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Ausdifferenzierung und Identität

R

Robin

Guest
Die zunehmende Ausdifferenzierung der Gesellschaft, oft unter dem Begriff der "Postmoderne" zusammengefasst, bringt Probleme der Identität des Einzelnen mit sich. Wer überfordert ist, sich aus dem "Angebot der Identitäten" sich eine eigene zusammenzubauen, fühlt sich eventuell heimat- oder orientierungslos.
Eine Art Massenidentifikation scheint es nur noch partiell und auf Zeit zu geben, z.B.:

- als negative Identität, in der Ablehnung von Neuem oder von Randgruppen
- als bemühte nationale Identität bei Sportereignissen, kurz hoch gekocht, schnell wieder vergessen

Ansonsten zerfällt die Gesellschaft in Partikulatinteressen, extreme Nischenbildung, Probleme der Kommunikation zwischen spezialisierten Individuen.

Das Phänomen birgt für den Einzelnen Vor- und Nachteile, aber auch für das Ganze:
- Menschen mit innovativen Ideen haben Probleme, hierfür genügend Menschen zu mobilisieren; Reformatoren scheitern an einer Selbstblockadehaltung der Gesellschaft.
- Dafür sinkt aber die Gefahr des populistischen Missbrauchs à la Hitler etc.
- Die mangelnde Eigeninitiative der Individuen hat zur Folge, dass die Gesellschaft nur noch verwaltet wird, Neuerungen mithin Bürokraten überlassen bleiben.

Seht ihr diese Tendenzen auch?
Überwiegen bei euch Vor- oder Nachteile, sowohl auf den Einzelnen wie auf die Gesellschaft bezogen?
 
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>Robin

Lieber Robin !
Die zunehmende Ausdifferenzierung der Gesellschaft, oft unter dem Begriff der "Postmoderne" zusammengefasst, bringt Probleme der Identität des Einzelnen mit sich.
Kannst Du mir Beispiele dafür sagen, dass sich die Gesellschaft ausdifferenziert (oder von außen ausdifferenziert wird) ?
 
Zeilinger schrieb:
Kannst Du mir Beispiele dafür sagen, dass sich die Gesellschaft ausdifferenziert (oder von außen ausdifferenziert wird) ?

Hallo Zeili,

Ausdifferenzierung allgemein bedeutet, dass eine Gesellschaft, die früher von Schichten bestimmt war (Adel, Kaufleute, Bauern etc.) heute sich über Funktionen bestimmt: Rechtswesen, Wirtschaft, Medien etc.

Die neuere Entwicklung ist, dass sich auch tradierte Rollenmodelle auflösen (Familie) sowie Orte der Identifikation(Kirchen) an Bedeutung verlieren.

Für einen einzelnen Menschen kann das bedeuten, dass er zum Beispiel sich von seiner Familie lossagt aber keinen Ersatz findet; oder er bildet eine so genannte "Patchwork-Identität", er identifiziert sich über das, was er liest, das was er kauft, die Filme, die er sich anschaut. DIes können dann auch widersprüchliche DInge sein, oft kolportiert wird das Beispiel eines Menschen, der zwar bei Aldi einkauft, sich trotzdem eine Rolex-Uhr trägt, der in experimentelle Theateraufführungen geht aber im Urlaub auf Mallorca auf den Putz haut usw.

Ein Beispiel kann aber auch Menschen sein, die sich via Internet zu Spezial-Comunities zusammenfinden, seltenen Hobbys fröhnen, spezielle Partnerschaften suchen und sich so eine Orientierung und einen Sinn verschaffen.

Dies kann die Kommunikation erschweren, weil die Ansprüche der Menschen gegeneinander ansteigen, was spezielle Interessen und Vorlieben betrifft.
Oder anders ausgedrückt: Außenseitertum wird nicht bestraft, weil Außenseitertum sozusagen normal ist.
Weitere Merkmale einer so strukturierten Gesellschaft können eine hohe Anzahl Single-Haushalte sein, geringe Geburtenrate, extreme Reiselust, aber auch Vereinsamung, permanente Sinnsuche, innerer Unfrieden, diffuse Sehnsüchte...
 
