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Das Leiden wird mir lieb

louiz30

Well-Known Member
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1. Dezember 2005
Beiträge
1.789
Die Welt.de vom 17.02.2006
Link: http://www.welt.de/data/2006/02/17/846814.html

"Ist die Merkel-Euphorie nur dünner Firnis? Nagt die allgemeine Welt-Depression weiter am deutschen Gemüt? Anders gefragt: Kriegt Deutschland mit der großen Berliner Melancholie-Ausstellung "Genie und Wahnsinn in der Kunst" die Schau, die es verdient?

Steil und clever ist die These, die die Berliner Kuratoren an die Ausstellung anlegen: Nie war eine Gesellschaft so melancholisch wie heute. Das klingt interessant, zieht Jung und Alt an und läßt grübeln über das Land der Dichter und Denker, die deutsche Seelentiefe, den deutschen Schuldkomplex, der immer schon ein Nährboden war für die Melancholie. Über Nietzsche, Freud, Kant, Novalis, Hölderlin. Der Brückenschlag zur Gegenwart ist bewußt gewählt. Der "gestus melancholicus" bleibt niemandem verborgen. Wir leben, glaubt man der Studie des European Brain Council (EBC), in einem "Europa der Angst und Depression": Rund 127 Millionen EU-Bürger leiden an psychischen Krankheiten. Im Pariser Grand Palais, wo die Ausstellung bis Januar zu sehen war, fanden täglich über 4000 Besucher den Weg zur Kunst der Einsamkeit. Ein Rekordergebnis. (...)"

Verfallen wir in Melancholie, Depression und Weltschmerz?
Wenn ja, was sind die Gründe?
 
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Und was ist deine Meinung zum Thema, Fusselhirn?
Ich tue mich schwer mit meiner Meinung, WEIL ich Fromm gelesen habe. :D
(Würde mich gerne mal mit dir über Fromm unterhalten, lust? )

Ich glaube wir verfallen nicht in Melancholie. Ich nehme es zumindest nirgends wahr. Genauso wenig wie den Weltschmerz. Vielleicht haben wir aber auch nur andere Vorstellungen von diesen beiden Begriffen.

Depression! Ein klares Ja, von meiner Seite.
Du hast nach einem Grund gefragt, hmm, dazu fällt mir ein Zitat ein:
"Der Mensch von heute hat alles, er leidet an sich selbst" (oder so ähnlich)
 
Louiz30 schrieb:
Verfallen wir in Melancholie, Depression und Weltschmerz?

und:

Fusselhirn schrieb:
Ich glaube wir verfallen nicht in Melancholie. Ich nehme es zumindest nirgends wahr. Genauso wenig wie den Weltschmerz. Vielleicht haben wir aber auch nur andere Vorstellungen von diesen beiden Begriffen.

Ein sehr interessantes Thema über das ich nachdenken musste. Vorläufig gehe ich nur so viel auf die Ausstellung ein - ich kenne sie leider nur aus Rezensionen - um vielleicht die Frage von Louiz - ob wir in Melancholie verfallen - versuchen zu beantworten.

Zeigt denn das große Interesse an dieser Ausstellung in Paris und nun hier, dass wir uns mit diesem Gefühl tatsächlich auch identifizieren? Ich denke nicht. Und neu ist die Beschäftigung mit der Melancholie gar nicht. Die Melancholie hat die Menschheit schon seit Jahrtausenden beschäftigt.
In der Ausstellung sind Darstellungen der Melancholie aus zweiienhalbtausend Jahren der Kunst. Traurigkeit kennen wir alle - und die Melancholie ist ihr ja eine nahe Verwandte.
Doch ist dieses Gefühl nicht auch eine Ausseinandersetzung mit der Welt - und wie diese auf uns wirkt?

Bemerkenswert, wie früh diese Ausseinandersetzung anfängt und wie sehr die Künstler der Melancholie ein "Gesicht" verleihen.
Von Ajax, den griechische Helden, den eine kleine Bronzestatuette aus dem 1. Jahrhundert v.Chr. zeigt, Ajax der seinem Leben ein Ende setzen möchte wegen der erlittenen Erniedrigungen, bis zum Koloss den Rock Mueck 2000 geschaffen hat - und der mit dem Ausdruck eines schmollenden Kindes in einer Ecke sitzt - alle Exponate bezeugen das sehr alte Interesse an der Melancholie.

