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Reise nach Indien-TOHASE-K.124

AlexKonrad

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1. Oktober 2005
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Reise nach Indien

Es war immer noch August, doch hatte die Hitze um einiges nachgelassen, weshalb ich mich am Morgen recht gelöst an die Maschine setzte und meinen Gedanken freien Lauf ließ. Wie es gerade kam, ließ ich Stationen meines Lebens vor meinem geistigen Auge Revue passieren, bis mich eine Sache zu fesseln begann. Es ging um die Indienreise, die ich zu Beginn der Achtziger mit meinem Freund Sebastian unternommen hatte, wobei unser Interesse allerdings weniger Indien, als dem Guru Bhagwan Shree Rajneesh gegolten hatte. Jener Shree Rajneesh, ein Inder und ehemaliger Dozent der Psychologie, dem eines Tages die Erleuchtung gekommen war, hatte in Poona, das zweihundert Kilometer südöstlich von Bombay liegt, ein Zentrum der Begegnung errichtet, um den neuen Menschen zu kreieren. Vorwiegend junge Leute aus aller Welt pilgerten zu Tausenden dorthin, um an allen erdenklichen Psychogruppen und Meditationsübungen teilzunehmen.
Begonnen hatte es für mich, wenn man so will, mit einer Talk-Show, die ich eines abends im Frühjahr desselben Jahres im Fernsehen verfolgt hatte. Eine junge Schauspielerin, die von der Presse als Filmsternchen und Groupie gehandelt wurde, berichtete über ihre Erfahrungen, die sie kurz zuvor in eben diesem Zentrum in Poona gemacht hatte. Sie regte sich furchtbar über eine Encounter-Gruppe auf, die so gewalttätig abgelaufen sei, dass sie sich oder man ihr, je nachdem, wie man es sehen will, einen Arm dabei gebrochen hätte. Die Schilderung dieser jungen Frau schien mir sehr wehleidig, außerdem, so, wie sie sich darstellte, kam sie mir absolut wie eine Zicke vor, was bei mir das Gefühl erweckte, dass sie es vielleicht verdient hatte, was mich alles in allem neugierig auf dieses Poona machte.
Auf diese Talk-Show folgte kurze Zeit später ein Artikel in einem Nachrichtenmagazin, den ich mit großem Interesse las. Und kurze Zeit später zeigten sie in einem kleinen Programmkino in der Stadt einen mehr als einstündigen Film über den Guru und sein Zentrum in Poona, den ich nicht versäumte, mir anzusehen.
Im ersten Teil des Films sah man Ausschnitte über das Leben im Aschram und immer wieder Bhagwan (der Erleuchtete) bei allen möglichen Anlässen inmitten seiner Anhänger. Der zweite Teil des Films zeigte vornehmlich Szenen aus den erwähnten Encounter-Gruppen. Man sah Männer und Frauen, die im Schneidersitz im Kreis auf einer Art Judomatte, die ganz den Raum bedeckte, auf dem Boden saßen. In der Mitte ihres Kreises agierte ein Mitglied der Gruppe, mal eine Frau, mal ein Mann: sie schrien, sie fluchten, sie weinten und schluchzten und schlugen dabei wie wild mit den Fäusten auf ein dickes Kissen ein, das stellvertretend für die Mutter, den Vater, die Ehefrau, den Ehemann, den Freund oder die Freundin oder für sonstwen herhalten musste. Starke Szenen. Animalisch. Wenn sich jemand in dieser Weise ausgetobt hatte, nahmen sich einer oder auch mehrere aus der Gruppe seiner an. Sie streichelten ihn, redeten ihm gut zu und so weiter. Und das Ganze nackt! Alle, wie sie agierten, waren sie nackt, einschließlich des jeweiligen Trainers oder der Trainerin.
Diese animalische Nacktheit, die wilde Ursprünglichkeit, in der die Menschen agierten, beeindruckte mich ungeheuer. Nie zuvor hatte mich etwas so fasziniert, so mitgenommen, so gepackt, so erregt wie dieser Film. Unwillkürlich musste ich mitweinen mit den Akteuren. Ich spürte selbst die Wut in mir, die manch einer von ihnen hinausschrie, aber auch Lust verspürte ich, Lust am Nacktsein, Lust, mich wie ein Wilder zu gebärden. Und als der Film zu Ende war, saß ich, wie die meisten anderen auch, noch eine geraume Weile wie benommen im Kinosessel, und während ich mich später vom Strom der Besucher aus dem Saal hinausdrängen ließ, sagte ich mir immer wieder:
Da muss ich hin! Da muss ich hin!
