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Nicht verschickte Briefe.

Svensgar

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13. Februar 2011
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Westberlin, 11. Mai 1998
Lieber Pete.

Es ist Sonntag, kurz nach Ein Uhr.
Heute morgen, gegen Ende meiner Zeitungstour, wurde ich schon von der Sonne geblendet, seitdem halte ich mich in meiner Mietsache auf.
Gestern mußte ich wegen zäher Schmerzen in den Oberschenkeln die Trainingsdistanz von 1200 Meter auf 300 Meterchen verkürzen. Ich hätte mich natürlich zwingen können, mein Pensum einzuhalten, aber damit wäre ich, wie ich aus zahllosen Sportübertragungen weiß, ein großes Risiko eingegangen.
Am Donnerstag besuchte ich Jana. Der Tisch in der Küche war schon gedeckt, ein Salat geschnippelt. Ich wurde mit einem vierfachen Wodka empfangen, an dem ich Stunden nippte. Die Kartoffeln kochten schon. Auf meinen Einwand, daß ich ja noch gar keinen Hunger habe, löschte Jana die Flamme des Gasherdes und meinte, wenn es soweit sei, zünde sie die Kartoffelkochstelle erneut. Das sind die Kochtechniken Janas. Später war mein Hunger soweit, sie setzte das Kartoffelnkochen fort und in einer Pfanne briet sie vier, mäßig vertrauenserweckende aufgetaute Tiefkühl-Fisch-Filets. Ich ließ es geschehen. Rauch verkündete den Zeitpunkt, ab wann der Fisch durchgebraten schien. Jana goß das Kartoffelwasser ab, Kartoffelkochzeit vermutlich 1 1/4 Stunde, und pellte dampfende Knolle für Knolle in ihrer Hand. Das Pellgut war sehr heiß. Als sie die Schale abgezogen hatte, warf sie es auf die Teller. Es sah alles nicht sehr lecker aus, aber ich zwang mich, meine Göttin nicht zu verstören.
Nachdem wir beide sehr wenig gegessen hatten, besprachen wir noch unseren für morgen geplanten Kanuausflug. Hernach empfahl sie mir Kästners Fabian und Arno Schmidts Tagebuch eines Fauns. Nebenbei gestand sie mir eine, in den letzten zweieinhalb Jahren geholte Hepatitis C-Infektion; ich konnte noch kein medizinisch geschultes Personal zu diesem Mal befragen. Aber es scheint, daß Geschlechtsverkehr, gleich wohin in Jana, nicht risikolos sein wird.
Leider habe ich mir zuviel Zeit gelassen, diesen Besuch niederzuschreiben ... mehr fällt mir nicht mehr ein. Überhaupt schreibe ich zuwenig, mein ganzes Leben läuft sehr schlecht ab. Ich darf zwar nun ab und an Jana treffen, aber darunter sieht es übelst aus. Ich könnte mich selbst zusammenschlagen.
Morgen fahre ich also mit Jana in den Landkreis Oberhavel. Dort bringen wir das Kanu samt Kraftmotor irgendwo ins Wasser und starten. Ich sorge für viel Bier und Snacks. Unten in der Kühltasche liegen schon jetzt zwei Ostkondome. Noch am Donnerstag sagte Jana, sie wisse nie, wenn sie mit jemanden den Tag verbracht hat, ob sie ihn auch noch zu ficken gedenke; damit sei immer zu rechnen, und eine Abfuhr diesbezüglich nähme sie übel. Ich kann mich morgen nur gründlich waschen und abwarten, was sich Jana vornimmt. Donnerstag versuchte ich noch vorzubeugen, indem ich sagte, seine Götter fickt man nicht, aber sie faßte es nur als dummen Spruch auf.
Ich ziehe mich nun aus einem mir unsympathischen Brief zurück. Ich hätte mehr leisten sollen, dann wäre mir jetzt wohler. Aber vielleicht treffe ich Jana nur dann wieder, damit sie mir Sterbehilfe leistet. Und das ist seit vielen Jahren bitter nötig. Schon Cioran bemerkte, den Grad einer Krankheit erkennt man daran, wieoft der Betreffende das Wort Leben verwendet.
Weg mit diesem kümmerlichen Brief.

Dein Svensgar.
 
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AW: Nicht verschickte Briefe.

findest du echt, dass man aufhören soll wenns am schönsten ist..?
wie würde der briefwechsel weiter gehen?
 
AW: Nicht verschickte Briefe.

" Ich könnte mich selbst zusammenschlagen."

Ein großartiger Satz.
 
AW: Nicht verschickte Briefe.

Westberlin, 12. Mai 1998
Liebste Karen.