Ausdifferenzierung

Robin, ich gehe jetzt wieder von Deinem ersten Beitrag zu diesem Thread aus.

Wer überfordert ist, sich aus dem "Angebot der Identitäten" sich eine eigene zusammenzubauen, fühlt sich eventuell heimat- oder orientierungslos.
Angebot der Identitäten ? Kann ich nicht nachvollziehen. Angebot an (echten oder unechten) Vorbildern, ja. Eine Identität bekomme ich, indem ich mich selbst immer wieder frage, was ich bin - bis ich es weiß. (Individuell gesehen) positiv ist diese Identität dann, wenn ich mit dem Ergebnis meines Nachdenkens auch zufrieden bin.

Eine Art Massenidentifikation scheint es nur noch partiell und auf Zeit zu geben, z.B.:

- als negative Identität, in der Ablehnung von Neuem oder von Randgruppen
- als bemühte nationale Identität bei Sportereignissen, kurz hoch gekocht, schnell wieder vergessen
Ich nehme einmal an, dass Du mit Massenidentifikation meinst, dass sich eine Mehrheit zum Nationalismus, Individualismus etc. bekennt. Ist doch gut, wenn es die nur mehr partiell und temporär gibt ! Gut für die Vielfalt der Gesellschaft.

Ansonsten zerfällt die Gesellschaft in Partikulatinteressen, extreme Nischenbildung, Probleme der Kommunikation zwischen spezialisierten Individuen.
sehe ich nicht so sehr als Problem; spätestens dann, wenn sich Menschen überfahren oder ohnmächtig fühlen, suchen sie sich schon Verbündete.

Das Phänomen birgt für den Einzelnen Vor- und Nachteile, aber auch für das Ganze:
- Menschen mit innovativen Ideen haben Probleme, hierfür genügend Menschen zu mobilisieren; Reformatoren scheitern an einer Selbstblockadehaltung der Gesellschaft.
Alles hat seine Vor- und Nachteile. Was wir lernen müssen, ist, zu erkennen und abzuschätzen, was in einer Sache überwiegt, die Vor- oder die Nachteile.

- Dafür sinkt aber die Gefahr des populistischen Missbrauchs à la Hitler etc.
Das sollte jedem Demokraten willkommen sein.

- Die mangelnde Eigeninitiative der Individuen hat zur Folge, dass die Gesellschaft nur noch verwaltet wird, Neuerungen mithin Bürokraten überlassen bleiben.
Eigeninitiative ist eine Frage des Mutes und des sozialen Bewusstseins.

Seht ihr diese Tendenzen auch?
Überwiegen bei euch Vor- oder Nachteile, sowohl auf den Einzelnen wie auf die Gesellschaft bezogen?
Die Entwicklung von der Schichtengesellschaft zur Funktionsgesellschaft (um bei Deinen Ausdrücken zu bleiben) ist noch nicht vollzogen, ich halte den Trend aber für sozial und auch für irreversibel. Wir kriegen keine allmächtigen Monarchen oder andere Diktatoren mehr. Totalitarismus ist out.

Liebe Grüße
 
Robin schrieb:
Seht ihr diese Tendenzen auch?

Absolut! Wir haben uns im Laufe der Demokratie eine Multioptional-Gesellschaft geschaffen, die nicht nur Vorteile bringt.
Neben der Ausdifferenziertheit, gilt es, sich möglichst viele Optionen offen zu halten. Z.B. Kinder, erweiterte Familie, Verein, Partei etc. schränken ein, werden also vielfach verworfen, hinausgezögert, müssen aber trotzdem ersetzt werden, weil der Mensch ohne einen festen 'Ankerplatz' kaum auskommt. Befriedigt dieser Ersatz nicht, kann das natürlich zur Orientierungslosigkeit etc. führen.
Die Ursache, warum es viele trotzdem nicht ändern, kann Angst sein. Einerseits natürlich Angst vor 'Abhängigkeiten'. Ich denke aber auch an die Angst, die der italienische Philosoph Agamben -einer der einflussreichsten der Gegenwart- verdeutlicht. Wir leben in einem Ausnahmezustand. Die offensichtlichen Unterschiede zwischen Demokratie und Totalitarismus sind vielerorts gar nicht mehr so wesentlich. Die Demokratie läuft Gefahr, sich auszuhöhlen, was am Beispiel der Gewaltentrennung klar gemacht wird. Die Trennung zw. gesetzgebender und ausführender Gewalt wird unscharf, der Ausnahmezustand, in dem das Recht suspendiert ist, wird Normalität = eine normale Regierungsform. Ev. beeinflusst das -möglicherweise auch unbewusst- die Haltung '...wer weiss, wie lange es noch gut geht/mir gut geht...' des 'Ausdifferenzierten', ändert sie in eine rein egoistische.