Draußen vor dem Kino fand ich meinen Freund Sebastian wieder, mit dem zusammen ich den Film gesehen hatte. Er war es, der mich auf ihn aufmerksam gemacht hatte. Ich wiederholte ihm meine Worte:
„Du, da muss ich unbedingt hin!“
„Jetzt beruhige dich erst einmal“, meinte er.
Ich glaube, er hatte Angst vor seiner eigenen Begeisterung, die er warum auch immer in sich niederkämpfen musste. Denn er war es wiederum, der einige Monate später zu mir kam und mich wie beiläufig fragte, ob ich nicht mit ihm mitkommen wolle, ob ich ihn nicht nach Indien begleiten wolle. Ich selbst hatte, wenn ich mich recht erinnere, die Sache beinahe schon wieder vergessen. Er breitete einen Stapel Seminarunterlagen vor mir aus und einige Bücher von und über diesen Bhagwan, und es brauchte nicht viel, mich zu überreden.
Nein, ich wollte in jedem Fall mitkommen, auch wenn ich mich bis dahin nicht weiter darum gekümmert hatte. Doch wäre er nicht gewesen, hätte ich die Sache sicher auf sich beruhen lassen. Wie es aussieht, hatte ich wohl größere Angst vor dem Abenteuer gehabt, als er.
Sebastian nahm die Sache in die Hand. Er machte mich mit dem örtlichen Rajneesh-Zentrum bekannt, sorgte dafür, dass wir die notwendige Gruppenerfahrung sammelten, was als Voraussetzung für die Teilnahme an Gruppen in Poona galt, und im August desselben Jahres waren wir dann so weit.
Von Frankfurt flogen wir mit einem Jumbo-Jet via Delhi nach Bombay, von wo aus wir mit dem Zug nach Poona weiterreisten. Es war ein wunderbarer Flug. Das erste Mal, dass mir das Fliegen Freude machte. Der letzte Flug davor in einer DC6 der Bundeswehr, von El-Paso über Neufundland und den Atlantik nach Köln-Wahn, war meiner Lust am Fliegen nicht gerade förderlich gewesen. Doch dieser Jumbo war absolut nicht zu vergleichen mit der DC6, die andauernd in ein Luftloch sackte. Geradezu majestätisch zog er seine Bahn durch die Lüfte. Ich kam mir vor wie auf einem Kreuzfahrtschiff. Man hatte den Eindruck, als gehörte er einfach da oben hin, wie er hoch über den Wolken dahinglitt.
In Delhi, wo wir zwischenlandeten, regnete es einen warmen Regen, der in feinen Streifen sanft hernieder fiel: die letzten Ausläufer des Monsun. Ich konnte es mir nicht verkneifen, nach vorn an den Einstieg zu gehen, um mir ins Gesicht regnen zu lassen. Mein erster Kontakt mit Indien. In meinem Kopf schwirrten Phantasien: Bilder aus Zeitschriften, Märchen, Filmen: In 80 Tagen um die Welt ... Elefanten ... Maharadschas ... sagenhafte Diamanten ... Witwenverbrennung ... Mahatma Ghandi! ... Etwas mulmig war mir bei dem Gedanken an die Menschen, die auf den Straßen lebten – und starben! Aber in Bombay sei es längst nicht so schlimm wie in Kalkutta, hieß es, und wenige Stunden später landeten wir eben dort.
Kurz vor der Abreise hatte ich einen Reiseführer gekauft, und während des Fluges hätte ich auch genügend Zeit gehabt, ihm ein paar nützliche Informationen zu entnehmen, z.B., wie man sich im alltäglichen Touristendasein zurechtfindet, was man bei Taxifahrten zu bedenken hat und so weiter. Doch ich fühlte mich absolut nicht als Tourist, weshalb ich auch bewusst darauf verzichtet hatte, eine Kamera mitzunehmen, was ich zwischenzeitlich hin und wieder bereute. Mittlerweile aber habe ich mich nicht nur damit abgefunden, keine Beweise für meine Reise präsentieren zu können wie andere, die ihre Schnappschüsse kreisen lassen als Zeichen ihrer wirtschaftlichen Potenz, sondern ich bin froh, dass ich die Kamera zu Hause ließ. Es ist mein Indien, das ich in der Erinnerung trage. Davon abgesehen ging es mir, wie ich schon sagte, um Psychogruppen, um nackte Leiber, um ekstatische Erlebnisse, um Grenzerfahrungen ...