Diesen Brief veranschlage ich auf erträgliche zwei DinA4-Seiten. Das wäre augenwöchentlich schon eine ganze Menge. Das sonnige Wetter, allgemeine Dauerdepressionen und nicht ganz so spürende Verzweiflung machen mich schlaff und noch gedankenärmer als die restlichen Jahrzehnte. Ich schreibe wenig, mit noch weniger Herz, und fühle mich deswegen schuldig. Es gibt zur Zeit nicht so viele Gründe, um abzujammern, deshalb muß ich sie mir selbst schaffen.
Vor ein paar Tagen rief mich eine vergessen Geglaubte an. Eine Frau, die sich im August 1996 auf eine meiner letzten Kontaktanzeigen meldete. Sie sprach mit französischen Akzent, den ich für aufgesetzt hielt, außerdem wirkte sie angetrunken und sehr sympathisch. Ich hatte jedoch keine Hoffnung, sie kennenlernen zu dürfen, denn aus Erfahrung mußte ich wissen, daß betrunkene Frauen, die sich auf Kontaktanzeigen melden, meist nur einen billigen Spaß mit den armen Würstchen aus den Kontaktspalten versuchen. Doch die gespielte Französin ließ nicht nach, rief weitere Male an, besprach meinen Anrufabwehrer, und traf sich schließlich mit mir.
Es war ein warmer Sommerabend, ich wartete um 22 Uhr am vereinbarten Treffpunkt, auf einem Plastikstuhl im Vorgarten einer ausländischen Kneipe im Wedding. Ich beobachtete die herannahenden Frauen, ob sie vielleicht meine zu Treffende sein könnten. Eine gefiel mir besonders, Mitte Dreißig, brünette gelockte schulterlange Kopfhaare und ein enorm weiblicher Gang. Sie kam auf mich zu, setzte sich an meinen Plastiktisch. Ich sah ihr ins Gesicht und fühlte mich an meine verlorene Lieblingsschwester erinnert.
Nach einer Stunde, in der ich sie mehr als weniger verzaubert anstarrte und irgendwelchen Blödsinn auf sie ablud, verließen wir auf ihren Vorschlag hin den traurigen Vorgarten der Lokalität und spazierten in Richtung ihrer Wohnung, die in der Nähe platziert war. Ohne mich zu fragen, hakte sie sich einfach wie selbstverständlich bei mir ein; seit meiner Verlobung im Jahre 1982 bin ich mit keiner Frau mehr Arm in Arm über eine öffentliche Straße gelaufen. Es machte mir jedoch nichts aus, ich empfand es als angenehm und sah neben mir meine künftige Frau.
In ihrer 1-Raumwohnung, billiger Weddinger Hinterhof, vierter Stock, stand in der Raummitte ein Notenständer, an dem eine Geige lehnte; alles andere wirkte wie um den Ständer herum abgelegt. Wir tranken noch ein Bier und ich staunte über ihren Zug, der mit jedem Bauarbeiter hätte mithalten können. Ich schenkte ihr etwas Gras und sie bastelte sich dankbar einen Stick. Ich sah das Ende meiner jahrelangen Anzeigenkampagne gekommen und sie anscheinend das Ende eines Vorspieles, das ich noch gar nicht bemerkt hatte. Sie stöhnte über die spätsommerliche Hitze, die gar nicht so schweißtreibend war, und entledigte sich wie selbstverständlich ihrer Bluse. Nebenbei sah sie mich dabei an und fragte, ohne eine Antwort zu erwarten, ob sie dürfe. Ich zog meine hängenden Schultern ganz nach oben und glotzte sie nur an, sie und ihre kleinen Brüste. Ich wußte nichts zu sagen. Dann näherte sie sich meinem Körper. Ich war ob dieser Szenerie sehr überrascht; ich wollte doch nur meine künftige Frau finden, nicht eine willige Scheidenträgerin ficken. Sie begann, obwohl ich nicht zustimmte (aber auch nicht abwehrte), an mir herumzufummeln. Ich erinnerte mich meiner prallen Blase und gab vor, sie entleeren zu müssen. Sie meinte, sie möchte nicht in Konkurrenz mit meinem Wasserspeicher treten und ließ mich abgehen. Nach dem Klogang blieb ich in der Tür zur Wohnstube stehen und verabschiedete mich.
So war mein erstes Treffen mit dieser Frau, es folgten in den nächsten Monaten noch weitere Zusammenkünfte. Leider mußte ich bald erkennen, daß ich höchstens Nummer 46 auf der Besetzungsliste dieser Angebeteten sein durfte. Mit dem ersten und letzten geschlechtlichem Verkehr zwischen unseren Körpern ließ ihr Interesse, mich aushalten zu wollen, merklich nach. Ich schrieb ihr noch Briefe, bis sie mir einmal böse zurückschrieb, ich solle meinen Scheiß für mich behalten und sich weitere Briefe jeglicher Art verbat. Das war im November 1996. Seitdem hörte ich nichts von ihr, bis ich sie vor einigen Tagen wieder am Telefon hatte.

14. Mai 1998

Ich durfte sie besuchen und mit Spargel bekochen. Letzterer war zur Hälfte verholzt, sie lobte ihn trotzdem. Ihr erstes Bier war ein Light-Bier. Sie erklärte, so etwas weniger Alkohol oder - andersherum - etwas mehr Bier trinken zu können. Du weißt, meine Marke ist Jever, und da ich bei ihr im Eisschrank derartiges Gebräu nicht vorzufinden erwartete, und nicht auf meine Tagesration zu verzichten gedachte, brachte ich selbst einige kalte Flaschen mit. Als ihr Kinderbier in sie geflossen war, stieg sie auf mein Erwachsenenbier um. Es war ein angenehmer Nachmittag. Zwischenzeitlich zog sie ihre Bluse hoch, um irgendetwas auf ihrem Bauch oder ihrer Brust zu betrachten, minutenlang. Diese ihre Taktik war mir schon bekannt und ich ließ nur einige verschämte Seitenblicke auf ihre brustesken Warzen zu, die mich nicht unkontrolliert erregten. Nach zwei Bieren mußte ich mich als verantwortungsbewußter Kraftfahrer, der nicht aus dem Verkehr gezogen werden möchte, verabschieden. Mehr Zeit bei ihr bedeutete immer mehr Bier in mich.
Nach einem weiteren Essen bei ihr, sie kochte eigentlich ungenießbaren Tiefkühlfisch, begleitete sie mich auf einer Kanu-Tour. Wie verzichteten auf den Außenborder und paddelten die ganze Zeit. Sie trank dabei fast ganz alleine das schöne Bier, hatte aber wenigstens dauerhaft gute Laune.
Gestern rief sie an und wollte mich auf eine Lesung, kombiniert mit einem Geigenkonzert, mitnehmen. Ich erklärte, daß ich nur zwei grüne Jogginghosen und eine Bundeswehr-Hose besitze, mit nichts anderem meine langen Beine bedecken könnte. Das war für sie unmöglich und sie forderte mich auf, neue und anständige Hosen zu kaufen. Als ich noch draufsetzte, daß ich am betreffenden Abend lieber das Endspiel im Europa-Cup der Pokalsieger sehen wollte, legte sie auf.
Ich fühle mich ihr so seelenverwandt, aber das scheint einseitig zu sein. Ich las in dieser Woche in einer Zeitung, daß sich statistisch jeder Mensch nur zweimal im Leben richtig verliebt; ich müßte damit mein Soll erfüllt haben.
Liebste Karen, das Leben nimmt seinen Lauf und ich spüre ihn wenigstens wieder.

