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Meine Kreuzfahrt: Ironie ist das Wesen des Romantischen

Corsario

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6. Dezember 2007
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248
:geist:Dass ein gelehrtes Werk wie Rüdiger Safranskis Buch über "Romantik" bis an die vorderen Plätze der Bestellerlisten vordringen konnte, ist selbst schon ein Zeitzeichen!

Safranskis Buch präsentiert sich als das Panorama einer Epoche: der deutschen Romantik. Was die Fachkritik bemängelte, nämlich dass ihm ein bisschen der rote Faden und die besondere Pointe fehle, war sicherlich die Voraussetzung für dessen Erfolg beim großen Leserpublikum. Es werden keine schwindelerregenden Interpretationen entwickelt, kein extravagantes Garn gesponnen, sondern mit kräftigen Strichen das Bild einer geistigen Bewegung entworfen, die wie keine andere die Kultur der Deutschen bis heute geprägt hat.

Im guten oder auch in einem schlechten Sinn?

Dass diese Frage eine vieltausendköpfige Leserschaft bewegen konnte, eignet sich selber zu jener besonderen Pointe, an der es Safranskis Darstellung fehlt! Wenn man es nämlich als eine Antwort auffasst auf die Frage, ob unsere Zeit für eine NEUE Romantik "reif" ist.

Der spezifische Charakter des Romantischen sei das Ungewisse, wird Oscar Wilde zitiert. In der voran gegangenen Epoche der Aufklärung und des Rationalismus hatte es nur "noch"-Ungewisses gegeben: Morgen schon würde es gewiss geworden sein; oder doch wenigstens gewisser. Die Romantiker, die ab 1794 in Jena auftraten, meinten hingegen, dass gerade das, worauf es am meisten ankommt, seinem WESEN nach ungewiss ist.

Die Grundüberzeugung vom ebenso grenzenlosen wie unaufhaltsamen Fortschreiten der Erkenntnis teilen die positiven Wissenschaften mit dem Rationalismus, und müssen es. Sie haben den Siegeszug der Großen Industrie ermöglicht, dem die romantische Ungewissheit nicht lange widerstehen konnte. Dennoch war die romantische Grundhaltung der wesentlichen Ungewissheit das Moderne an der Moderne. Das positivistische Selbstvertrauen des Industriezeitalters war eine kostspielige Täuschung.
Wir stehen am Ende des industriellen Zeitalters und wissen nicht, was nachher kommt. Mehr Ungewissheit war nie. Kein Wunder, dass das Romantische neue Zuwendung erfährt. "Anything goes"?! Die 'Postmoderne', die uns die wieder wachsenden Ungewissheiten der Welt zu einer permanenten Casting-Show verharmlosen wollte, hat fertig. Das Ungewisse ist eine ernste Sache.

Aber nur mit Ernst, nur in Ungewissheit lässt sich das Leben nicht aushalten. Würde ich tatsächlich an Allem und Jedem zweifeln, das mir begegnet, würde ich kaum die nächste Viertelstunde über die Runden bringen. "Wohl wissend", dass ich in einer Welt lebe, in der "nichts gewiss" ist, muss ich doch immer SO TUN, ALS OB.

Und das Bewusstsein davon, dass dies so ist, nannten die Romantiker IRONIE.

Der im Alltag eingerichtete Normalmensch, der seinen Geschäften nachgeht und auf seinen Vorteil achtet – wissend, dass, wer nehmen will, auch geben muss -; also derjenige, den die Romantiker einen PHILISTER nannten: der kennt Ironie nur als ein Stilmittel, das ihm gelegentlich gute Dienste leistet. Der hält sich unter der Woche die Ungewissheiten auch sorgsam vom Hals und hebt sie auf für die Rateshow am Samstagabend (und es ist wahr, ihrer sind noch viele). Ironie verwenden sie nur als List, und darum misstrauen sie ihr bei allen Andern.

Romantische Ironie ist aber eine Weltsicht. Im Wortlaut der Sätze muss sie sich gar nicht zu erkennen geben. Sie ist vielmehr die Folie, vor der sie überhaupt erst ihren… na ja, ihren "Sinn" erhalten, der eben nicht Ja ja, nein nein lautet, sondern sozusagen "in der Schwebe" ist. Und fragt man: "Meinst du das ernst?", dann heißt es: "Wie man's nimmt." Den alltäglichen Verkehr erleichtert es nicht. Das war auch nicht der Ehrgeiz der Romantiker. Denn die Ungewissheit war ihnen ja nicht nur Verlust an Berechenbarkeit – den begrüßten sie gar noch! Sie war ihnen vor allem: der Gewinn neuer Möglichkeiten. Und die fangen immer erst einmal mit neuen Denkmöglichkeiten an:

"Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es", lautet ein Satz von Novalis, den Safranski immer wieder zitiert. Und als den vollendeten dichterischen Vertreter dieser IRONIE (die Theoretiker waren Novalis und Fr. Schlegel) nennt er völlig richtig E.T.A. Hoffmann, bei dem ein Archivarius auch mal als Salamander und eine Alraune auch als Minister auftritt. Es ist nicht so; aber wenn es so wäre?