Melancholie wurde auch immer mit Genie assoziiert, und Genie mit Wahnsinn. Auch das erklärt vielleicht die Beschäftigung mit diesem Gemütszustand.

Wie wird die Menschheit fertig mit diesem Gefühl?
Gérard Régnier der ehemalige Direktor des Picassomuseums in Paris, hat diese Ausstellung 12 Jahre lang vorbereitet. Er sagt einiges zur Melancholie, zum Ertragen des Schmerzes, das uns vielleicht auch ein Antwort gibt:

"Nach Aristoteles ist Melancholie die Kraft, die alle durchströmt, die in irgendeiner Form schöpferisch sind. Poeten, Philosophen, Musiker, Bildhauer. Und Aristoteles zählt Staatsmänner und Politiker dazu, was heute eher lustig scheint. Aber die eigentliche Frage lautet:Warum? Warum stehen all diese wichtigen Leute unter dem Einfluss der schwarzen Galle? Diese Frage wurde immer und immer wieder gestellt, Jahrhunderte lang und bis zum heutigen Tag."

Ich denke, dass zwar diese Auseinandersetzung sehr alt ist - aber, dass sie in unserer Welt, in der wir nach Antworten suchen, in der auch Ängste entstehen weil wir diese nicht finden - ich denke, dass eben jetzt das Thema hoch aktuell ist.
 
eine ganz schlichte Antwort auf eine sehr weltbewegende Frage - ich finde es kühn von Dir, Louiz, die Frage nach Genie, Wahnsinn in der Kunst mit den Assoziationen über Merkel und die deutsche Melancholie zu verbinden.
Aber: seis drum.


Ist es für einen politischen Menschen, der an die idealen Zielvorstellungen ( egal jetzt aus welchem "Farb"eck ) glaubte, noch immer glauben will, an all die hehren Ziele von Freiheit, Gerechtigkeit, Toleranz usw usw, ist es für diese Menschen nicht traurig machend, im "Glanze des Neoliberalismus" :ironie: all dieses den Bach runtergehen zu sehen?


Weiter reichende Antworten vermag ich Dir nicht zu geben - es sind aber die Gründe, warum ich traurig bin - auf der einen Seite - auf der anderen stacheln sie mich aber an, ebenfalls wieder politisch tätig zu werden.
Nur, wer etwas tut, hat auch das Recht, Trauer bei Misslingen zu empfinden.
Das ist meine Meinung.


frdlg

Marianne
 
Das lähmende Massenphänomen der Melancholie kommt in meinem Verständnis davon, dass die allgemeine Vorstellung „ich weiß, was für dich am besten ist“ gescheitert ist, wir es aber nicht wahr haben wollen, dürfen. Priester, Lehrer, Eltern, Politiker und Richter... sind gescheitert.

Massenpsychologie entsteht erst, indem wir ein Masssen-ICH kreieren, einen kultivierten Panzer, der dein Wesen in geordnete Bahnen lenkt...deine Persönlichkeit (die du jetzt so modern entfalten sollst). Vermutlich laboriert die Psychologie lediglich daran herum, das Massen-ICH, was durch Abweichungen ins Straucheln kommt, wieder in geordnete Bahnen zu lenken. Abweichungen, zwischen Idealen und Realität zu mildern. Es ist ein „auf Linie bringen“...mehr nicht. Das klingt brutal.

Wer geglaubt hat, dass „es“ durch Merkel besser würde, ist ein Idiot. Das ist der selbe Idiot, wie der Unternehmer, der nicht merkt, dass die Chinesen ihm zwar einen A 350 abkaufen...aber zerlegen und nachbauen werden. Der selbe, der auf einen externen Gott oder den Papa hofft...und das betrifft nicht nur die schlichteren Gemüter oder Ärmeren, sondern alle. Wir weigern uns, uns selbst als Gott anzuerkennen. Weil wir hoffen, dass noch jemand kommt und uns aus unserem Kinderverwahr-Kästchen hochhebt. Das Objekt muss mit Identifikation belegt werden...niemals darf das Objekt aufgenommen werden. Indem das Objekt von uns getrennt wurde, entstand die Suche nach dem Objekt (dem Sinn, der Gemeinschaft, der Fülle). Einsamkeit und Leere, die Essens des Lebens, so wie wir auf die Welt kommen und wie wir gehen...mit leeren Händen und allein...das leugnen wir...das versuchen wir zu füllen. Deshalb sind wir hier.