Dein Svensgar.


 
AW: Nicht verschickte Briefe.

Westberlin, 14. Mai 1998
Liebe Jana.

Kommende Woche werde ich mich bemühen, meinem Körper eine annehmbare Schale zu kaufen. Du hast Recht, wer sich mit reingewaschenen Lumpen kleidet, kleidet sich zwar reinlich, aber doch lumpenhaft.
Weiter heißt es vom Nutzen und Ursprung der Mode: Die ersichtliche Selbstzufriedenheit des Einzelnen mit seiner Form macht die Nachahmung rege und erschafft allmählich die Form der Vielen, das heisst die Mode. Diese Vielen wollen durch die Mode eben jene so wohlthuende Selbstzufriedenheit mit der Form und erlangen sie auch. - Wenn man erwägt, wie viel Gründe zu Aengstlichkeit und schüchternem Sichverstecken jeder Mensch hat und wie Dreiviertel seiner Energie und seines guten Willens durch jene Gründe gelähmt und unfruchtbar werden können, so muss man der Mode vielen Dank zollen, insofern sie jenes Dreiviertel entfesselt und Selbstvertrauen und gegenseitiges heiteres Entgegenkommen Denen mittheilt, welche sich unter einander an ihr Gesetz gebunden wissen. Auch thörichte Gesetze geben Freiheit und Ruhe des Gemüths, sofern sich nur Viele ihnen unterworfen haben.

Wie war Deine gestrige kulturelle Aktion? Ich sah ein wenig berührendes Fußballspiel im Fernsehen. Das kommt oft vor, hindert mich jedoch keinesfalls, das Glotzen in die Röhre aufzugeben; ich weiß ja, lange genug gewartet, kommt immer die Gelegenheit, Amüsantes, Kurioses oder gar Unglaubliches (Menschen sterben live vor Kameras) betrachten zu können. Die Menschheit ist durch Kabel und Abwasserkanäle miteinander vernetzt. Auch nicht zu vergessen, der sportliche Unterhaltungswert; ich stehe zu meiner Liebschaft Fußball. In Frankreich beginnt am 10. Juni die Fußball-Weltmeisterschaft, bis zum 12. Juli werden fast täglich mehrere Spiele übertragen, die ich mir sämtlich anzusehen gedenke; darauf warte ich immer vier Jahre. Du wirst zugeben müssen, daß außer den Olympischen Spielen kein Ereignis auf der Erde in der Lage ist, die gesamte Menschheit für die Dauer einiger Wochen teilzuvereinigen. Selbst Kriege ziehen weniger Aufmerksamkeit auf sich, als es ein spektakulär erzieltes Tor im Endspiels eines WM-Turniers vermag.

Ich wollte es Dir nicht sagen, es zu schreiben, fällt mir leichter (leichter ist noch zu wenig, es ist mir wie ein Vergnügen): Eine Durchsetzung Deines Körpers mit HepatitisABC-Viren kann mich kaum von ihm fernhalten; ebensowenig eine Füllung Deiner Mundhöhle mit Quecksilber, Gold oder Kunststoffen.
Heute Abend bin ich bei meiner Friseuse zum Essen eingeladen, wir haben uns auf Kartoffeln, Bouletten und Rosenkohl einigen können. Leider beginnt dieses orale Vergnügen schon um 18 Uhr, was bedingt, daß ihre beiden vorpubertären Söhne, zumindest anfangs, anwesend sein werden. Später, wenn es die Situation gestattet, werde ich mich in ihrer Badewanne nackt ins heiße Wasser legen; das kam in den letzten Jahren schon ein Dutzend Male vor, außer späterem Onanieren (bei mir zuhause) ist jedoch nichts geschehen. Trotzdem erscheint mir alles möglich und das reicht mir; ich würde ja doch meine Augen schließen und an Dich denken.
Wenn ich morgens aufstehe, meist zwischen 3.33 Uhr und 4.15 Uhr, je nach Tag und vorherigem Berauschungsgrad, ist es mir mittlerweile liebe Gewohnheit geworden, zuerst nach dem Anrufspeicher meiner Telefonapparatur zu sehen, ob dieser neue Worte von Dir auf Lager hat; jedesmal freue ich mich, wenn dies der Fall ist, Vorabdank.
Die nicht zu verachtenden Arschknochen- und Rückenschmerzen, Folge unserer montäglichen Kanufahrt, sind in Auflösung begriffen. Ein Glück, ich wußte in den letzten Tagen nicht, wie ich mich auf die Friseuse hätte legen sollen, falls dies angezeigt schiene.

