AW: Ach was muß man oft...
Einerseits steht die Messe für ein bindendes, allseits gleichbleibendes Ritual, andererseits soll sie die Gemeinsamkeit einer eigentlich abstrakten Masse, in entrückter Stimmung greif- und spürbar machen. So sehr die Macht der Gewohnheit dem Gläubigen auch Sicherheit gibt, der Messe als Auserwählter und Wissender beizuwohnen, so sehr symbolisiert die Messe das Kollektiv.
Jede Massenbewegung bedarf der Zentralisierung, wenn sie nicht aus dem Ruder laufen will. Das Heilige Römische Reich, als politische Größe durchaus ein Massenstaatsgebilde, krankte an der fehlenden Zentralisierung und lag jahrhundertelang moribund darnieder. Der später aufstrebende Nationalismus in aller Welt, wurde zentral – einerseits organisatorisch-politisch, andererseits idealistisch-dogmatisch – von den jeweiligen Nationalkonstrukten geführt. In perversester Manier findet sich die Zentralisierung, mitsamt des Rattenschwanzes kollektivistischen Denkens, in den großen Faschismen und jenem, was sich so krankhaft real existierender Sozialismus schimpfte.
Soll eine Ideologie oder Idee Massen binden, bedarf es eines Kanons, eines Regelkatalogs, der klar darlegt, in welchen Bahnen die gemeinsame Idee zu vollziehen ist. Was in einer Nation als patriotisch zu gelten hat, was defäitistisch gewertet wird, muß einer verbindlichen Gleichheit zugrundeliegen. Wenn alle das Gleiche tun, dann verbindet dies, dann ordnet es den Einzelnen in ein großes Gemeinsames ein. Die Massenidee muß von West nach Ost und Nord nach Süd die gleichen Merkmale offenbaren. Tut sie es nicht, droht Partikularismus und damit das Aus-der-Hand-geben des Übergeordneten – die Idee wird zur Splitteridee.
Fragt man heute mehrere Christen, was sie unter Religiosität verstehen, dann erhält man zwar ähnliche, doch in Nuancen verschiedene Ansichten präsentiert. Und dann wendet man sich jenen zu, die sich – gleichgültig welchen Grundes – von der Kirche abgewandt haben. Ein Sammelsurium verschiedenster Ansichten offenbart sich: Gott stecke in jeder Kreatur; Gott sei in der Natur ansichtig; die Natur selbst ist Gott; Gott existiert nicht; über Gott kann man nicht reden... der Katalog ist dick. Dort liegt die Gefahr: Die Massenidee der weltlichen Kirche verkommt zum Überbegriff verschiedenster Splitteransichten.
Immerzu war die Kirche bemüht, die Abweichler zu sanktionieren. Mal tat sie es milde, und verzieh kleine Normabweichungen, ein andermal zeigte sie ihre häßliche, von dieser Erde stammende, Fratze. Waldenser, Katharer, Protestanten wußten ein Lied davon zu singen. Selbst Mönche mußten mit der Angst leben, daß ihr Orden von heute auf morgen der Häresie bezichtigt wird, nur weil man in gewissen Ansichten vom Kanon abwich.
Und so stelle man sich vor, wie verwirrend es auf das Individuum wirken mag, wenn er in einem anderen Teil der kirchlichen Allmacht eine Messe besucht und er bemerkt, in welch anderer, ihm fremden Form, hier ein Gottesdienst vonstatten geht. Womöglich würden dort andere Ansichten gelehrt oder das Kruzifix wäre abwesend, weil es dem zuständigen Geistlichen pervers anmuten würde, eine altbekannte Hinrichtungsmethode zum Anbetungsobjekt zu erheben. So ginge das Gemeinsamkeitsgefühl verloren. Natürlich bedarf es zudem, um der Wahrung willen, eines Leiters dieser Veranstaltung, den man einen – um bei Le Bons Terminologie zu bleiben – sakralen Nimbus verleiht, eine Art autoritäre Unantastbarkeit.
Von Verlust des Gemeinsamen, bis hin zum eigenen Gewissen, ist es ein kurzes Schritt, wie uns schon die Reformation zeigt. Den deutschen Fürsten war die Gemeinsamkeit und Loyalität zu Rom schon lange abhanden gekommen, bald stand deren persönliches Gewissen auf dem Plan.