Robin schrieb:
Überwiegen bei euch Vor- oder Nachteile, sowohl auf den Einzelnen wie auf die Gesellschaft bezogen?

Eine zwiespältige gute Frage!
Mit der paradoxen Antwort werde ich nicht mal ein kleines Abzeichen gewinnen -grins.
Robin, Du bist einer der angenehmsten Gesprächspartner, die man sich wünschen kann, aber auch einer der unangenehmsten! Ein Problematisierungsspezialist -grins. Ich bin ein introvertierter Egoist, der den Glanz und Elend der Philosophie darin sieht, sich immer in Vor- und Nachfragen zu verheddern. Und ich soll jetzt Abschied von dem mir Selbstverständlichen nehmen und extrovertiert irgendeine Ansicht verbreiten?

Ich sehe es als ein 'Zuviel' an Demokratie, die eine Flut von Meinungen erlaubt/fördert. Jeder darf zu allem eine Meinung haben und das in dieser beschleunigten Welt. Jeder von uns 'Meinungsmenschen' ist überzeugt, dass richtig ist, was er sagt, obwohl nur wenige auch einen ausreichenden Grund dafür haben, können gar nicht den Wahrheitsgehalt prüfen, weil die Dinge, zu denen man eine Meinung hat, viel zu kompliziert sind. Wer die Frage 'Ist Globalisierung gut oder schlecht?' mit Ja oder Nein beantworten kann, ist entweder ein Prof. Dr. Dr. oder geisteskrank oder beides. 'Sollen Drogen generell liberalisiert werden?' Ja oder Nein sagt entweder ein Junkie oder ein Ideologe.

Ich sage auf Deine Frage, was bei mir überwiegt -auf Gesellschaft bezogen: Ich weiss es nicht! Auf mich bezogen: die Vorteile.

Allein die Weltanschauung, dieser altertümlicher Ausdruck, der die Möglichkeit eines umfassenden Blickes der restlosen Befriedigung meiner erkenntnismässigen-rationalen sowie meiner emotionalen Bedürfnisse unterstellt, kann mir den Glauben an eine restlose Befriedigung kaum aufrecht erhalten. Ich kann nicht mal meine Patchwork-Ansichten von der Welt und von mir selbst zu einer kohärenten Weltanschauung zusammentragen. Also begnüge ich mit mit dem Stückwerk, weil ja ohnehin jedem Menschen bestenfalls Ausschnitte des Wirklichen gegeben sind. Das allein macht mich für absolute Weltanschauungen aber auch nur Antworten untauglich, was ich aber als positiv ansehe.

Mit meiner Identität habe ich keine Probleme. Die sehe und akzeptiere ich als Patchwork verschiedener Identitäten. Meine Haltung macht mir schon mehr Unbehagen. Ich schätze es, nicht mehr im grossen Rudel leben zu müssen, geniesse es als grosszügiger Egoist extrem ins Private zurückgezogen zu leben und mich -ausserhalb der Familie/Freundeskreises- nicht 'rudeln zu müssen'. -Falls der Duden die Expression 'sich rudeln' noch nicht kennt, so bittet diese um freundliche Aufnahme.- Es mag falsch sein, bzw. der Problemlösung nicht beitragen. Um aus diesem Dilemma rauszukommen und so wenigstens mir die Bereitschaft, Verantwortung auch 'ausserhalb' zu übernehmen, stelle ich mir jeweils bei Abstimmungen, Wahlen etc. die Fragen:

a) Was darf/kann/muss die Gesellschaft von mir erwarten/mir zumuten/fordern/einfordern, was bin ich ihr schuldig - ohne meinen Individualismus aufgeben zu müssen/ohne darunter übermässig 'leiden' zu müssen?

b) Was kann ich der Gesellschaft an Individualismus zumuten und dabei trotzdem gleichzeitig solidarisch, sozial und loyal bleiben?

