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Radikalismus

Zeilinger

Well-Known Member
Registriert
22. Mai 2004
Beiträge
16.501
Liebe Leser !

Angeregt durch den Disput von Gaius und scilla in der Forumsecke mit dem Titel "Radikal" und weil die Väter im Denkforum dieses Thema entweder nicht angehen wollen oder nicht können, möchte ich als 57-jähriger HAK-Maturant, Moralphilosoph und Sozialkritiker meine Meinung zum Radikalismus kundtun. Sie rekrutiert sich - wie bei den allermeisten meiner Beiträge - nicht nur aus Gelesenem, sondern auch aus psychologischen Kursen und, wie sollte es in meinem Alter anders sein, auch aus persönlichen Erfahrungen.

Jeder Mensch erlebt im Laufe seine Lebens eine radikale Phase.
Die Länge dieser Phase hängt davon ab,

wann sie beginnt und
wie sehr der jeweilige Mensch vom Leben gefordert wird.​

Beginnt sie im Alter von 10-12 Jahren und der junge Mensch wird dabei von liebenden Eltern oder Erziehungsberechtigten begleitet, ist sie meistens im Alter von 20 Jahren zu Ende und der Mensch muss zwar trotzdem hin und wieder auf den Putz hauen - in Teilen Deutschlands sagt man, glaube ich, einen "druff machen" - er pendelt sich aber immer wieder ein, fühlt sich als Gemeinwesen, kennt zumindest für seinen Lebensbereich seine Rechte und Pflichten und lebt auch danach. Er weiß, dass man übertreiben kann, kennt auch seine Grenzen und hat den Radikalismus überwunden.

Das war das, meiner Erfahrung nach, positive Extrem. Um nicht zu langatmig zu werden, schildere ich jetzt gleich das andere Extrem; dass es Zwischenstufen gibt, ist fast müßig zu erwähnen.

Ein Kind hat entweder keine Eltern, extrem strenge Eltern, ist ein (frühes) Kampfscheidungskind und der Staat, in dem es lebt, ist zusätzlich weder fähig noch willens, Pädogogen, geschweige denn gute Pädogogen zur Verfügung zu stellen. Das Kind fühlt sich möglicherweise sehr lange ungeliebt, ist natürlich neugierig wie jedes andere Kind, da es aber weder Bezugsperson, noch Vorbild noch Orientierung hat, ist es anfällig gegen alles Böse und Schlechte der Welt und fühlt sich womöglich noch Jahrzehnte unterdrückt. Bei diesen Menschen darf man sich nicht wundern, wenn sie auch im Alter von 50 Jahren noch radikale Ansichten haben. Der Radikalismus gipfelt dann darin, dass man seine Ziele, Wünsche und Bedürfnisse mit radikalen Mitteln, vor allem mit Gewalt, aber auch mit Erpressung, Nötigung und Diebstahl, verfolgt, befriedigt bzw. deckt.

In diesem Zusammenhang lobe ich mir die guten Sozialdemokraten, die jedem Menschen eine oder mehrere Chancen geben, sich in die - gemäßigte - Gesellschaft zu integrieren aber auch die guten Religiösen, die vom Gebot der Nächstenliebe durchdrungen sind und zumindest ihre Mitmenschen lieben wollen.

Dieses "Lieben" impliziert mMn dann das Verzeihen, das Helfen und/oder das Schenken.

Liebe Grüße

Zeili
 
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Lieber Zeilinger!

Aber wie kommt's dann, daß Kinder aus demselben Umfeld, mit denselben guten oder schlechten Erfahrungen sich oft so unterschiedlich entwickeln? Ein Kind schafft ein "normales" Leben, das andere rutscht ab in die radikale Szene, wird drogenabhängig und/oder kriminell.
Diese Frage beschäftigt mich schon lange.
Vielleicht kannst Du mir die Antwort geben.