Hätte ich mich etwas mehr für Indien interessiert, dann wäre unsere erste Taxifahrt sicher nicht zu einem Fall kapitalistischer Ausbeutung zweier Kapitalisten durch einen Dritte-Welt-Taxifahrer geworden.
Was für eine Blamage ...
Eine Bekannte hatte mir ein Geschenk für ein befreundetes indisches Arztehepaar mitgegeben, das ich als erstes loswerden wollte. Die beiden hatten in Deutschland studiert und sich nach ihrer Rückkehr in einem Badeort nördlich von Bombay niedergelassen. Juhu-Beach. Ein teures Pflaster für indische Verhältnisse ... Vom Flughafen bis dahin waren es vielleicht fünf, sechs Kilometer, für die der Fahrer uns an die fünfzehn Mark abnahm, eine Fahrt, die bestenfalls fünf Rupien hätte kosten dürfen – ungefähr eine Mark fünfzig. Wie die meisten Taxifahrer Indiens hatte er eine große Familie zu versorgen ...
Wir hatten knapp zwei Wochen Zeit bis zum Beginn der Gruppe, genug, um uns in Ruhe in Bombay umzusehen. Und weil uns Juhu-Beach sehr gefiel, nahmen wir dort ein Hotel und fuhren täglich mit dem Bus (einmal mit dem Vorortzug, ein Bein draußen hängend ...) die zwanzig oder fünfundzwanzig Kilometer zum Sightseeing in die Stadt.
Es war schon sehr beeindruckend, muss ich sagen. Es kam mir manchmal vor wie in einem Ameisenhaufen. Die ständig überfüllten Züge, an denen die Leute wie die Kletten hingen, die Autobusse, die Taxen, die sich hupend durch die überfüllten Straßen drängelten, die Menschenmassen, die sich durch die Straßen schoben ... Das alles vermittelte mir ein Gefühl von Lebendigkeit, wie ich es bis dahin nicht kennengelernt hatte. Dazu die vielen Menschen, die auf den Bürgersteigen lebten. Unter schrägen Dächern aus Plastikfolien, die an den Hauswänden befestigt und an den Bordsteinkanten mit Steinen beschwert waren, lebten ganze Familien: Großmutter, Großvater, Vater, Mutter und Kinder – mit Hund und Katze. Wenn man bei uns hört, dass die Menschen dort auf den Straßen sterben, schlägt man die Hände über dem Kopf zusammen, dabei ist es vollkommen natürlich: wir sterben da, wo wir auch leben. Das meine ich absolut nicht zynisch, nein, es gehört eben dazu. Es sind ihrer einfach zu viele, die in die Stadt drängen. Eine andere Frage ist, warum sie ein Leben auf den Straßen der Stadt einem Leben auf dem Land vorzogen. Aber das entzog sich meinem Einfluss.
Die Woche darauf fuhren wir dann weiter nach Poona – eine kleine Industriestadt, inmitten einer wunderschönen Gartenlandschaft. In einer alten Villa, die von blühenden Gärten umgeben war und die vormals einem reichen Händler aus Bombay gehört hatte, war das Zentrum mit dem Aschram untergebracht.
Einige Tage nach unserer Ankunft, die wir mit Ausflügen in die nähere Umgebung verbracht hatten, begann unser Turn. Der Kurs, der sich aus mehreren unterschiedlichen Teilen zusammensetzte, den wir von Deutschland aus gebucht hatten, dauerte insgesamt zehn Tage. Nach dem ersten Teil, mit dem schönen Titel Enlightment Intensiv (Erleuchtung intensiv), der drei Tage gedauert hatte, wurden wir erst einmal getrennt: Freunde wie Paare, so war es vorgeschrieben, sollten bei den künftigen Veranstaltungen nicht derselben Gruppe angehören. Es folgte eine eintägige Bioenergetik-Gruppe und schließlich eine sechstägige Encounter-Gruppe, die zweigeteilt war. Der erste Block von drei Tagen (es können auch vier gewesen sein) wurde von einer weißen US-Amerikanerin geleitet, die um die dreißig, allerhöchstens fünfunddreißig Jahre alt war. Ihr zu Seite, praktisch als Kotherapeutin, stand eine sehr schöne, gertenschlanke, schwarze Frau, mit reizvollen kleinen Brüsten (eine Gazelle, sage ich), die vielleicht zweiundzwanzig, höchstens dreiundzwanzig war. Im Gegensatz zu ihrer Kotherapeutin war die Leiterin eine fette Henne mit einem grobschlächtigen Gesicht, die auf einer Farm im mittleren Westen der USA hinter einem Pflug her schreitend sicher keine schlechte Figur gemacht hätte (natürlich ist es Wut, die mir diese Formulierung eingibt – sie hat es verdient!). Zudem waren die beiden, wie sich bald zeigte, ein Liebespaar, wogegen ich grundsätzlich nichts einzuwenden habe: als Therapeuten im Team aber macht es sie anfälliger für eine einseitige Behandlung der Geschlechter.
