Hallo zusammen.
Bevor ich auf einzelne Beiträge eingehe, möchte ich versuchen, das Thema anhand von zwei Beispielen zu vertiefen/zu erweitern. Das eine ist aus dem Bereich Fremdbeobachtung, das andere aus dem Bereich Selbstbeobachtung.
1. Kunst
Wenn wir Beethoven nehmen, ist klar, dass Beethoven einerseits eine Zeitströmung repräsentiert, den Übergang von der Klassik zur Romantik, auf der anderen Seite ist er eben auch "Beethoven", Titan, Klischee, Dramatisierer, Erneuerer, im Spätwerk unerreichtes Genie. Es ist klar, dass Beethoven einerseits nur in seiner Zeit denkbar ist, andererseits es geschafft hat, Werke (und damit "Aussagen") von zeitübergreifender Gültigkeit zu komponieren.
Wenn wir das auf Sprache übertragen (und ich meine, das kann man), reicht es nicht, von einer "Kopie" zu sprechen, Beethoven hat zwar Floskeln und Ornamente, auch formale Prinzipien in seine Musik hineinkopiert, aber das "beethoveneske" steckt jenseits der Kopie. Man kann auch nicht von einer Addition sprechen, da es nicht möglich ist, den Zeitgeist vom Werk zu subtrahieren, um reinen Beetthoven als Ergebnis zu erhalten.
So weit, so klar.
Was ist nun aber mit seinen Zeitgenossen? Ich meine jetzt die weniger berühmten, Czerny, sein Schüler beispielsweise. Machten die etwas grundsätzlich anders? Fehlte ihnen ein Grad an Eigenständigkeit, an "Genie", an "Authentischem", um ihrerseits den Status des Zeitlosen zu erlangen? Wir hören etwas von ihnen und denken vielleicht "romantischer Schwulst", "nichtssagendes Gedudel", bei Schubert oder Brahms denken wir wiederum "typisch Schubert" oder "ein typischer Brahms".
Ich nehme an, das sich auch die Unbekannteren einbildeten, etwas Originäres zu erschaffen - aus ihrer Sicht konnte es nur "eigen" sein - und dennoch sind sie in der Rückschau gesichtslos, ein kleiner Schluck in der Zeitströmung, Füllmaterial der Zeit.
In der Umkehr fällt auf, dass es gerade schwer fällt, auf die besonders großen Individualisten aufzubauen, sie zu kopieren, weiterzuentwickeln.
Brahms bewunderte Beethoven, komponierte aber umso weniger für Klavier - er duckte sich vor den 32 Sonaten. Aus einem ähnlichen Grund (Wagner) komponierte er auch keine Opern.
Wenn man Beethoven kopiert, läuft man in Gefahr, mit genau dem, was Beethoven ausmacht - der großen Dramatik - den schroffen Gegensätzen, den ausgeklügelten Formexperimenten - lächerlich, ja albern zu wirken- Liegt dies nur daran, dass man weniger Talent hat - oder dararn, dass jede Kopie lächerlich wäre?
Ein anderes Beispiel: Kafka. Auch ihn kann man in Verbindung mit der Zeit sehen, als eine Art frühen Surrealisten vielleicht. Doch gerade auf ihm, dem vielleicht Größten, ist am Schwersten aufzubauen. Kafkaeske Literatur wirkt so schnell lächerlich, auch wenn sie neue Inhalte enthält. Sie wirkt weinerlich, unaufrichtig, konstruiert, maniriert.
Dagegen könnte ich mir leicht vorstellen, Steven King zu kopieren, ohne groß Anstoß zu erregen...
2. Geschmack
Mit Vorlieben und Abneigungen geht man in seinem Leben einen langen Weg. Ich habe über das Thema dieses Threads nachgedacht und bin auf folgende Metapher gestoßen:
Wenn man seine jetzigen Geschmäcker und Idiosynkrasien zurückverfolgt, läuft man auf einem Pfad, auf dem einem alte Ideen, Vorlieben und Ideale begegnen. Es gibt von diesen welche, die direkt oder indirekt auf den heutigen Zustand des Geschmacks zu deuten scheinen - sie erscheinen für mich authentisch - für mich persönlich mit einem Hauch des "Zeitlosen" behaftet. Andere wirken wie Abwege, Verirrungen. Zeitplunder, Modeschrott. Es scheint also wie ein Baumstamm zu sein, der beim Höherwachsen unten die meisten Zweige verliert - einige bleiben vielleicht noch dran, als romantische Reminiszens an Jugend und Sturmzeit, während der Hauptstamm doch immer dicker und gefestigter erscheint. Mein Weg zu Brahms führte unter anderem über die B 52's - seltsam, aber für mich (und wahrscheinlich nur für mich!) nachvollziehbar.
Diese Beispiele zeigen Ähnlichkeiten auf. Sie sind beide Produkte der Evolution. Das eine ist gesellschaftliche Auslese, das andere persönliche Auslese.
Findet sich vielleicht dennoch jemand, der in der Lage ist, Kriterien aufzustellen, die "über" den evolutionären Prozessen stehen, sozusagen "absolute Werte" der gesellschaftlichen oder persönlichen Authentizität?