Lg. Eule
 
Das Evangelium nach Markus
Das Gleichnis vom Sämann

Ein andermal lehrte er wieder am Ufer des Sees und sehr viele Menschen versammelten sich um ihn. Er stieg deshalb in ein Boot auf dem See und setzte sich; die Leute aber standen am Ufer. Und er sprach lange zu ihnen und lehrte sie in Form von Gleichnissen. Bei dieser Belehrung sagte er zu ihnen:

Hört! Ein Sämann ging aufs Feld, um zu säen. Als er säte, fiel ein Teil der Körner auf den Weg und die Vögel kamen und fraßen sie. Ein anderer Teil fiel auf felsigen Boden, wo es nur wenig Erde gab, und ging sofort auf, weil das Erdreich nicht tief war; als aber die Sonne hochstieg, wurde die Saat versengt und verdorrte, weil sie keine Wurzeln hatte. Wieder ein anderer Teil fiel in die Dornen und die Dornen wuchsen und erstickten die Saat und sie brachte keine Frucht. Ein anderer Teil schließlich fiel auf guten Boden und brachte Frucht; die Saat ging auf und wuchs empor und trug dreißigfach, ja sechzigfach und hundertfach.

Und Jesus sprach: Wer Ohren hat zum Hören, der höre!


Eule, Zeilinger, das sollte es erklären.
 
Eule58 schrieb:
Lieber Zeilinger!

Aber wie kommt's dann, daß Kinder aus demselben Umfeld, mit denselben guten oder schlechten Erfahrungen sich oft so unterschiedlich entwickeln? Ein Kind schafft ein "normales" Leben, das andere rutscht ab in die radikale Szene, wird drogenabhängig und/oder kriminell.
Diese Frage beschäftigt mich schon lange.
Vielleicht kannst Du mir die Antwort geben.

Lg. Eule
Liebe Eule58 !

MMn sind die glücklichsten und am schnellsten sozial reifen Kinder diejenigen, die in ihren ersten 20 Lebensjahren weder an materieller noch an finanzieller Not leiden. Liest sich zwar abgedroschen, ich glaube aber sehr fest, dass viele Eltern noch immer der Meinung sind, dass Geld emotionale Zuwendung ersetzen kann oder auch ins andere Extrem fallen, nämlich, dass sie meinen, man kann mit € 1000,- auf anständige Weise zu dritt durch's Leben kommen.

Jede Sucht, nicht nur die Rauschgiftsucht hat ihre Ursache darin, dass es woanders auf Dauer mangelt.

Es gibt natürlich auch verhätschelte Kinder, die auch im Alter von 10 Jahren ihr Zimmer nicht aufräumen müssen, für kein Haustier eine Verantwortung übernehmen müssen, viel zu viel Taschengeld bekommen und dann aus Gier kriminell werden.

Ich hoffe, dass ich Dir Deine Frage ein bisschen beantworten konnte.

Liebe Grüße

Zeili
 
Zeilinger schrieb:
Liebe Eule58 !

MMn sind die glücklichsten und am schnellsten sozial reifen Kinder diejenigen, die in ihren ersten 20 Lebensjahren weder an materieller noch an finanzieller Not leiden. Liest sich zwar abgedroschen, ich glaube aber sehr fest, dass viele Eltern noch immer der Meinung sind, dass Geld emotionale Zuwendung ersetzen kann oder auch ins andere Extrem fallen, nämlich, dass sie meinen, man kann mit € 1000,- auf anständige Weise zu dritt durch's Leben kommen.

Lieber Zeili!
Widerspricht sich das nicht? Ich muß gestehen, ich weiß nicht was Du meinst.

Aber auch Du hast mich nicht richtig verstanden. Ich versuche, es genauer zu sagen was ich meine.
Eine Familie, Mutter-Vater-2 Töchter. Beide Töchter wurden gleich schlecht behandelt. Geld war nie da. Beide hatten nichts, keine Chancen - aber eine hat studiert und führt ein "anständiges" Leben, die andere bekommt ihr Leben nicht in den Griff.
In einer anderen Familie, gutverdienende Eltern, keine Geldsorgen, die beiden Söhne hatten alles, die gleichen Chancen - trotzdem dasselbe.