Ich wünsche mir, daß es noch sehr lange dauert, bist Du meinst, ich bin Deiner Begleitung nicht mehr würdig. So sehr es mich auch im Kopf und in den Fingern juckt, ich gebe nicht meinem Drang nach Schmeicheleien nach; zu groß ist meine Angst vor einer vorzeitigen Verstoßung.

Das ist ein Bursche
ohne kollektive Bedeutung,
das ist ganz einfach nur
ein Individium.

Louis-Ferdinand Céline

Bitte entschuldige die Fehler oder nicht, ich korrigiere seltenst.

Ich ziehe mich zurück, Dein Svensgar.


 
Zuletzt bearbeitet:
AW: Nicht verschickte Briefe.

Westberlin, 29. Juli 1998
Liebe Gudrun.

Du bist nun verheiratet, Deine beängstigend fröhlichen Kinder leben voller Freude, es gibt viel zu tun, viel Aufregung und keinen Computer. Und nicht zu vergessen, Deine Wiedergeburt, wie Du es nennst. Ich werde mich bemühen, diesen Lebensjauchzern etwas entgegenzusetzen, dazu brauche ich nicht zu phantasieren, Herr sei Dank, ein einfaches Chronologisieren reicht völlig aus. Wenn es mich überkommt, schiebe ich vielleicht ab und zu einen mutmaßlichen Gag unter den ganzen Stumpfsinn, um zu zeigen, daß ich am Galgen meinen Humor noch nicht verloren glaube.
Heute ist ein Mittwoch. Seit Samstag bin ich endlich wieder im steinernen Westberlin. Eine Woche verbrachte ich mit Pete in Ruhpolding. Er wohnt seit dem letzten unglücklichen Sommer wieder in seiner Heimat Heidelberg. Dort lernte er in seiner WG eine iranische Medizinstudentin kennen und versucht seitdem, sie zu lieben, es klappt ganz gut. Er mußte ihr nur versprechen, niemals mehr illegale Drogen in sich zu stecken und ihr treu zu sein.
Vor einem Monat war unsere Reise nach Ruhpoldiung, die nur zum Zwecke eines Trainingslagers für Drachenflieger gebucht war, stark gefährdet. Seine Dauerfreundin fand an einem ihrer beiden Unterschenkel eine Beule, die sich nach weiteren Untersuchungen als möglicher Tumor herausstellte. Die Chance war nur gering, aber inzwischen steht fest, daß die Aufregungen um ein unerwartet frühes Ableben umsonst gewesen waren.
Ich fuhr mit Pete in eine mäßige Ferienwohnung, gleich in der Nähe unserer Flugschule. Ich hatte mich vorher extra bei der Vermieterin erkundigt, ob Kabelfernsehen auf einem Farbrohr gewährleistet sei, was mir zugesagt wurde. Das Rohr stellte sich als Röhrchen heraus und bot gerade mal lächerliche 16 Programme zur Ansicht. Meine Matratze war spürbar durchgelegen und mit 180 Zentimetern auch kaum meiner Körperlänge (wie Jürgen Klinsmann, 188 Zentimeter) angemessen. Viel schlimmer war, daß ich mit meinem schweißnassen Leib gleich in der ersten Nacht alle angesammelten und versickert geglaubten Ausdünstungen vorheriger Gäste aktivierte und sie zum Wabern brachte; es stank nur noch nach Faulheit, Inkontinenz und fremden, inzwischen längst verstorbenen Menschen. Obwohl ich meist völlig unzureichend schlafe (ich wache, erstmal wieder nüchtern, ständig auf und finde keinen durchgehenden Schlaf) ist mir die nächtliche Ruhephase, gerade in Bezug auf meine ständige Unruhe, wichtig. Ich konnte mich nicht wohl fühlen, da ich mich nie selbst riechen konnte, es stank ständig nach Anderem. Es gab auch eine Menge fetter Spinnen in unseren Zimmern; die visierten jedoch dankeswerterweise meist Petes Einzugsgebiet an und blieben mir erspart.
Ehe es noch langweiliger wird, zum Wesentlichen unseres Urlaubes. Zu unserer Überraschung waren wir die beiden einzigen Kursteilnehmer beim Drachenanfängerkurs. Es gab keine Ausflüchte, wir mußten einen schweren Drachen aufbauen und diesen einen Hügel hinaufschieben, uns einklinken, und mit dem Gerät zusammen den Hang herunterrennen, ohne abzuheben. Dabei war es 35 Grad und wolkenlos. Im Prospekt der Flugschule hieß es, besondere Körperfähigkeiten seien nicht erforderlich, durchschnittliche Fitness sei ausreichend. Das war eine Lüge. Schon nach den ersten Trainingseinheiten fühlte ich die Muskulatur meiner oberen Schenkel, ich wand mich in ihren Schmerzen. Die nächsten Einheiten schaffte ich gerade noch, dann brach alles in sich zusammen. Ich konnte kaum noch laufen, wirkte zeitweise wie eine unglückliche Kreuzung aus Spastiker und MS-Befallener. Pete erging es ähnlich. Wir mußten einige Tage mit dem Training aufhören und die Tage mit uns selbst umbringen. Wir behalfen uns, indem wir alles langsam angehen ließen. Die letzten zwei Tage war ich fast schon wieder hergestellt, hätte erneut in den Drachen steigen können, verzichtete aber darauf; zu sehr befürchtete ich weitere Störungen an meiner (gerade in meinem Alter) wertvollen Muskulatur; außerdem war keine Motivation mehr in mir. Ich fuhr vorzeitig nach Hause, Pete machte noch einen Tag weiter, er schaffte noch einen 10-Meter-Flug. Es war eine Pleite, die nicht sehr überraschte, die mich kaum niederstrecken konnte, liege ich doch schon seit Jahren bäuchlings im Lebensdreck. Ich rollte mich um, schaute kurz auf, aber als ich feststellte, daß nichts Lebensversuchsbedrohliches über mir hing, beschloß ich, meinen Stil des Stumpfsinnes zu verfeinern und mich ihm völlig hinzugeben. Das ist natürlich Unsinn, aber unvermeidlich zu schreiben.
Aber es gibt auch Gelegenheiten, mich gut zu fühlen. Das liegt beispielsweise an dem Kraftwagen, den ich seit einem Monat besitzen darf. Es ist ein alter, fast peinlich gepflegter Mercedes 200 (123) mit Schiebedach, guter Musikmaschine, Automatik und einem Spritverbrauch von unter 10 Liter Super Plus. Er stinkt noch ein wenig nach dem Vorbesitzer und dessen Körperreinigungsmitteln, aber es ist nur eine Frage der Zeit, wann das ausgestunken ist. Ich bin über ein Jahr einen Damen-PKW, einen Golf mit lächerlichen 55 PS, gefahren und schätze es nun sehr, in einer Limousine wie zu gleiten. Schon Roman Herzog bescheinigte den Deutschen ein Unverhältnis in ihrer Liebe zu Maschinen und zu Menschen.
Nach langer Schreibpause bin ich mit diesen ersten Zeilen zufrieden. Mehr unentscheidend, was in ihnen steckt, wichtiger ist, endlich wieder mit den Wörtern herumzuspielen. Ich danke Dir, daß ich Dich dafür gebrauchen darf. Und bis jetzt dürfte ich Dich ja auch kaum mit unerhörten und schmutzigsten Wörtern verstört haben; ich habe nicht vergessen, wie tief geschockt Dein Mann wirkte, als ich ihm gegenüber von Ficken sprach.
Liebe Gudrun, ich ziehe mich vorläufig zurück, fahre erst einmal mit meiner wiedergefundenen Schwester in eine Schule für Junghunde, weiterführende Erklärungen später ...

