ungerechtigkeit kämpfen und wann man private Selbsterschaffungspläne verfolgen soll ?" (...) Wer glaubt, es gäbe wohlbegründete theoretische Antworten auf Fragen dieses Typs - Algorithmen zur Lösung moralischer Dilemmata dieser Art -, ist im Herzen immer noch Theologe oder Metaphysiker. Er glaubt an eine Ordnung jenseits von Zeit und Veränderung, die festsetzt, worauf es im Leben ankommt, und eine Hierarchie der Verpflichtungen einrichtet.

Die ironistischen Intellektuellen, die nicht an eine solche Ordnung glauben, sind (sogar in den glücklichen, reichen, gebildeten Demokratien) eine kleine Minderheit im Vergleich zu den Menschen, die glauben, eine solche Ordnung müsse es geben. (...) Deshalb hat Ironismus oft den Anschein erweckt, als sei er dem Wesen nach nicht nur der Demokratie, sondern auch der Solidarität feind - einer Solidarität mit der Masse der Menschheit (...), die überzeugt (ist), dass eine solche Ordnung bestehen muss. Aber der Ironismus hat diese feindselige Einstellung nicht. Feindseligkeit gegenüber einer bestimmten, historisch bedingten und womöglich vorübergehenden Form von Solidarität heißt nicht Feindseligkeit gegenüber der Solidarität als solcher. Eine Absicht meines Buches ist es, die Möglichkeit einer liberalen Utopie vorzustellen: einer Utopie, in der Ironismus in dem Sinn, auf den es hier ankommt, universell ist. Eine post-metaphysische Kultur scheint mir nicht unmöglicher als eine post-religiöse und genauso wünschenswert.

In meiner Utopie würde man Solidarität nicht als ein Faktum verstehen, das erst durch das Ausräumen von "Vorurteilen" oder durch den Vorstoß in vorher verborgene Tiefen erkennbar wird, sondern auf ein anzustrebendes Ziel. Es ist nicht durch Untersuchung, sondern durch Einbildungskraft erreichbar, durch die Fähigkeit, fremde Menschen als Leidensgenossen zu sehen. Solidarität wird nicht entdeckt, sondern geschaffen. Sie wird dadurch geschaffen, daß wir unsere Sensibilität für die besonderen Einzelheiten des Schmerzes und der Demütigung anderer, uns nicht vertrauter Menschen steigern. Diese gesteigerte Sensibilität macht es schwieriger, Menschen, die von uns verschieden sind, an den Rand unseres Bewußtseins zu drängen, indem wir denken: "Sie empfinden nicht so wie wir", oder: "Leiden muss es immer geben, warum sollen nicht sie leiden?" (...)
 
Meine Kritik an einer solchen Utopie wäre ihr Selbst-Widerspruch. Denn man kann nicht eine Utopie postulieren, ohne die selben Mechansimen zu benutzen, die andere gescheiterte Utopien auszeichneten: Nämlich Antworten zu geben, die allgemein gültig wären. Wie soll man post-metaphysisch werden, wenn man selbst metaphysisch ist?
Hier täte Luhmann-Lektüre in der Tat gut, der sagt: DIe eine Seite der DIfferenz, führt die andere Seite, die Verneinung schon immer mit sich. So gilt es auch umgekehrt: Hinter der Handlung, feste philosphische Größen abzulehnen, kann nur wieder eine feste philosophische Größe stehen, so wie der Atheismus immer auch zur Ersatzreligion wird, wenn man ihn "bewusst" lebt. In diesem Sinne sind Leute, die gedankenlos jeden Sonntag zur Kirche trotten a-religiöser als streitbare Atheisten.
Ich verstehe auch nicht, warum eine Geisteshaltung, die, wie Rortys konstatiert, nur einen Bruchteil der Intellektuellen erfasst, auf die ganze Gesellschaft übergreifen soll?! Warum? Aus all dem strahlt eine sehr egoistische Haltung, mit inneren Widersprüchen klarzukommen. Dagegen ist nichts einzuwenden, ich erkenne auch einiges wieder, aber es taugt eben nicht als Utopie oder Postulat. Ich sehe auch nicht, wie man mit dem Widerspruch umgehen soll, dass man sieht, dass für bestimmte Ziele ein nicht-ambivalentes Weltbild besser ist: Will man zum Beispiel Klaviervirtuose werden, sollte man nicht andauernd in Frage stellen, wie wichtig Musik sein kann, genauso, wenn man sich in sozialen Diensten aufopfert. Auch frage ich mich, was eine Utopie taugen könnte, die man Kindern nicht beibringen kann. Jeder, der mit Kindern umgeht, wird mir zustimmen: EIne solche Geisteshaltung kann man einem Kind nicht beibringen. Ein Kind braucht für viele Jahre klare Vorstellungen und Ziele, oder anders gesagt: Wenn es überhaupt Ziele und Werte bildet, so kann es diese nur klar ausbilden. Die kognitive Struktur des kindlichen Gehirns lässt nichts anderes zu (ganz abgesehen davon, dass ein Gutteil der Bevölkerung in diesen kindlichen Strukturen verhaftet bleibt).
Desweiteren möchte ich an Schopenhauer erinnern, der zu seiner Zeit zu einem recht ähnlichen Schluss kam - nur hat man das als Pessimismus ausgelegt. Auffällig bei ihm: Die Hochschätzung des Mitleids. Er hielt es für die höchste Tugend des Menschen, auch wenn er ansonsten die Menschheit nicht zu Fortschritten fähig hielt. Ich frage mich, ob diese Prallele zufällig ist oder ob Rorty im Endeffekt nur eine Schopenhauerische Geisteshaltung in die Postmoderne hineinprojiziert?