Es ist witzig. Aber ist es Scherz und Laune? "Witz ist eine ernste Sache", sagte Johann Gottlieb Fichte, in Jena der philosophische Leuchtturm der frühen, der wahren Romantik. Denn wer immer es ganz, ganz ernst nimmt mit den Sachen, findet "im Grunde" – wenn überhaupt – nur ein Paradox. Was ist 'das Wahre'? "Wie sollte nicht jeder Satz über das Absolute und Transzendente nur unter ironischem Vorbehalt gesprochen werden Dürfen? Endliches zu sagen [andere Wörter haben wir ja nicht, J.E.] über das Unendliche kann und darf nur ironisch sein. Ironie gehört deshalb in jede Philosophie, die das Ganze zu begreifen versucht", schreibt Safranski, und schließt mit dieser Frage Friedrich Schlegels: "Ist sie nicht wirklich die innerste Mysterie der kritischen Philosophie?"

Bei der Epoche, die nun untergeht, handelt es sich nicht bloß um zweihundert Jahre Kapitalismus und Industriezeitalter. Das Eindringen der Neuen Medien und Informationstechniken in die materiellen Fertigungsvorgänge selbst kündigt das Ende von zehn-, zwölftausend Jahren Arbeitsgesellschaft an. Doch wie bei den alten Griechen zwischen zwei Tragödien zur Erholung eine Komödie geschoben wurde, haben wir zunächst einmal die Farce der "Postmoderne" erlebt. Da war nur Geistreichelei und keine Ironie – die wäre ihr "zu ernst" gewesen. Die Frage nach dem Wahren führt nämlich erst dann in ein Paradox, das nur in Ironie zu ertragen ist, wenn man sie sich STELLT.

In diesem Sinne – dass die Zeitenwende, die auf uns zu kommt, ernst genug wird, um uns zu der Frage nach dem Wahren zu veranlassen, für deren paradoxalen Gang wir uns schon jetzt in Ironie rüsten sollten – glaube ich wirklich, dass uns eine "neue Romantik" und, wenn man es so will, eine Neue Moderne bevor steht.

Und weil wir Deutschen eben eine romantische, will sagen zwiespältige und paradoxale Nation sind, müssen wir uns vielleicht wieder einmal hervor tun.
 
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AW: Meine Kreuzfahrt: Ironie ist das Wesen des Romantischen

Hallo Corsario,

deine Beiträge tönen alle sehr interessant, gelehrt und fundiert.
Allerdings weiss ich nicht recht, ob du wünschst, dass sie auch diskutiert werden.

Manches verstehe ich nicht ganz, zB

Dennoch war die romantische Grundhaltung der wesentlichen Ungewissheit das Moderne an der Moderne. Das positivistische Selbstvertrauen des Industriezeitalters war eine kostspielige Täuschung.

Auf die Gefahr hin etwas beschränkt zu erscheinen: Was meinst du genau damit?

Wir stehen am Ende des industriellen Zeitalters und wissen nicht, was nachher kommt. Mehr Ungewissheit war nie.

War das nicht immer so, dass man nicht wusste, was nachher kommt?

herzliche Grüsse
Ela
 
AW: Meine Kreuzfahrt: Ironie ist das Wesen des Romantischen

Hallo Ela,

natürlich hätte ich es gern, dass meine Beiträge diskutiert werden! Sonst würde ich sie doch nicht in ein 'Forum' stellen. Klingen sie ein bisschen zu bestimmt und kategorisch? Den richtigen Ton werde ich finden in dem Maß, wie ich das DENKFORUM kennen lerne. Ich bitte um etwas Geduld!

Das Moderne an der Moderne ist die Grundhaltung: 'Das Wichtigste, worum es uns geht, ist im Wesentlichen ungewiss.' Der "moderne" Mensch steht Tag für Tag immer wieder vor lauter Fragen; und zwar nicht von der Art: 'wie ist dies und das beschaffen?' - darauf gibt die moderne Wissenschaft immer genauere Antworten. Sondern auf Fragen von der Art: 'Und was soll ich in meinem Leben damit anfangen?' Also nicht (wenn ich so sagen darf) die 'Seins'-Fragen, sondern die 'Sinn'-Fragen.

Ich wollte sagen: Am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts hat die Romantik die richtigen Fragen gestellt; sie wurden aber dann vorübergehend übertönt vom Lärm der industriellen Revolution. Die war voll und ganz von sich selbst überzeugt und glaubte fest an den "Fortschritt" (das war sie selber!), etwas 'Ungewisses' kam wieder nur vor als NOCH-ungewiss: aber morgen schon viel gewisser! Die ungebrochene Zuversicht in den Fortschritt, der man SELBER war, hat uns in die lange Reihe der Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts geführt - sie war eine "kostspielige Täuschung".