 
AW: Nicht verschickte Briefe.

30. Juli 1998

Inzwischen bin ich endgültig zum Trunksüchtigen geworden: jeden Abend zwei Liter Jever und in den letzten zwei Stunden mehrere Wodka, Grundlage sind vier bis fünf beruhigende Zigaretten. Sonst stehen mir keine Stimulanzen zur Verfügung, was mir sehr leid tut und mich nicht besser fühlend macht. Alle paar Tage denke und sehne ich mich mich nach Glück verheißendem Heroin, aber aufgrund meiner zurückgezogenen Lebensversuchsweise werde ich kaum an einen seriösen Händler geraten, an den ich meine letzte Reserven verschwenden würde. Und absolute Drogenfreigabe, einschließlich des Verkaufes von 1A Heroin in Apotheken zu fairen Preisen ist in den nächsten Jahren kaum zu erwarten. Das sind finstere bis gar keine Aussichten. Vielleicht liegt meine letzte Chance im Verzicht auf alles, doch dafür fehlt mir ein Schlüsselerlebnis oder eine Erscheinung.


2. August 1998

Kürzlich lief im Radio die 100.ste Sendung des Blue Moon mit Wosch. Es gibt kaum Menschen des öffentlichen Lebens, die ich zu verehren suche, aber Wosch ist einer meiner Lieblinge. Um ihn zu beeindrucken, versuchte ich mich mehrmals als Hörspielmacher, der seine Produkte in der Hörspiel-Vorspiel-Ecke abzuladen gedachte. Das klappte auch; manche fühlten sich beleidigt, aber ich war befriedigt (nur für Sekunden, aber an diese kann ich mich immer erinnern). Wie überhaupt Erinnerungen immer mehr meine Gedanken tränken. Ich kann es nur immer wieder feststellen, bei mir passiert einfach nichts mehr, gar nichts. Meine 15jährige Nichte, die letzte Woche meine Schwestern besuchte und mehrmals bei mir zu Abend aß, beschwerte sich bei mir über einen langweiligen Abend, den wir auf einem Gospel-Konzert im Tempodrom umbrachten. Ich konnte nur darauf verweisen, daß ich keine Ausbildung zum Showmaster absolvierte und daß das Leben im Allgemeinen langweilig erscheine, je nachdem, wie man es zu sehen vermag (oder wie alt man ist). Das konnte sie kaum nachvollziehen, ist sie doch voll mit jugendlicher Kraft und unberührt; Umstände, die noch einiges erwarten lassen. Bei mir sieht es da anders aus. Meinen letzten geschlechtlichen Kontaktversuch vollzog ich vor Wochen mit einer grauhaarigen Frau, die in dem Block wohnt, den ich reinigungsgemäß zu betreuen habe. Es brauchte unzählige Flaschen Bier, wenige Flaschen Wodka und Kräuterlikör, bis wir in meinem Bett landeten. Dort geschah nur sehr wenig, denn die Graue spielte oder war die Unerfahrene, die nicht einmal weiß, wie man einen Penis sicher greift. Wir fummelten uns zu Tode. Während es mir doch einmal gelang, in ihren Unterleib einzudringen, achtete sie darauf, keine Bewegung zu zeigen, sich quasi tot zu stellen. Ich gab auf und schlief unejakuliert ein.
So wirr, wie ich Erlebnisse wiederzugeben vermag, verläuft auch alles. Alles nur Stückwerk, der große Zusammenhang fehlt.