Danach versuche ich zu leben.

Diese Fragen stelle ich mir auch im Privatleben. Allerdings formuliere und empfinde ich dabei differenter ;)
 
Nach Jerome zu schreiben, bedeutet für mich, mich selbst zu erniedrigen, denn seiner Wort- und Argumentationsgewalt halte ich nicht im geringsten stand.

Trotzdem, Robin; Du bringst immer wieder Fragenkomplexe, die mich auch beschäftigen.Was Du
Angebot der Identitäten
nennst, sehe ich eher als Fülle an Rollenangeboten. Und da hast Du sicher Recht, es ist eine Überfülle, die sich aber im Alter wieder reduziert, was ich aus Erfahrung sagen kann.

Ich möchte Deinen Ausdruck Identität nicht schmälern, aber es ist erwiesen: je gründlicher wir unsere Rollen übernehmen, desto mehr identifizieren wir uns mit ihnen. Ich will gar nicht viel mit Beispielen kommen: jeder weiß das aus eigener Erfahrung.

Und da bin ich - im Gegenteil zu Dir - der Meinung, dass es immer noch überschaubare Identifikationsmöglichkeiten gibt, soweit es das " wirkliche Leben" betrifft. Mann ist Mann, Sohn, Bruder, Geschlechtspartner Vater, Berufstätiger. Diese Standards ändern sich, werden durch das Alter variiert: Mann ( und auch Frau) entkommt ihnen aber nicht.
Jetzt sehe ich mal von der Gruppen der freiwilligen Rollenübernahmen ab - da hast Du zweifelsfrei Recht: diese Gruppen erhöhen sich ständig, sind aber nicht so konstant das Leben bestimmend. Wer hätte denn gedacht, dass ich auf meine "ollen Täg " das Angebot einer Internetcomunity nützen würde? Ich nicht!

Heimat oder orientierungslos
zu sein,kann mit einem Überangebot an Rollenmöglichkeiten zusammenhängen, kann aber auch ein Mangel des betreffenden Menschen sein, sich Gruppen anzuschließen.
Und da ist es wohl eher sekundär, ob es sehr große, gesellschaftsrelevante Gruppen ( Religionen, Parteien) sind oder - schlicht: Taubenzüchtervereine.Wir leben, wie Jerome so herrlich intellektuell sagt, ja schließlich in einer multioptionalen Gesellschaft.Arm ist eher der/ die, der/ die für sich unfähig ist, aus dem eigenen Brei rauszurüsseln.

Also: ich bin weder innovativ, noch rollenfixiert - habe deshalb keine Probleme mit der zunehmenden Ausdifferenzierung der Identitäten.
a) Jeder Mensch bleibt er selbst - das, was er in alle Rollen/ Identitäten reinbringt. Schlichte Gemüter mögen es Charakter nennen.
b) Jede neue Rolle/ Identität wird in dieses Ich reingewurstet.


Bevor ich anfange, uns mit Wurstsorten zu vergleichen, höre ich lieber auf....