In die gleiche Kerbe schlagend noch einige Worte zum Ratzinger-Papst. Zunächst: Die Kirche bekämpfte zeit ihrer Existenz nicht nur Häresien oder Abweichler anderer Art, sondern vorallem auch das Personal in den eigenen Reihen. Widerspenstige Bischöfe, sich selbstständig machende Geistliche, die Gespenster des Episkopalismus und des Konziliarismus. Als die katholische Kirche Mitte des 19. Jahrhunderts im Sterben lag, als die Gläubigen im Fortschrittsglauben der Technik lagen, betrunken an den Ideen des Nationalismus und Kommunismus waren, glaubte man, sie – die Kirche – würde in episkopale Selbstverwaltungen zerfallen. Zwar stünde dies der Absicht des Urchristentums näher, als der Primat des Papstes, doch natürlich wollte Rom dies verhindert sehen. Innerhalb des Risorgimento stand da der Kirchenstaat: Autoritär und fortschrittsverbannend, als Reaktion auf die sich verändernde Welt.
Als Papst Pius IX. 1870 die Unfehlbarkeit des Papstes zum zentralen Punkt des Vatikanischen Konzils erheben ließ, da stieß dies auf breite Ablehnung der Bischöfe. Letztendlich rang der Papst seine Forderung mit Erpressungen und Drohungen durch. Einige Bischöfe reisten bereits vorher brüskiert ab. Das Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit ex cathedra ist ein Farce, ein anachronistischer Witz dieses Zeitalters. Wir kennen heute das Papstamt nur im Verbund mit dieser Autorität, vor 1870 war es lediglich ein Schreckgespenst der Bischöfe, ihr Kollege, der Bischof von Rom, könne Allmacht erhalten. In Zeiten der Demokratisierung der Staaten, da entdemokratisierte sich der Kirchenstaat. Kurz nach der Verkündung der päpstlichen Unfehlbarkeit, war der Kirchenstaat Vergangenheit.
Aus dieser Sicht heraus, muß man Ratzingers Arbeit wider den rigiden Dogmen Roms betrachten. Die Bischöfe nach dem Vatikanum I. wehrten sich – oft mit Händen und Füßen – gegen die papale Bevormundung. Sie verziehen dem Papstamt nicht, so übergangen worden zu sein. Gerade um die Jahrhundertwende fand sich in der Modernistenbewegung ein Ventil, der Starrheit vatikanischen Denkens zu entkommen. Auch hier ging die Kirche repressiv vor und erzwang den sogenannten Antimodernisteneid, dem jeder Priester Folge zu leisten hatte. Joseph Frings - 1887 geboren -, dessen Reden ja der junge Ratzinger schrieb, war ganz Kind dieser Zeit, zumindest wurde ihm in seiner Jugend dieser Zwiespalt zwischen Primat Roms und episkopaler Eigenverantwortung bewußt.
Erst als Johannes XXIII. sich zu einer Reform der Kirche entschloß und deshalb ein zweites Vatikanisches Konzil ankündigte, lockerte sich das Verhältnis der Bischöfe und der Gläubigen zur päpstlichen Unfehlbarkeit. Der Roncalli-Papst stand mit seiner freundlichen und liebenswerten Art für Güte. Die erste Monate des Konzils sind ganz in seinem Geiste geprägt. Nach seinem Tode fand erneut der strikte Konservatismus Einzug. Dennoch hat Johannes XXIII. das Bild der Unfehlbarkeit sympathischer werden lassen, weil er den Menschen sichtbar machte, es müsse nicht immer ein arroganter, weltabgewandter Kardinal das Amt des Papstes übernehmen.
Ratzinger war in seinen jungen Jahren von dem Antagonismus geprägt, der sich zwischen Rom und seinen Bistümern und Gemeinden abspielte. Das Zweite Vatikanische Konzil erzeugte den Eindruck, die Kirche sei nun modernisiert und damit zeitgemäß. Hier mögen sich viele Kirchenvertreter geirrt, sich vielleicht auch gerne dieses Irrglaubens hingegeben haben. Ratzingers lange Tätigkeit im Vatikan und seine Gewißheit, bei der Reform der Kirche im 20. Jahrhundert mitgewirkt zu haben, mag ihm heute diese bewahrende, also konservative, Aura verleihen. Reform und Freiheit, so mag er glauben, waren notwendig, aber übertreiben soll man es ja nicht...