Zusammen mit den Leiterinnen waren wir vierzehn oder fünfzehn Personen in der Gruppe. Die Anzahl der Männer und Frauen hielt sich in etwa die Waage. Die meisten Besucher des Zentrums, die den unterschiedlichsten Nationen angehörten, waren unter oder um die fünfundzwanzig, was mir manchmal das Gefühl gab, nicht ganz dazuzugehören (ich war achtunddreißig und insgeheim der Ansicht, dass ich eigentlich über den Dingen stehen müsste). Offiziell wurde in den Gruppen Englisch gesprochen, und so weit die Teilnehmer die Sprache beherrschten, hielten sie sich auch daran. Wenn sie jedoch nicht mehr weiter wussten, benutzten sie die eigene Sprache, was beim Schreien, Weinen und Fluchen kaum einen Unterschied machte. Neben Engländern, Holländern, Amerikanern, Deutschen und zwei jungen Japanern gehörten der Gruppe zwei Italienerinnen an: eine junge, und eine ältere. Wobei die Ältere der Jüngeren mal mit mehr mal mit weniger Begeisterung übersetzte – ihre Gefühle mütterlicher Fürsorge lagen ständig im Clinch mit heftigen Eifersuchtsanfällen.
In die Jüngere verliebte ich mich gleich am ersten Tag sehr heftig. Und sie verliebte sich in mich! Ein Mädchen, sage ich ... eine Frau ... eine Figur ... hüftlanges, kastanienbraunes Haar, große, tiefsinnige, braune Augen, kaum älter als zweiundzwanzig. Eine Mona Lisa aus Fleisch und Blut. Was sage ich, die Mona Lisa ist ein Dreck dagegen.
Wir verbrachten einige wundervolle Stunden zusammen, in denen wir in den Gärten des Aschrams wandelten. Abends und in den Mittagspausen gingen wir gemeinsam zum Essen in die Kantine. Hand in Hand, wie Kinder, oder eng umschlungen, wie Liebende, je nach dem ... Manchmal blieben wir eine halbe Ewigkeit vor irgendeinem blühenden exotischen Busch, unter einem Baum oder nahe einer Hecke stehen, schmiegten unsere Körper aneinander, streichelten uns gegenseitig zärtlich und küssten uns. Bis unsere Romanze ein jähes Ende nahm.
Ich zerschlug unsere Liebe wegen der Idee einer ehrlichen Selbsterfahrung. Wie fast alles im Leben, das ich je begonnen hatte, nahm ich die Teilnahme an dieser Gruppe äußerst ernst. Ich wollte alles ganz, ganz genau machen, der Gruppenleiterin ein braver Schüler sein – schließlich war ich nicht zu meinem Vergnügen dort!
Es passierte am dritten oder vierten Tag nach der Mittagspause. Wie gewöhnlich fragte die Gruppenleiterin zu Beginn der Stunde, wer an sich arbeiten wolle, woraufhin ich mich nach einigem Zögern gemeldet hatte. Mir war ehrlich daran gelegen, an mir zu arbeiten. Meine Exehefrau hatte sich heimlich in mein Bewusstsein gedrängt, an die die Italienerin mich offenbar erinnerte. Sie hatte oft ein gewisses kindlich naives Kokettieren drauf, einen gewissen Augenaufschlag, ein Rollen mit den Augen, das mich wohl an Mara erinnerte, was unbewusst Ärger in mir hervorrief: Augen, die einem alles versprechen und nachher nichts halten ...
So, wie ich es z.B. auch von meiner Mutter kannte, mit der ich vor kurzem erst auf dieses Phänomen zu Sprechen kam. Wie so oft, wenn sie einige Leute um sich herum hatte, gab sie wieder einmal schrecklich damit an, wie sie den Jungen den Kopf verdreht hätte ...
