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Angst essen Seele auf

Marianne schrieb:
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Sei mir nicht gram, wo sind die Grenzen zwischen Künstler und Kunsthandwerker?


Marianne

Ich bin nicht gram, aber ich kenne die Grenze nicht. Ich finde aber, eine Definition, die behauptet, Künstler seien mit ihrer Phantasie eher unglücklich, Kunsthandwerker eher glücklich, hätte einen gewissen Witz.

Wo ist übrigens die Grenze zwischen Kreativität und Phantasie? Auch schwer zu sagen. Kreative, phantasievolle Lösungen - ich weiß nicht recht. Ist eine gute Lösung nicht eine optimierte Lösung? Nein, denn wenn man für die Lösung die Ebene wechseln muss, ist Kreativität gefragt. Das Kreative ist dann aber nur zu verstehen, wenn man die Funktion versteht, der es dient. So kann man auch Kunsthandwerk definieren. Das Kreative des kunsthandwerlichen Prozesse kommt erst durch die Funktion, der es dient zur Entfaltung. Aber dann wäre Architekur wieder keine Kunst.:confused:

Grundsätzlich wage ich aber noch zu widersprechen: Nicht jeder hat eine beste Möglichkeit. Ich glaube, dass das eine Beschönigung ist, aber vielleicht bin ich ja auch pessimistisch. NIcht in jedem steckt etwas, nicht jeder hat Phantasie. Für jeden überagenden Kreativen muss es auch einen hoffnungslosen phantasielosen Tropf geben. So ist halt einfach das Leben, oder nicht?
 
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Ich weiss nicht recht, eine Menge Gedanken habt ihr bei mir ausgelöst.

Braucht es für "kreative" Lösungen im Alltag oft nicht eher die Logik als übermässig Phantasie? Sind realistische Ziele und Wünsche nicht eher der Lebensqualität zuträglich?
So ist auch die Lebensbewältigung (danke schön, Marianne) nicht nur nicht negativ besetzt, sondern würde auch Menschen ohne Phantasie Möglichkeiten bieten.
Auf der anderen Seite sprechen wir einem Teil die Phantasie ab. Ist es nicht so, dass sich auch hinter Logik, hinter den Naturwissenschaften eine Menge "Phantasie" versteckt? So gesehen, gefallen mir die zwei Seiten des Paradigmas nicht und ich tendiere auf einmal dazu, dass es nicht Mangel an Phantasie (durch den Alltag abgetötet) ist, der einem kaputt macht, sondern (und da schliesse ich mich Marianne und Robin an) diese Reduktion auf die Reproduktion der Arbeitskraft. Das schliesst aber die Künstler überhaupt nicht aus. Eher im Gegenteil.
Der Leistungsdruck, der Erwartungsdruck, die Zukunfsangst, die Versagensangst. Beim Künstler auch noch oft zusätzlich zu dem, die innere Zerrissenheit.
Nicht nur Kunst und Kunsthandwerk, sondern auch noch unter den Künstlern selbst muss man vielleicht unterscheiden. Nicht nur in Schaffende und in Reproduzierende, sondern auch noch unter den Schaffenden.
"Fälscht" einer vorwiegend fremde Bilder, oder malt er nur Blumen, wie sie in der Natur vorkommen, oder auch Illustratoren, die sich vorwiegend fremder Phantasien bedienen, versteht er sehr wohl sein Handwerk und erschafft auch etwas "Neues", sieht sich sicher auch dem Existenzkampf ausgesetzt, über innere Zerrissenheit wird er aber nicht, oder wesentlich weniger klagen.
So könnte man weiterfahren:
Architekten: einer der nur Garagen oder Reihenhäuser nach Schema F baut, gegen einen, der die Kathedralen unserer Zeit, die Museen und andere Kulturstätte baut usw.
Aber natürlich auch:
ein kreativer Schneider gegen einen Modedesigner
ein Steinmetz gegen einen Bildhauer usw.

