Mir wäre es lieber, diese Gelegenheit der Bewährung auszulassen und gleich deine Erfahrungen und Einsichten zu vernehmen.
*mein Heft raushole*
Großartiges solltest du von mir allerdings nicht erwarten, aber sehr gerne werde ich meine Erfahrungen sowie Einsichten darzustellen versuchen.
Am Anfang steht die Frage, was man von den Lernenden in der Schule eigentlich möchte. Hier herrscht meines Erachtens eine zunehmende Diffusion an Zielvorgaben, Ansprüchen und zum Teil nicht hinterfragten Idealen, die im offenen oder verdeckten Widerspruch zu weiterhin primär vorgegebenen Zielen stehen. Jene Ziele werden von der Gesellschaft und den allgemeinen Erfordernissen gesetzt und die Schule kann sich jenen nicht entziehen, ohne die eigene Relevanz grundlegend in Frage zu stellen. So wird spätestens das Abschlusszeugnis einer Schulform (in der Regel aber schon das Zeugnis davor) ausschlaggebend dafür sein, welche berufliche Qualifikation oder anschließender, weiterführender Bildungsgang besucht werden kann: Selektion und Allokation. Jede alternative Form der Beschulung, die bis dahin die notwendigen Kompetenzen zwar vermittelt, jedoch keine hinreichend vergleichbaren und klaren Leistungsrückmeldungen erbracht haben, müssen in der Folge spätestens hier diesen Erfordernissen ebenfalls genügen. Oftmals führt das zu Irritationen und Anschlussschwierigkeiten der Lernenden und gegebenenfalls zu Frustrationserfahrungen, die der bis dahin gewählte Lernweg womöglich erfolgreich umschiffen konnte.
Schule ohne Noten ist somit nicht per se abzulehnen, sofern an Stelle der Benotung eine taugliche alternative Bewertungsform praktiziert wird, die gegebenenfalls unkompliziert auch auf die konventionelle Leistungsbewertung übertragen werden kann. Meiner Erfahrung nach ist das aber mit größeren Problemen behaftet und es muss geleistet werden (Arbeitszeit und Kenntnisse). Verbalbeurteilungen wirken meist weicher und bieten somit weniger Potential für Kränkungen, sie sind jedoch entsprechend auch diffuser und weniger präzise hinsichtlich der jeweils erbrachten oder nicht erbrachten Leistung. Da sie in der Regel auf Grund der Rechtssicherheit und Effizienz formelhaft erstellt werden, ist letztlich die aufs Individuum bezogene vermeintlich erhöhte Aussagekraft nicht zwangsläufig tatsächlich auch gegeben. Individuelle Bewertungen oder gar die Persönlichkeit in der Ganzheit betreffende Verbalbeurteilungen halte ich also für praktisch nicht leistbar. Einerseits fehlt hierfür der Lehrkraft schlicht die Zeit, auf der anderen Seite sind wir keine Psychologen, die eine Persönlichkeit ganzheitlich erfassen und bewerten könnten/sollten. Mein Selbstverständnis als Lehrkraft ist, dass wir Wissen/Kompetenzen aufbereiten, bereitstellen und vermitteln und hierbei typische und pädagogisch handhabbare Lernprobleme berücksichtigen. Dazu gehört eindeutig nicht, dass wir z.B. emotionale oder kognitive Lernstörungen oder psychologisch anderweitig verwurzelte Lernblockaden lösen oder behandeln können sollten. Dafür sind wir nicht ausgebildet, dennoch wird uns das regelmäßig und vermehrt wie selbstverständlich zugemutet.
Zurück zu den Noten. Als Schüler haben mich Noten häufig beunruhigt, ich hatte nicht selten Angst vor schlechten Noten und hielt mich selbst für mangelhaft, wenn ich eine ebensolche Note in der Schule schrieb. Das lag aber - das sehe ich heute mit entsprechendem Abstand so - nicht an den Noten, sondern an der Bedeutungszuschreibung, die ich selbst diesen verlieh. Ursächlich war aber nicht mein kindliches Wertesystem, sondern das meiner Umwelt. Noten werden weithin missverstanden, fehlinterpretiert und überschätzt. Das ist ein Teil des Problems. Das andere ist vermutlich der Umgang unserer Gesellschaft mit unterschiedlich ausgeprägten Begabungen und Fertigkeiten. Wenn also z.B. ein Mensch eben - und sei es auch nur in einer frühen Phase des Lebens - weniger leistungsfähig, talentiert und motiviert ist als andere in der Vergleichsgruppe, so wird ihm dies negativ angelastet, schlimmstenfalls dies auf seine Persönlichkeit übertragen.
Noten sind weder objektiv noch eindeutig und schon gar nicht geeignet, Persönlichkeiten zu bewerten. Das sollen und wollen sie auch gar nicht. Wenn man sie aber einfach versteht und nutzt, sind sie sehr verlässliche Indikatoren einer jeweils erbrachten Leistung und Umsetzung vorher möglichst präzise bestimmter Leistungsvorgaben. Auch in solchen Schulfächern, die man naturgemäß eher für wenig objektiv und schwammig hält. Das habe ich erst wieder gemerkt, als ich meiner neuen Klasse im Fach Deutsch das Zeugnis schrieb. Ich kannte ihre Vornoten nicht, stellte aber fest, dass - bis auf wenige Ausnahmen, die aber insgesamt eine Leistungssteigerung oder Leistungsabfall hatten - meine Noten fast identisch waren mit den vorherigen. Das überrascht mich nicht (mehr), jeder Lehrer weiß, dass die Noten der Schüler auch untereinander (bei Klassenwechseln/Fachwechseln) in der Regel kaum variieren. Es kommt in der Praxis quasi nie vor, dass ein Schüler bei einem Lehrer in einem Fach eine 2 (gut) hat und bei einem anderen plötzlich eine 4 (ausreichend).
Ich könnte noch mehr schreiben, will aber die Leser nicht überrumpeln. Es sollte für einen ersten Eindruck reichen.