Ich bezweifle daß es am Geld liegt, ob jemand sozial reif ist oder nicht. Natürlich nur auf Grund meiner Erfahrungen und Beobachtungen, nicht weil ich Ahnung davon habe.

Beantwortest Du meine Frage noch einmal?
danke für Deine Geduld mit der unwissenden Eule
 
Paraph(r)ase

Hallo Zeilinger,

Zeilinger schrieb:
Jeder Mensch erlebt im Laufe seine Lebens eine radikale Phase.

Jeder Mensch?

Denke, es gibt Menschen, die erleben niemals (= in ihrem ganzen Leben nicht) eine radikale Phase, und umgekehrt gibt es Menschen, die schon als Kind "radikal" sind, und es bleiben bis zum Ende. (So verschieden sind die Menschen eben. Und ich hab noch nicht zwei getroffen, die gleich waren.)

Ich verstehe eigentlich dieses Phasen-Denken nicht. (Ist das der Psychoanalyse entnommen?) Ich kenne keine Phasen. Für mich gibt es natürlich: Veränderungen. An der Oberfläche (meistens) und in der Tiefe (selten). Manchmal verursacht durch Ereignisse, manchmal durch Entscheidungen und was sonst noch, manchmal "einfach so" - als Spuren der Zeit. Das mit den Phasen scheint mir doch sehr aufgepfropft zu sein. Allzu geeignet, um Menschen gleichzumachen, zu schubladisieren oder Besonderes, Einzigartiges, Unwiederholbares zu nivellieren.

Und was hat es mit Radikalität zu tun?
Ist hier nur politische Radikalität gemeint? Dann könnte es etwas Oberflächliches sein. Und wäre dann - philosophisch - eventuell belanglos. (Ist manchmal ein Gewinn.)

Die Frage ist doch vielleicht eher die: ob es Radikalität in einem positiven Sinne gibt.

"Radikal" hat was mit "an die Wurzel gehend" zu tun. Mit etwas also, das nicht offen zutage, sondern eben tiefer liegt. Tiefer in der Welt, tiefer in uns, wie auch immer.

In diesem Sinne hat natürlich Philosophie in der Tat etwas mit Radikalität zu tun. Philosophie hat in ihrem (idealerweise) unbestechlichen Erkenntnisstreben und in dem (idealerweise) konsequenten Festhalten an dem Erkannten (= Eingesehenen) etwas von Radikalität. Und an die Wurzel der Dinge will sie natürlich auch. Man nenne es Ursprung, Urgrund, arché oder wie auch immer.

In diesem Sinne ist Radikalität mE eine der Konstanten der Philosophie (und eines philosophischen Lebens) und alles andere als - eine Phase.

Hätte Sokrates nur eine "radikale Phase" gehabt, hätte man ihn wohl kaum hingerichtet. Nein, er hat es wirklich ernst gemeint.

Gruß

pergola
 
pergola schrieb:
Und was hat es mit Radikalität zu tun?
Ist hier nur politische Radikalität gemeint? Dann könnte es etwas Oberflächliches sein. Und wäre dann - philosophisch - eventuell belanglos. (Ist manchmal ein Gewinn.)
Da ist jeder Radikalismus gemeint, auch Deiner. Wenn einer heute im Alter von 30 Jahren behauptet, er (sie) hätte noch keine radikale Phase gehabt, dann ist damit zu rechnen, dass sie erst kommt.

Die Frage ist doch vielleicht eher die: ob es Radikalität in einem positiven Sinne gibt.
Das will man in der radikalen Phase immer.

"Radikal" hat was mit "an die Wurzel gehend" zu tun. Mit etwas also, das nicht offen zutage, sondern eben tiefer liegt. Tiefer in der Welt, tiefer in uns, wie auch immer.
Das ist Deine subjektive Definition; daher unser Missverständnis. Duden: ra|di|kal (politisch, ideologisch extrem; gründlich; rücksichtslos). Was Du beschrieben hast, ist eher originär, athentisch.