Damit - wollte ich sagen - ist es am Ende des Industriezeitalters nun vorbei: Mehr Ungewissheit als heute war nie!

War das Leben aber nicht schon immer ungewiss? Mehr oder weniger ungewiss war immer, was genau morgen passieren wird (aber, wage ich zu sagen: ganz so ungewiss wie heute selten). Ganz und gar gewiss - oder, was auf dasselbe hinausläuft: so SELBSTVERSTÄNDLICH, dass man gar nicht davon Reden muss - war der SINN des Ganzen! Solange das Leben von der christlichen Religion geprägt war, fanden Welt und Leben ihren Sinn durch ihren Platz im göttlichen Weltplan. Von dem wusste man zwar nicht im Einzelnen, wie er ausah. Aber GEWISS war er!

Im Lauf des achtzehnten Jahrhunderts - in den gebildeten Klassen; in den unteren Klassen erst nach und nach - trat an die Stelle des Vertrauens in den göttlichen Ratschluss dann das Vertrauen auf die Fortschritte der Vernunft.

Tja - und das ist nun auch vorüber!

Alles beantwortet?

Gruß
Corsario
 
AW: Meine Kreuzfahrt: Ironie ist das Wesen des Romantischen

@Corsario
Ungewiss ist die Vorstellung von der Zukunft, die Realität der Zukunft selbst aber nicht. Im Menschen ist und war immer Ungewissheit. Ich bezweifle auch, dass sie jemals verfliegt.

Vor 2300 Jahren sagte schon jemand, er wisse, dass er nichts weiss.

Gewiss wird durch Glauben und Wissen nichts. Gewiss ist, was ist, nicht, was sein oder gewesen sein hätte können.

Es herrscht nicht mehr Ungewissheit, es herrscht nur mehr Bewusstsein über die Nichtigkeit des Wissens.

Weil du sie ansprichst: Religionen bieten mir nicht mehr, als Fluchtwege vor dem Bewusstsein gegenüber der Tatsache, keine Kongruenz zwischen Wahrheit und Glaube erreichen zu können.

Du sagst, du könntest es nicht aushalten und nicht damit leben, ständig nach dem Sinn zu fragen. Hast du es schon ausprobiert?
 
AW: Meine Kreuzfahrt: Ironie ist das Wesen des Romantischen

@deadlydude: Nichts ist ungewisser als "was ist". Ist es die wechselnde Erscheinung? Das sagt Heraklit. Nicht zweimal könne man in denselben Fluss steigen...
Oder ist es das Ewige Sein? Das sagt Parmenides. "IST oder ist NICHT"; alle Veränderung ist Täuschung.
Plato (der sich in seinen Dialogen als Sokrates verkleidet) wollte aus beiden eine Synthese herstellen: Das wahre Sein sind "die Ideen".

Was davon ist Deiner Meinung nach gewiss?
 
AW: Meine Kreuzfahrt: Ironie ist das Wesen des Romantischen

@Corsario

Intuitiv: Alles in Allem.

In Worten Blixa Bargelds:
Was ist, ist nicht möglich.
Was nicht ist, ist möglich.


Das wahre Sein sind Ideen. Was sind aber die Ideen der Ideen (Mensch/Ich/Du / Ego)?

Ich schließe, indem ich sage "Gewiss ist, was ist, nicht, was sein oder gewesen sein hätte können", nicht aus, dass das Seiende für jedes Ego ein anderes ist. Gegenteilig möchte ich behaupten, das Seiende ist für alle anders. Sogar ist das Seiende für sich selbst anders, wennglich das "Andere" Seiendes und Mögliches zugleich ist.
 
Zuletzt bearbeitet:
AW: Meine Kreuzfahrt: Ironie ist das Wesen des Romantischen

Vielen Dank, Corsario!
Jetzt hab ichs verstanden.
Ich lese weiter mit grossem Interesse.

:blume1:
 
AW: Meine Kreuzfahrt: Ironie ist das Wesen des Romantischen

@deadlydude: Ich verstehe Dich nicht.

@Ela: Stets zu Diensten!

Guten Abend
wünscht
Corsario
 
AW: Meine Kreuzfahrt: Ironie ist das Wesen des Romantischen

@Corsario
Gewiss ist, dass, wenn ich in denselben Fluss steige, das Ewige sein Ende findet, das nicht ist, war oder sein wird, weshalb Veränderung im Statischen zu erahnen ist.

=Alles in Allem.
 
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AW: Meine Kreuzfahrt: Ironie ist das Wesen des Romantischen

:clown2:@deadlyduke: Ironie ist nicht dasselbe wie Dada; sondern teils weniger, teils mehr.
 
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