Nun leben wir in einer anderen Zeit, und die Motivation ist eine andere : Jeder handelt danach, dass er sich selbst und ihn die anderen für einen guten Menschen halten. Das individuelle Handeln und die Interaktion richten sich danach. Das ist neu. Ich glaube nicht, dass es das in der Weltgeschichte schon einmal gegeben hat.
Da bin ich völlig gegensätzlicher Meinung. Noch nie konnte sich ein Einzelner so sehr für einen schlechten Menschen gehalten werden und trotzdem gut und sicher leben wie heute. Noch vor einigen Jahrhunderten reichte es schon, ohne Beweis für einen schlechten Menschen gehalten zu werden, und man wurde in der Regel verstoßen oder gar getötet.
Auch heute noch sieht man in den "ursprünglicheren" Regionen auf dem Land die Lebensweise gemäß "was werden die Nachbarn darüber denken". In einer modernen, anonymen Großstadt ist das weit weniger ausgeprägt, obwohl man räumlich noch näher beieinander lebt als auf dem Land.
Auch ist es leicht verständlich, dass in einer Gesellschaft, in der sich der Staat im Fall der Not um einen kümmert, weniger wichtig ist ein guter Mensch zu sein als in einer, in der Nachbarn und Freunde diese Aufgabe übernehmen. Der Staat fragt nicht, ob du ein "guter Mensch" bist.
Sich selbst für einen guten Menschen halten zu wollen allerdings ist in gewisser Weise neu. Erst mit steigendem zivilisatorischem Wohlstand hat der Mensch die Zeit und die Muße, sich intensiver unter moralischen Aspekten selbst zu hinterfragen. Jemand, der ständig um sein Überleben kämpfen muss erörtert moralische Fragen nur wenig - außer, sie haben direkten Einfluss auf sein Überleben ("wie werden die Nachbarn darüber denken ?").