14. August 1998

Zehn Tage sind seit meinen letzten mühseligen Sätzen verronnen, der Brief ist immer noch nicht fertig, wenn auch absendebereit.
Heute um 13 Uhr riß ich meine Arme gleich dem Sieger eines sportiven Wettbewerbes hoch und jubelte stumm. Ich war kurz zuvor mit der Pressestelle der CDU in Bonn verbunden und ein junger Mann versicherte mir, unverzüglich ein Wandposter von Helmut Kohl mit der Überschrift "Weltklasse für Deutschland", wie es seit Tagen überall herumhängt, zu verpacken und an mich abzusenden. Das klebe ich dann über die Kotreste meines abgeschobenen Papageis auf einer Wand meiner Wohnstube. Ich wünsche mir, der Wahlkampfhelfer läßt mir auch das gewünschte Plakat in der Größe von 2.5 mal 4 Meter zukommen und nicht nur irgendein Kleinposter; so könnte ich den Wohnwert meiner Mietsache steigern, ohne tapezieren oder streichen zu müssen.

Ich wünsche Dir ein weiterhin vor Glück berstendes Leben. Falls Du einmal an eine original verschweißte Klinikpackung Morphin kommen solltest, bin ich ein interessierter Abnehmer. Erst kürzlich verwirrte mich eine Bekannte, die am Fuß operiert wurde und wegen großer Schmerzen eine fette Spritze Morphium gestattet bekam. Ihre Schilderungen der Wirkungen ließen meine Adern anschwellen. Ich muß mich jedoch weiter mit Deutschem Pilsener und Russischem Wodka begnügen, ab und zu mal ein Grüner Tee und noch seltener Kaffee. Ich warte ab und habe keinesfalls vor, abzutreten ohne jemals injiziertes Glück oder Wärme genossen zu haben, das scheint in meinem Fall unumkehrbar.

20. August 1998

Heute war es noch einmal über 25 Grad. Ich fuhr zum Strandbad Wannsee, konnte jedoch nicht gleich parken, da ich keinen ausreichend großen Platz für meine alte Limousine fand. Erstmals seit vielen Monaten rief ich wieder mal sehr laut "Scheiße" vor mich hin. Der Sommer geht zuende.
Am Strand roch es sehr nach faulem Wasser. Neben mir platzierte sich alsbald nach meinem Erscheinen eine Gruppe junger kraftprotzender Menschen, die unaufgefordert schreckliche Musik aus ihrer Musikmaschine entweichen ließen. Ich störte mich begrenzt daran, vermied es jedoch, schon wieder "Scheiße" zu schreien. Ich setzte stattdessen mein Lebensprinzip fort, leiden, aushalten, einfach die Zeit rumkriegen. Dabei las ich die neueste Ausgabe meiner Lieblingszeitung B.Z. und steckte vorbereitete Käse-Leberkäse-Brötchen in meinen Mund.
Nach dem Zähneputzen machte ich mich an ein neues, vielversprechendes Buch; es ist das zweite Buch von Sybille Berg und heißt SexII, es beginnt folgendermaßen:
Der Tag davor (Ich, 33. Normal schlechte Kindheit, normal aussehend, normal alleine, normal übersättigt. Ein ganz normales Arschloch.)
Endlich mal wieder etwas, das ich zuende bringen werde. Mit jedem gelesenen Wort wurde ich mir sicherer, den Brief an Dich heute abschließen zu können. Zu müssen, um endlich ... ich weiß es nicht. So wie ich im grünen Wasser des Strandbades entlang lief und dachte, was ich denn nur denken soll. Ich wußte es nicht und es fiel mir nichts ein. Wie so oft. Es scheint, die einzige Bewegung, die ich auszuführen imstande bin, ist die, den Blick auf meine auf der Stelle tretenden Füße zu richten. Die sind inzwischen, nach mehrmonatiger Behandlung mit einem Mittel, das auch gegen Scheidenpilze eingesetzt wird, weitgehend pilzfrei.

Das sollte es sein. Vielleicht teilen wir uns in einem Jahr wieder mit, wie es weitergegangen ist, beziehungsweise daß sich nichts verändert hat. Es wäre mir eine Freude.

Dein Svensgar.

 
Zuletzt bearbeitet:
AW: Nicht verschickte Briefe.

Westberlin, 21. August 1998
Lieber Peter.