Künstler im Sinne von "Phantasie ausleben" ist für mich einer, der das, was er sinnlich erkennt, auch "irgendwie" darstellen vermag. Nicht nur das Schöne, es gehört auch das Hässliche, das Kranke, das Schwarze dazu. Schliesslich will er ja unsere Wahrnehmung wecken, unsere Vorstellungskraft, den Möglichkeitssinn, wenn ihr lieber wollt. Darin allein ist schon eine Portion Selbstzerstörung enthalten.
Beweist nicht die Tatsache, dass viele Künstler Alkoholiker sind, oder Drogen/ Tabletten abhängig, dass die Phantasie allein kein Heilmittel ist, manchmal sogar erst recht kontraproduktiv?
Dem gegenüber stelle ich mal jetzt die nicht geringe Anzahl Aerzte, vor allem Chirurgen, die ebenfalls süchtig sind. Druck und Aengste!
Die Notwendigkeit, sich "private Zeitinseln" (den Ausdruck habe ich Jérôme geklaut) zu schaffen, wird da klar. Diese müssen m.M.n. aktiven Erholung dienen (hasst mich ruhig für das, was ich jetzt sagen werde, ich muss es sagen, es ist nicht nur mein Beruf, es ist auch meine Ueberzeugung).
Wenn eine Kellnerin auch nach Feierabend nur wieder Geselligkeit sucht, "einen drauf macht", hat sie nur nicht erkannt, dass auch sie Gegenpole braucht. Die Geselligkeit ist halt bequemer, als sich den Frust von der "Seele" zu laufen, zu strampeln, zu schwimmen...
Geht bei Manchem nicht die, vielleicht doch vorhandene Phantasie!, auch aus lauter Faulheit und Selbstmitleid :autsch: verloren? So manche Situation liesse sich (auch ohne viel Geld!) relativ einfach verbessern. Allein mit Logik! :maus:
 
Oj, oj -


Welche Menge vonFragen eröffnet mir meine ( spontane ins Forum geworfene) Frage.Und wie immer weiß ich eigentlich keine - nicht mal für mich - verbindlichen Antworten.

Celine - ich schließe mich Dir an, der "Alltag" braucht als Bewältigungsprogramm eher der Logik des Handelns.
ABER: wie oft fange ich an, in jedem Raum meiner Wohnung gleichzeitg "rumzuwerken" - und am Abend ist meine " Phantasie einer aufgeräumten Wohnung" im Eimer. Die Wohnung schreit danach - nach dem Eimer, Putzeimer *grr*.

Selbstverständlich hast Du Recht, Celine, wenn Du bemerkst, dass wir dümmlich handeln, wenn wir Naturwissenschaftlern / Mathematikern/ Techniken usw Phantasie absprechen oder sie, wie ich das tat, an die äußerste Minusposition stellten. Wer war der ( Newton?), der - wahrscheinlich eines Herbstes friedlich im Grase liegend, einem Apfel beim Fallen beobachtete und daraus das Gesetz der Schwerkraft ableitete. Brauchts dazu nicht ebenfalls der Phantasie? Oder ist dieses Beispiel nicht eines dafür, dass wir die Fähigkeit zur Ratio und zur Fiktion besitzen müssen, um Alltag nicht nur als seeleraubenden Prozess zu beurteilen. ? ? ?

Schon wieder nur eine Frage!
Ich deute Deine vielen und eindringlichen Beispiele (Künstler als Abbildner - Korrespondenztheore auf Kunst angelegt - ,Archiktekten als Wohnungsmacher usw ) in die gleich Richtung des Fragens....

Und schließlich bin ich ganz bei Dir, dass die Phantasie nicht nur " das Wahre, Gute und Schöne" umfasst.
Auch die destruktiven Seiten des Lebens beflügeln einerseits unsere Phantasien - andrerseits sind sie auch in der Realität oft als Handlungsmotoren wirksam geworden. Die inhumane Lebensweise der Proletarier in der Mitte des 19. Jahrhunderts regten die " Phantasien Proudhons, Owens oder Marx an, Gegenbilder einer sozialen Gerechtigkeit in ihrer Phantasie zu entwerfen. Dass sie wirksam wurden, verdankten sie der " Logik" ihrer Denker.