Fazit: Vielleicht bin ich ein liberaler Ironiker, habe da nichts gegen, aber sie zu postulieren steht mir nicht der Sinn. Und vielleicht wäre eine Welt aus nur Ironikern auch ziemlich öde, meint ihr nicht? ;) :ironie:
 
Ich wusste doch, ich wusste doch: einer meiner "Hausphilosophen", Günther Anders hat in "Über diE Antiquitiertheit des Menschen" folgendes gesagt:

Nicht deshalb, weil es Selbstbegegnung gibt, wird " Identitätsstörung" erfahren; umgekehrt tritt Selbstbegegnung nur deshalb ein, weil es Störung gibt. (AI91)

Für unser Thema hier hieße das doch in etwas:
Nur weil es Ausdifferenzierungen gibt, ist es möglich, sich ( manchmal, manchmal) als ident zu empfinden.

Baba
Marianne
 
Robin schrieb:
Auch frage ich mich, was eine Utopie taugen könnte, die man Kindern nicht beibringen kann. Jeder, der mit Kindern umgeht, wird mir zustimmen: EIne solche Geisteshaltung kann man einem Kind nicht beibringen. Ein Kind braucht für viele Jahre klare Vorstellungen und Ziele, oder anders gesagt: Wenn es überhaupt Ziele und Werte bildet, so kann es diese nur klar ausbilden.
Rorty schrieb:
"Ironikerin" nenne ich eine Person, die der Tatsache ins Gesicht sieht, dass ihre zentralen Überzeugungen und Bedürfnisse kontingent sind. "Ironikerin" nenne ich jemanden, der so nominalistisch und historistisch ist, dass er die Vorstellung aufgegeben hat, seine zentralen Überzeugungen und Bedürfnisse bezögen sich zurück auf eine Instanz jenseits des raum-zeitlichen Bereiches.
Rorty schreibt nicht, es gäbe keine Überzeugungen! Im Gegenteil. Die Ironikerin hat zentrale Überzeugungen und Bedürfnisse. Warum sollte sie diese nicht ihren Kindern beibringen können!

“Hinter der Haltung, feste philosophische Größen abzulehnen, kann nur wieder eine feste philosophische Größe stehen“[...] „Ich weiß, dass ich nicht weiß“ ist auch - formal betrachtet - paradox. Dennoch ist es eine wertvolle Aussage. Rortys ‚feste philosophische Größe’ scheint sein ‚Antifundamentalismus’ zu sein. Kein philosophisches System kann irgendwelche sicheren Letztbegründungen geben, die sich „auf eine Instanz jenseits des raum-zeitlichen Bereiches“ zurückführen lassen. Möglicherweise ist diese Aussage paradox. (Sicher wäre ich nicht.) Mir ist dieser Einwand aber ein wenig zu formal. Mich erinnert Rortys Formulierung eher daran, dass alle Beobachter Beobachter mit Eigenschaften sind und es keinen ‚interesselosen Blick aus dem Nirgendwo’ gibt, keinen archimedischen Punkt von dem aus man alles sieht. (Ebenso wenig wie es nicht-zirkuläre theoretische Begründung gibt.)

“Ich frage mich, ob diese Parallele zufällig ist oder ob Rorty im Endeffekt nur eine Schopenhauerische Geisteshaltung in die Postmoderne hineinprojiziert?“ Ich denke, Rorty behandelt hier ethische Fragen – da ist die Frage nach Originalität vielleicht nachrangig, oder? Möglicherweise verstehe ich deinen Einwand aber auch falsch.

“Ich verstehe auch nicht, warum eine Geisteshaltung, die, wie Rortys konstatiert, nur einen Bruchteil der Intellektuellen erfasst, auf die ganze Gesellschaft übergreifen soll?! Warum?“[...] Ich verstehe es schon, glaube ich :) Eine Geisteshaltung, die sich in fundamentalen unumstößlichen Prinzipien verankert glaubt, zieht allzu gerne Kreuz gegen den Rest der Welt. Sie hat ja objektive Gründe. Eine Geisteshaltung, die aber überzeugt ist, dass ihre zentralen Überzeugungen und Bedürfnisse kontingent sind – mit welcher Begründung kann die kreuz ziehen? Sie hat keine.

Ich bin sicher kein kompetenter Verteidiger Rortys. Das Zitat sollte neugierig machen. Mich hat es auf jeden Fall neugierig gemacht. Sicher kann ich nicht aufgrund des Wenigen, was ich bisher von ihm kenne, kompetent urteilen - das möge man mir nachsehen :)
 
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_its_not_me_ schrieb:
Neben vielen logischen Gedanken ist mir einer aufgefallen, der mir etwas verdächtig ist, nämlich
„Ich weiß, dass ich nicht weiß“
Ist Dir da nicht ein orthographischer Fauxpas passiert ? Meintest Du nicht:
"Ich weiß, dass ich nichts weiß" (Sokrates), was durchaus nicht paradox ist ?

Bitte um Aufklärung !

LG
 
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Orthographischer Fauxpas? Ja!
(Denk aber bitte auch daran, dass ich das nicht 'absolut' behaupte, sondern mich auf etwas bestimmtes beziehe!)
 
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