Ich versuche, mich nicht zu sehr darum zu kümmern, daß mal wieder alles eine Wiederholung darstellt. Vielleicht schaffe ich es daneben, bisher nicht zu Geschriebenes abzuladen.
Zwei Stunden später. Bevor ich abladen konnte, rief Katja an. Wir werden Anfang kommender Woche einen Laden in der Wiener Straße aufsuchen, in dem man alte Anzüge, Hemden und Schuhe legal erwerben kann; ich wollte doch schon immer einen schicken Anzug besitzen, um auch in meiner alten Limousine eine ansprechende Figur machen zu können; meine Figur an sich ist weniger ansprechend. Katja erzählte mir letztens von diesem Laden und ich dankte ihr alsgleich für diese Information. Damit war das Gespräch nicht beendet. Katja beklagte die Schmerzen in ihrem Fuß, die keine Folgen der Fuß-OP sind, eher die altbekannten Gründe, die überhaupt zur Operation führten. Wenn sich das fortsetzt, war die kleine Öffnung ihres Körpers vergeblich (natürlich die kleine Öffnung an ihrem Füßchen). In den nächsten Minuten sprachen wir über Selbstbefriedigung, Katjas Gefallen an hochwertigen Pornofilmen ("keine Großaufnahmen von Geschlechtsteilen und keine versüfften Darsteller mit Bauch oder Schnauzer"), meine unverlorene Erinnerung an den einzigen Geschlechtsverkehr mit Katja, Delphinen und über die Frage, ob man bei Unlust überhaupt onanieren oder einen begonnenen Onanierversuch bei erkannter Unlust fortsetzen sollte. Bedingt interessant und meinem Interesse genügend, bisher Ungeschriebenes aufs Papier zu lasern, ist die Erörterung meines Verkehrs mit Katja:
Es war im Jahre 1992, Sommer, nach dem Müller-Konzert in der Waldbühne. Wie fuhren beide den Weg auf dem Fahrrad zurück. Schon auf der Fahrt spürte ich mehrmals etwas extrem Hartes in meinem Schlüpfer, das mein Handeln nachhaltig beeinflußte. In meiner staubigen Wohnung angelangt, tranken wir noch etwas, ich rauchte, und Katja war bald sehr besoffen. Ich ließ sie bei mir im Bett übernachten, wohl wissend, daß ich dabei mindestens eine Gelegenheit zum Fummeln bekommen würde. So kam es. Bald waren wir beide nackt und ihr Körper stand mir zur Verfügung. Ich erinnere mich an ihren kleinen Bauch, der sich unerwartet gut anfühlte. Ihre Schambehaarung maß nur wenige Quadratzentimeter. Ihre Möpse haben mir gut gefallen, ich übte daran das Handwerk eines Bäckers. Sie lag unter mir und ich drang in ihren Unterleib ein. Trotz meines enormen Rausches kam ich bald zum Orgasmus und nicht umhin, mein dünnflüssiges Sperma auf ihren Bauch und ihre Brüste zu geben, denn ich trug keinen Gummi und wollte auf keinen Fall ein Kind mit Katjas Genen besitzen. Das war natürlich nicht so schön, aber es war nötig. Sekunden später fing Katja zu weinen an. Ich war bedingt unsicher, flüchtete mich in ihr gebenden Trost. Es wurde nicht über Tränen gesprochen, bis heute nicht. Habe ich ihr wehgetan oder hatte sie nur eine ihrer Krisen? Ich will es nicht wissen, begnüge mich mit den Erinnerungen an ihren Leib und meiner Penetration desselben. Gelegentlich hilft es mir, schneller das manchmal lästige Onanieren zu beenden.

Dein Svensgar.
 
AW: Nicht verschickte Briefe.

Westberlin, 23. August 1998
Lieber Peter.

Heute fahre ich noch ins Spandauer Sommerbad Gatower Straße, in dessen Sportbecken ich versuchen möchte, wenigstens lächerliche 500 Meter zu schwimmen. Gegen Ende dieses unglücklichen Sommers ist meine Motivation für sportliche Pflichtleistungen geringer als meine Geschlechtsverkehrsquote, und Du wirst Dir denken können, was das heißt. Obwohl ich die letzten Monate nicht als gelungen bezeichnen möchte, konnten sie mich doch etwas in betäubenden Stumpfsinn wickeln. Jetzt wird es wieder unverhinderbar kälter und es gibt weniger zu tun. Ich werde auf meine Gedankenwalzen verwiesen, die unaufhörlich Verzweiflung nahelegen. Zum Glück kaufte ich vor fünf Tagen ein Buch von Sibylle Berg, das ich schon vor dem Sommer bestellte, aber bisher im Regal der Buchhandlung schmoren und reifen ließ. Ich lese es sehr langsam, da es mir spürbar gut gefällt und ich es nicht unnötig verfressen möchte. (Das ist nicht gut ausgedrückt, aber mir fehlen die Kräfte, es richtiger zu formulieren. Ich nehme mir auf meinen letzten Papieren heraus, auch mal nur Unsinn zu schreiben. Es bleibt ja unter uns und ich muß mit keiner Strafanzeige rechnen. Davon gehe ich aus. Besser ausgedrückt: Davon stehe ich aus oder davor stehe ich mich aus.
Gestern las ich im Buch: Wer denkt, muß unzufrieden sein. Ich frage mich, denkt derjenige, der unzufrieden ist? Muß er wohl nicht.

Ich sitze nur noch da und weiß nichts mehr.