Liebe Grüße

Zeili
 
Berichtigung meines Beitrages Nr. 4

Ich schrieb:
MMn sind die glücklichsten und am schnellsten sozial reifen Kinder diejenigen, die in ihren ersten 20 Lebensjahren weder an materieller noch an finanzieller Not leiden.

richtig: . . . 20 Lebensjahren weder an materieller noch an emotioneller Not leiden.

louiz30: Danke für die Bibelstelle. Gibt's das auch im Netz ? Meine gedruckte Bibel hat eine extrem kleine Schrift.

>eule58:
Du schriebst:
Aber auch Du hast mich nicht richtig verstanden. Ich versuche, es genauer zu sagen was ich meine.
Eine Familie, Mutter-Vater-2 Töchter. Beide Töchter wurden gleich schlecht behandelt. Geld war nie da. Beide hatten nichts, keine Chancen - aber eine hat studiert und führt ein "anständiges" Leben, die andere bekommt ihr Leben nicht in den Griff.
In einer anderen Familie, gutverdienende Eltern, keine Geldsorgen, die beiden Söhne hatten alles, die gleichen Chancen - trotzdem dasselbe.

Ich bezweifle daß es am Geld liegt, ob jemand sozial reif ist oder nicht. Natürlich nur auf Grund meiner Erfahrungen und Beobachtungen, nicht weil ich Ahnung davon habe.

Beantwortest Du meine Frage noch einmal?
danke für Deine Geduld mit der unwissenden Eule
Hier würde ich vermuten, dass jeweils ein Elternteil sehr positive Erbanlagen hat, der andere eher schlechte und eben jeweils ein Kind mehr schlechte geerbt hat; das soll aber keine Art Schuldspruch sein, weil ja niemand Einfluss darauf hat, was er biologisch erbt. Es liegt sicher nicht nur am Geld, ob jemand sozial reif ist; es liegt mMn an der Moral, die den Menschen - gewaltlos - in den ersten 20 Lebensjahren vermittelt wird.

Du machst keinen "unwissenden" Eindruck auf mich.

Liebe Grüße

Zeili
 
Worte sind (eventuell) nur Schall und Rauch

Hallo Zeilinger,

Zeilinger schrieb:
Wenn einer heute im Alter von 30 Jahren behauptet, er (sie) hätte noch keine radikale Phase gehabt, dann ist damit zu rechnen, dass sie erst kommt.

Das von dir entdeckte Gesetz lautet also: jeder durchlebt eine radikale Phase ...? Interessant. Und wie lange dauert so eine Phase?

(Hab mich bemüht, konnte aber den Begriff Phase in keinem philosophischen Wörterbuch finden. Aber in einem Elektrotechnik-Buch. Weiß aber nicht, ob das hier weiterhilft.)

Zeilinger schrieb:
Das will man in der radikalen Phase immer.

Nach dem positiven, ursprünglichen oder unverfälschten Sinn eines Wortes fragen soll verdächtig sein? Verstehe ich nicht.

Zeilinger schrieb:
Das ist Deine subjektive Definition; daher unser Missverständnis. Duden: ra|di|kal (politisch, ideologisch extrem; gründlich; rücksichtslos). Was Du beschrieben hast, ist eher originär, athentisch.

Ne, nicht subjektiv, bloß Etymologie.

http://www.etymologie.info/~e/d_/de-_wwR__.html

ebendort:
radikal
von lat. 'radix' = 'Wurzel', also 'von der Wurzel her'; Die Wurzel steckt im Grund und daher auch 'gründlich'.

Gründlich, resp. Dingen auf den Grund gehen (= Philosophie), das war mein Punkt gewesen. Mehr nicht.

Gruß

pergola
 
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Danke Dir, Zeilinger, für die Eröffnung dieses threads -

Aus der Einleitung geht immerhin hervor, daß eigenständiges kritisches Denken nur eine Jugendsünde sei, die verziehen werden kann, sobald der Sünder in den sicheren Hafen der anerkannten Auffassung zurückkehrt, und in solch überheblichem Wissen, was RICHTIG sei, unterscheiden sich Sozialdemokraten und Faschisten gewiß nicht.

Liberal und freundlich grüßt, wie immer,
Gaius
 
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