Dem Weltschmerz verfällt, wer den Wahnsinn in einer zugespitzten Situation nicht mehr ertragen kann. Er muss wählen, ob er hier leben kann/will oder nicht. Einige wählen Selbstmord, einige Anpassung, einige Psychose oder Krankheit und ganz wenige schaffen es, sich zu erkennen und trotzdem anzunehmen.

Wir brauchen Menschen, die Angst haben, Gewalt einsetzen und ehrgeizig sind...sonst würde unsere große Lebenslüge in sich zusammenfallen. Wir brauchen Menschen, die Angst vor Einsamkeit haben...denn dann sind sie steuerbar. Vielleicht ist die Massen-Melancholie ein Ausdruck dessen, dass Zivilisation gescheitert ist...kleine bunte Pillen, Moral, Kampagnen und Motivations-Workshops werden nichts bringen. Warum?, weil wir nur an den Symptomen herumfummeln, wie immer.

Viele Grüße
Bernd
 
@ Marianne

Es war nicht meine Verbindung. Der Text ist als Zitat gekennzeichnet und stammt aus "Die Welt", wie du auch dem Link entnehmen kannst.
 
als Beispiel a) und als Beweis, dass Leiden zum Leben gehört
b) für eine bestimmte feminine Form des persönlichen Diskussionsstils



Dieses Gedicht schrieb ich heute Nacht - nachdenkend über die subjektive Anlage des modernen Menschen zur Depression ( das lyrische Ich ist nach meinem Konzept Villon)



Feber

Kaum zeigt sich die erste Frühlingssonnen
stehe ich in meinem zerschlissenen Rock
und trample voller Lust und Wonnen
in die Lacken . Darauf hab`ich Bock.


Während ich so tret und fuchtle - mit den Armen
-das Wasser spritzt empor den Dreck-
fluche ich zum Gottserbarmen
fluch mir meine Ängste weg.



meine Angst vor der Heh
meine Angst vor den Pfaffen
meine Angst vor schönen Frauen
meine Angst vor dem Leben



Villon alias Marianne
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:
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Sehr unterschiedlich sind die Aussagen über die Melancholie - das sehen wir auch hier. Habe mich auch ein ganz wenig in der Literatur nun umgesehn - und fand den Text den ich hier übersetze sehr interessant, auch wenn ich ihm nicht ganz zustimmen kann.

Philippe Sollers:

Die Melancholie ist eine Tyrannei

Schauen wir uns einige Augenblicke das System der Weltherrschaft an. Einerseits begünstigt dieses im höchsten Masse das Schauspiel, die Öffentlichkeit, die Informationsflut, den andauernden Lobgesang des Erfolgs und der Leistung. Andererseits bemächtigt sich das System der melancholischen Note und legt uns so Zweifel nah, die Niedergeschlagenheit, die Auswegslosigkeit, die Hässlichkeit, die zermürbende Resignation. Das System ist manisch-depressiv mit seinen ständigen Schwankungen. Die Melancholie ist eines seiner Werkzeuge geworden und wird langsam zum Propagandamittel (Sie werden Egon Schiele mögen und nicht Fragonard, etc...). Das bemerkenswerteste ist, dass diese Art des Funktionierens schon Ende des XIX. Jahrhunderts gründlich analysiert wurde durch Lautréamont und Nietsche.[...]


Philippe Sollers (geb. 1936) ist heute einer der bekanntesten und auch eigenwilligsten Schriftsteller Frankreichs. Sehr präsent auch in den Medien, wird er als Vorläufer von Michel Houllebecq (Elementarteilchen) betrachtet.
 
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