Marianne, die Burenhaut :winken1:
 
hallo robin

Dein Ausgangspunkt ist richtig
Deine Erklärung
(Ausdifferenzierung innerhalb der postmodernen Gesellschaft)
ist Quatsch

AUSGANGSPUNKT
wir haben uns von allem möglichen und von uns selbst entfremdet

BEISPIELE
Strom kommt aus der Steckdose
(wie dieser produziert wurde, sehe ich dem Strom nicht an)

Essen kommt vom Supermarkt
(wie dieses produziert wurde, sehe ich der Packung nicht an)

Leben bedeutet, jung zu sein
(Familienmitglieder werden ins Altersheim abgeschoben)

ERKLÄRUNG
die Wissenschaften, die die Evolution bzw. die Schöpfung zu erforschen versuchen, werden derzeit ignoriert
und
die Sozial-Wissenschaften scheren sich einen Dreck um die Evolution bzw. um die Schöpfung

das ist das ganze Problem
 
Zuletzt bearbeitet:
Problematisierung, Angst, Verunsicherung

Jérôme, ich freue mich über dein Kompliment, auch gerade wenn es ein zwiespältiges ist.
Das Problem des Unwohlseins an der herrschenden Kultur wird und wurde immer wieder formuliert. Und wahrscheinlich immer von Leuten, die einen bestimmten Anspruch an sich selbst haben, wer weiß, woher der kommt. Da mag ein gewisser Masochismus dabei sein aber wahrscheinlich auch eine Identitätsverunsicherung als Voraussetzung.
Die von mir aufgegriffene Problematik war ja geradezu en vogue Ende der Neunziger, diskutiert auch in vielen Büchern, aber wie es scheint, ist sie hier im Forum nicht sehr präsent oder gar unbekannt und das gibt zu denken.

Einen Punkt habe ich noch leichtfertig unterschlagen und das ist der des Verlusts an Idealen durch den Zusammenbruch des Kommunismus. Es haben sich ja doch eine Menge Leute entweder mit oder gegen den Kommunismus identifiziert oder doch zumindest mit dem Ost-West-Blocksystem eine klar geordnete Weltordnung vorgefunden, die den Denkspielraum klein lies. Das mag dann Leute ganz existienziell treffen, etwa ehemalige Bewohner der DDR oder eher indirekt, Friedensaktivisten, Nato-Gegner, die nicht mehr so recht wissen, wohin mit ihrer Polit-Power. Die Globalisierungsgegner sind wohl die legitimen Nachfolger einer außerinstitutionellen Oppostition, doch deren Inhalte sind wohl zu komplex, um einer größeren Gruppe positive oder negative Identifikation zu stiften.

Rollen, Rudeln, Identitäten

Dies alles dann noch mit Medialisierung, Scheinidentitäten, zerfallenden Familien usw. zusammenzubringen ist natürlich ein überkomplexes Unterfangen, vor allem, wenn man womöglich noch die Prozesse mit einbezieht, die nach dem 11.9. stattgefunden haben.
Ich gebe dir Recht, Marianne, dass es sinnvoll sein könnte, zwischen Rollen und Identität zu differenzieren. Was Identität ist, ist sowieso schwer zu sagen. Sie ist generell ein Konstrukt, aber kein bewusst konstruiertes, sondern eines, das sich aus Fremd- und Eigenbild herausarbeitet.
Ich glaube, dass Rollen zur Identität beitragen aber auch die von Jérôme erwähnten Meinungen. Vielleicht stimmt es auch, dass es noch genug Rollenmodelle gibt, die Sicherheit geben. Du musst aber zugeben, dass sie bröckeln: Z.B.
Mann Verunsicherung männlicher Schüler; androgyne Rollenmodelle; Gender crossing; Idealisierung von Kommunikationsfähigkeiten, bei denen Männer im Nachteil sein sollen usw.
Vater: Kritik am Autoritätsmodell, Frauen, die weitreichende Beteiligung und Opfer bei der Erzeihung fordern; Schwierigkeiten, überhaupt eine Frau zu finden, die Kinder haben will etc.
Berufstätiger hohe Arbeistlosigkeit; zunehmende Unmöglichkeit, mit einem Durchschnittseinkommen eine Familie zu ernähren.