„Alle schwärmten sie von meinen Augen ...“
„Ja!“ sagte ich ärgerlich. „Und wenn es dann zur Sache gehen sollte, hast du die Schenkel zusammengeklemmt!“
Ich war erstaunt, als sie daraufhin still wurde und nach einigem Überlegen antwortete:
„Ja, du hast Recht Junge ...“
Hierauf folgte eine erregte Auseinandersetzung mit meinem Vater, der sich bitterböse bei ihr beklagte und ihr zum Vorwurf machte, sexuell bei ihr zu kurz gekommen zu sein ...
Doch ich will bei meiner Italienerin bleiben. Ich hatte mich heftig in sie verliebt. Ich schwebte wie auf Wolken, wenn ich neben ihr herging. Wenn ich denke, wie ich den Duft ihrer Haut einsog, wenn ich mein Gesicht in ihren Nacken drückte ... Wie einer, der nach einer langen beschwerlichen Wanderung durch die Wüste nicht einfach das Wasser trinkt, dass ihm gereicht wird, sondern es mit all seinen Sinnen zu erfassen sucht als das, was es wirklich ist, was einem nur zu selten wirklich bewusst wird als das, was Leben spendet, was Leben erst möglich macht (ich muss unwillkürlich weinen bei diesem Gedanken). Das Leben bot sich mir dar in seiner ganzen Fülle, und ich – ich weiß nicht einmal mehr ihren Namen – ich schüttete das Wasser in die Wüste zurück, als hätte ich im Überfluss davon. Bloß weil ich immer alles ganz, ganz richtig machen will, weil ich nicht mehr nach rechts und nicht mehr nach links sehe, wenn ich einmal ein Ziel ins Auge gefasst habe. Wie ein Pferd, das mit Scheuklappen vor den Augen im Geschirr trottet.
Diese verdammte Selbsterfahrung! Warum konnte ich nicht wenigstens einmal die fünf gerade sein lassen?! Einmal nur! Nein, ich war angetreten, mich selbst zu erfahren, streng nach den Regeln, die der Guru mir vorgab. Was sage ich, die der Guru vorgab? Es waren meine Regeln, denen ich folgte – nicht die Bhagwans!
Dieses Mädchen, diese junge Frau, die mir ein Lebensquell zu werden versprach, erinnerte mich also wegen ihrer Augen, mit denen sie so wunderschön rollen konnte, an Mara, meine Exfrau, an meine Mutter und was weiß ich für Frauen, die mir irgendwann im Leben einmal übel mitgespielt hatten.
Die Gruppenleiterin hatte das natürlich sofort erkannt.
„Willst du daran arbeiten?!“ fragte sie mich in einem aufmunterndem Ton, begleitet von entsprechenden Gesten.
„Dann lass es raus! Gib es ihr!“
Die Kleine hatte nicht die geringste Ahnung, um was es ging.
Plötzlich fühlte ich eine unbändige Wut in mir hochkommen.
„JA!“ schrie die fette Wachtel.“ –
„JA! LASS ES RAUS! LASS ES RAUS!“
Ja, und dann war alles zu spät. Wie ein Berserker, wie ein Gewittersturm, fiel ich über sie her:
„... ELENDES MISTSTÜCK, DU! ... VERDAMMTE HURE! ... BLÖDE KUH! ... SCHEISS FOTZE! DU ...“
Weiß der Himmel, was ich ihr alles an den Kopf warf. Dazwischen immer wieder angefeuert, mal von der Gazelle, mal von der fetten Wachtel:
„JA! LASS ES RAUS! ZEIG ES IHR! ...“
Und ich zeigte es ihr, bis ... Ja, bis diese schöne Blume zertreten war, bis sie in meinen Anwürfen versank, wie in einem tiefen Loch von Scheiße, und sie zu weinen begann, und ich mir bewusst wurde, was ich da angestellt hatte, ich mir klar wurde, dass ich unsere Liebe soeben erstickt hatte – in meiner eigenen Scheiße ertränkt. Und die schwarze Gazelle und die fette weiße Wachtel klatschten Beifall.
Nicht nur, dass ich diesem Mädchen von da an nicht mehr in die Augen sehen konnte – keinem in der Gruppe konnte ich je wieder in die Augen blicken. Und auch von den anderen kam keine erlösende Geste.
Ich frage mich, wie ich die restlichen Tage durchgestanden habe, jedenfalls war ich trotz allem weiterhin bemüht, das Beste daraus zu machen und mich selbst zu erfahren.



© Alexander Konrad
 
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