Und so will ich zum Schluss sagen ( ich bin schon fast so beredt wie eine sehr sehr nette junge Dame, die ich virtuell kenne :kuss3: ):


Wir kommen der Phantasie nie aus - wollten wir ihr entweichen - es gelänge uns nicht, denn sie ist m.M.n ein Teil des Menschseins an sich. Ohne sie fräße der Alltag einen Teil von uns aus.

Das die eine ihre Phantasie in Kochrezepten auslebt, der andere in Oberbauprodukten der Kunst, die dritte schließlich in Phantasien über Menschen - wieder andere noch auf anderen Gebieten, das tut vielleicht nichts zum Tatbestand des Menschseins.

Marianne
 
Mir ist noch etwas eingefallen zum Thema Phantasie. Als ich so in Gedanken an Musils Essay "Über den Möglichkeitssinn" ( im "Mann ihne Eigenschaften") über den Zusammenhang zwischen Phantasie und Realität spekulierte, kam ich auf noche einen Aspekt, den ein Phantasiereicher uns ( mir!) Phantasiearmen/r voraus hat.

Das ist die Fähigkeit, Möglichkeiten zu sehen.

Schon wollte ich selbstgefällig in die Tasten hauen, da kam mir die Idee, in dem Zitatenlexikon, das mir mein Eheliebster vor kurzem geschenkt hatte, nachzusehen, was da so unter dem besprochenen Stichwort steht.

Was fand ich? "Den Phantasievollen quälen die Möglicheiten" ( Hans Arndt,Im Visier,Typen im Blitzlicht )


Nun - was soll`s ? Wieder nix mit einer allgemeinen Aussage :maus:

Marianne
 
Hallo Marianne!

Das Wort Möglichkeitssinn gefällt mir schon sehr gut. Denn Möglichkeiten sind ja in der Tat immer da, unendlich viele und doch nicht beliebige, was man auch Kontingenz nennt und die müssen halt erspürt werden.
Dies ist im übrigens paradox, denn -keit markiert ja die irgendwie Dinglichwerdung oder wenigstens Wahrnehmbarwerdung eines Sachverhaltes und eine Möglichkeit, die erkannt wurde, ist schon keine Möglichkeit mehr sonder eben eine markierte UNterscheidung. Aber das ist ja schon wieder Pipifax, was ich hier erzähle.

Aber ich will im Sinne der Einheit der Differenz argumentieren, dass eben Phantasie Last und Freude zugleich ist; und das eben das eine ohne das andere nicht geht; und dass daher Leuten, die die Allheilmöglichkeit der Phantasie propagieren, sie als die reine Glücksspenderin des menschlichen Wesens sehen, sehr zu misstrauen ist.
Desweiteren ist natürlcih der, der Phantasie hat (und natürlich haben wir alle Phantasie - aber das Maß mag schon sehr uhnterschiedlich sein) noch nicht per se ein Künstler. Ein Künstler ist einfach jemand, der die Möglichkeiten willens und in der Lage ist in eine bestimmte Form zu zwingen, die dann unter dem Label "Kunst" firmiert.
Die Qual, die aus diesen Möglichkeiten, erwächst wieder aus zwei Seiten und zwar durchaus mal wieder paradox: Zum einen quält natürlich der Umstand, dass man für jede Wahl einer Möglichkeit unendlich viele andere auch mögliche vernachlässigen muss. Zum Anderen ist quälend , dass bei der Wahl einer Möglichkeit zu Bewusstsein kommt, dass schon unendlich viele andere Menschen eine ähnliche Möglichkeit gewählt haben, die sich zwar alle unterscheiden, aber sich doch so nahe kommen können, dass der Künstler schon von vornerein über die Möglichkeiten der Singularität seiner Wahl ins Zweifeln gerät.
Ich rate kreativen Menschen, die von solchen Zweifeln geplagt werden, immer: Nun mach einfach weiter, denn auch wenn du denkst, dass die Idee nicht neu ist, so wird sie doch mit der Zeit deine eigene Idee werden.
Doch bin ich von dieser Behauptung auch manchmal nicht überzeugt, schon gar, wenn ich sie auf mich selbst anwende...;)