Das wären jetzt Beipiele, die das Ganze aus männlicher Sicht beleuchten. Hierbei wird natürlich vorausgesetzt, dass ein Großteil der Bevölkerung noch unbewusst oder bewusst in solchen Rollenerwartungen steckt, auch die "Aufgeklärten"

Das zweite sind, wie gesagt, die Meinungen. Bei Meinungen scheint es so zu sein, dass ein Teil der Menschen auf Meinungsunsicherheit/Vielfalt mit Zurückhaltung und Differenzierung reagiert - aber ein anderer Teil umso mehr mit einem übermäßigen Meinungsselbstbewusstsein! Dieser zweite Teil vertritt Meinungen umso rücksichtloser, schottet sich ab, hört nicht zu, neigt zu Beleidigtsein/Beleidigungen und beweist dadurch seine prinzipielle Verunsicherung. Es gibt also einen Teil von Menschen, die meinungsmäßg "schwimmen", dazu aber mehr oder weniger stehen, was sie aber nicht davor schützt, Ansgt zu haben. Und dann gibt es welche, die sich in Meinungskokons einspinnen, sich auf diese Weise der Kommunikation entziehen.

In der Summe ergibt sich aus diesen Aspekten ein Identitätsvakuum (was übrigens überhaupt nichts mit Entfremdung zu tun hat), auch wenn man im Grunde "derselbe" bleibt. Eine Identität ist ja so eine Art Projektion des eigenen Ichs. Dieses muss aufgefüllt werden und hierfür bietet dieselbe Gesellschaftsstruktur, die die Ursache darstellt, eben auch Abhilfe, eben die angesprochene Multioptionalität. Doch viele Optionen sind flüchtig und im Endeffekt fallen dann viele, wenn auch viel später als früher (!), auf tradierte Werte zurück, was ich überhaupt nicht kritisieren möchte.

Blieben noch die Auswirkungen auf die (politische) Gesellschaft, aber dazu vielleicht ein andres Mal.
 
Unwohlsein mit Unwohlsein

P.S.
Noch mal zum Unwohlsein an der Kultur: So was kann ja leicht selbstgefällig klingen. Ich glaube aber, im Gegensatz zu früherer Kulturkritik, schließt sich der Kulturkritiker der Postmoderne in die Kritik mit ein. Man hat auch hier nicht mehr die SIcherheit, sagen zu können, hier ich - dort die dumme/schlechte Gesellschaft, sondern sieht, dass die Begrenztheit an Besserungsmöglichkeiten auch die eigene Begrenztheit ist. Das hat Jérôme auch zum Ausdruck gebracht. Die Identitätsschwäche ist dann auch eine Schwäche des Kritikers: Nach welchen Kriterien kann er kritisieren? Anhand welcher Ideale? Sind nicht Idealisten und Kritiker vor ihm gescheitert? Usw.
 
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ich finde, diese differenzierung (angesprochen in wissenschaft, rechts, sozialbereich, etc...) ist eine grundlage wie auch eine folge des wohlstandes

wäre keine differenzierung eingetreten, dann müsste jeder ein selbstversorger sein
eine grundlegende differenzierung gibt es schon, seitdem es menschen gibt (jäger und sammler), je weiter die differenzierung fortgeschritten ist, desto mehr wohlstand hat die menschheit erreicht

dieser erreichte wohlstand ist zwar die lösung vielerlei probleme, aber wie es im leben so ist, wenn ein problem gelöst ist, tut sich ein neues auf

wie wohl jeder weiss, lassen sich menschliche bedürfnisse anschaulich in einer bedürfnispyramide darstellen
diese bedürfnisse werden von unten nach oben hin befriedigt
der wohlstand befriedigt die grundlegendsten bedürfnisse, ohne dass das individuum dafür viel zeit oder sonstigen aufwand aufbringen müsste

sind aber schon viele bedürfnisse befriedigt, konzentriert sich das individuum auf die noch nicht befriedigten, wie beispielsweise selbstfindung

in den armen regionen der welt, wie auch bei uns vor einigen jahrhunderten, aber auch jahrzehnten, hatten menschen nicht die zeit für selbstfindung
dort bzw damals waren die menschen mehr damit beschäftigt, den tag zu überleben bzw sihr überleben für die nächste zeit zu sichern

da zumindest in österreich kaum einen mehr die sorge plagt, wie er die nächsten tage überleben soll, widmet er seine gedanken anderen bedürfnissen

so gesehen halte ich die differenzierung (angesehen als problem) für selbstinduziert

lg,
Muzmuz
 
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