Ein INdikator ist immer die Eigenbezeichnung. Ich würde mich gerne, in Anlehnung an Cel/Jérôme "Zeitinselliterat" nennen dürfen. Tontechniker und Zeitinselliterat, das macht sich gut auf jeder Visitenkarte. Und umgfeht immerhin das riskante Wort "Künstler"

In diesem Sinne :) :winken1:
 
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Was ne Lust, mit Dir zu diskutieren, Robin (und mit Dir, Cel!)

Wie Du Dir denken kannst, Robin, hat mich Dein Hinweis auf das Suffix - keit als Bildungssilbe von Abstrakte, die dadurch in quasi Konkreta " umgewandelt" werden, total gut gefallen.

Als Germanistin ist mit klar, dass das ein Ökonimisierungsprozess der Sprache ist, ( Freundlichkeit heißt ja " übersetzt nichts anders als ein ein Verhalten, dass so ist wie es unter Freunden erwartet wird)-.
Aber, dass das im Grunde genommen wieder ein Paradox ist, darauf hast Du " Jäger des Paradoxons" mich gebracht.

Mir fallen dazu Gedanken ein, dass das, worüber wir hier reden, vielleicht ein evolutionäres Paradox an sich sein könnte.Der Mensch als Produkt der Evolution kann zunächst Welt und Umwelt empirisch nur über seine Sinne wahrnehmen - der "Sinn zur Möglich keit" ist bereits etwas, das die bloße Empirie transzendentiert.

Könnte, diese Konklusion kühn - wie ich mitunter bin - nun als neue These benutzt, nicht bedeuten, dass Menschen mit viel Sinn für ( Du hast Recht, kontingente) Möglichkeiten einen Schritt in der Evolution weiter sind als wir pures " Alltagsgetier"?

Dann verstünde ich meinen Respekt vor allen Menschen, die Künstler sind ( lieber Robin, egal ob Zeitinselliterat ( hübsche Bezeichnung) , Literat, Poet, Dichter, Autor : Bezeichnung ist beliebig.)

Ansonsten sind wir wieder mal accordiert: Ich ahnte ja, dass die Luhmannassoziation ( im ersten Post) so ungefähr nicht war.

Die Einheit in der Differenz, wie Du sie noch mal verständlich zusammenfasst, erscheint mir im Zusammenhang mit unserer Frage genau so fraglos, wie Dir.

Unsere Diskussionen ( Du, Cel, ich und auch andere, die hier mitdiskutierten) haben mir allerdings auch die Schwächen gezeigt, die eine soziologische Denkstruktur hat, wenn es " ans Eingemachte" , an die Psyche des Menschen geht.


Nun: Morgen geht es wieder " auf Achse" und ich werde nur noch sehr unregelmäßig online sein.

Ich freue mich schon auf weitere Diskussionen im Sommer: Falls Du hier noch antwortest - nächste Woche bin ich noch " dran".

Darf ich zum Schluss noch etwas Persönlicheres zu Dir sagen? Ja!

Im Lichte der Jeromschen Definition *Zeitinselliterat* habe ich noch eimal Deinen Roman überdacht.
Da erweist sich, dass Jerome ganz mit diesem konform geht. Das Inselhafte des Menschen, durch scheinbaren Zufall verknüpfte Geschehen kommt sehr gut dort raus. Du hast es zur Literatur gemacht. Wobei der " Zufall" im Text sehr in den Bereich dessen fällt, was ich im Musilschen Sinne Möglichkeit nenne.


freundliche Grüße !

Marianne
 
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