25. August 1998

Als ich gestern gegen 23.30 Uhr auf meinen Balkon trat, um einen letzten Rauchkörper zu verwerten, fror ich fürchterlich. Es ist nun Herbst. Auch im Bett entwickelte sich an meinem Körper eine Hühnerhaut. Ich denke schon wieder an meine Öfen, Koks und Bullern. Im Block, wo ich hauswarte, wird schon geheizt. Es ist sehr praktisch, eine eigene Heizanlage zu führen, die nur auf einen Knopfdruck reagiert (ich lebe nun dreizehn Jahre mit zwei Kachelkohlenöfen). Könnte es so nicht auch mit dem Gutfühlen sein?
Ich war gestern mit zwei meiner Schwestern, Marianne und Martha, im Kino, Delphi am Zoo. Ich saß zwischen ihren beiden Leibern; das war mein Wunsch, um nicht durch einen Fremden an meiner Seite vom Film abgelenkt zu werden. Martha aß jedoch zuerst M und Ms, danach leerte sie in unregelmäßigen Abständen und nicht zügig eine elende Kleinpackung Chips. Chips empfinde ich als ein grausames und ekeliges Nahrungs(?)mittel. Außerdem stinken die Menschen dann ungeheuer nach Chipsbrei.
Das alles lenkte mich von der rennenden Lola ab. Trotzdem war der Film gut, ordentlich annehmbar. Ich hatte zuviel Gutes gelesen und meinte, ein Meisterwerk sehen zu dürfen. Dem war nun nicht so, aber der Filmemacher ist noch jung und hat gute Chancen, ein Besserer zu werden.
Nach der Vorstellung klatschten sogar einige Menschen, obwohl niemand vom Filmteam da war. Während der Vorstellung hätte ich gerne einmal Marianne oder Martha zwanglos berührt, jedoch traute ich mich nicht. Martha meinte am Anfang des Filmes, als einige Zitate bekannter Denker zur Zeit eingeblendet wurden, sie wäre gerne ein wenig schlauer. Darüber wäre nachzudenken. Ich bezweifele, ob mehr Schläue in der Lebensbewältigung so hilfreich ist.

Mein Tee ist alle, ich bin nun ein wenig aufgeputscht. Kein Vergleich zu Ephedrin oder anderen Knallern, aber ausreichend, um mich in den Block zu schleppen und dort drei Flure zu wischen. Dann noch die Mülltonnen im Hof in eine Reihe platzieren und ich habe wieder Feierabend. Ich werde snacken und anschließend mit Katja nach Kreuzberg fahren, nach einem Anzug glotzen. Ab heute gibt es endlich wieder Harald Schmidt, Donnerstag soll Helmut Berger bei ihm ... sein, ich freue mich.
Sonst bin ich verzweifelt, absolut hoffnungslos und alleine. Ich lebe, lebensversuche. Es geht mir gut.

Im kommenden Jahr muß ich 35 Jahre alt werden. Unglaublich, wie alt man werden kann, obwohl man nichts dafür tut. Es geht von ganz alleine. Ich müßte dann die ersten Vorsorgeuntersuchungen auf Prostatakarzinom vollziehen lassen. Du weißt ja, was das bedeutet. Ohne Aussicht auf Lust muß man sich im Po rumspielen lassen. Am besten, ich versuche eine Ärztin kennenzulernen, die angezeigte Prüfungen privat vollstreckt.
Ansonsten schmerzen mich Schwielen an meinen Füßen, das Nagelbett meines rechten großen Zehes, ein wenig meine täglich geforderten Lungenflügel, und ein Knubbel in meiner unteren Mundlippe. Letzterer ist ungefähr zwei Maiskörner groß und belästigt mich seit drei Tagen. Anfangs war er anständig und völlig schmerzunempfindlich, nun macht er sich schon mal bemerkbar und mich denkend, ob er nicht ein Tumor sein könnte. Solange nichts blutet, bin ich nicht sonderlich nervös.
Marianne will mir in der nächsten Zeit ihre Zahnprothese und die dazugehörige Lücke in ihrem Mündchen zeigen; Angebote über ein Fotografieren lehnte sie bisher ab.

Dein Svensgar.

 
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AW: Nicht verschickte Briefe.

Westberlin, 26. August 1998
Liebe Nadja.

Wie so schön geplant, fuhr ich mit Katja, ihrer Hündin und mir nach Kreuzberg. Das Radio ließ ich aus, da Katja unaufhörlich quatschte. Wir passierten gerade das Kottbusser Tor, als mich meine Beifahrerin lässig darauf aufmerksam machte, daß ihre Hündin gerade im Fond auf der Bank kotzte. Ich wußte, der Tag oder die ganze Woche waren damit gelaufen. Ich parkte meine außen weiße Limousine, stieg aus und wartete ab, bis Katja den Kotzhaufen so schlecht es ging beseitigt hatte. Versteinert stieg ich wieder ein und hörte mir die viertelherzigen Entschuldigungen an. Innerlich winkte ich ab und nahm mir vor, Katja und ihre Hündin nie mehr zu transportieren.
Trotzdem, wieso auch nicht?, erreichten wir die Wiener Straße und ich parkte korrekt. Zu dritt gingen wir in den Laden und sahen uns die Anzüge an. Der Verkäufer schätzte meine Größe auf 56 oder 104. Es gab nur einen einzigen passenden Anzug, dessen Schnitt mir jedoch nicht gefiel. Smokings fand ich prima, aber es paßte keiner. Es gab ebenso keine schönen Schuhe in meinen Maßen 46/47. Wir zogen wieder ab. In einem second hand-Laden auf der anderen Seite probierte ich verschiedene Jeans, sie waren ebenso schäbig wie der Laden, paßten aber glücklicherweise nicht.
So fuhr ich Katja, ihre Hündin und den braunen Fleck auf der blauen Rückbank zurück nach Spandau. Nach einer kleinen Rauchpause, die mich kaum beruhigen konnte, entfernte ich die Kotzspuren mit Wasser und Bürste. (Heute sah ich mir die getrocknete Stelle an, und es war nichts mehr zu sehen, Herr sei Dank.) Ich steuerte eine Shell-Tankstelle an und tankte für 100 Deutsche Mark; unverlangt erhielt ich noch ein Schumi-Poster ("Wir haben das Zeug zum Weltmeister.").
Den ganzen Abend ging es mir dann schlecht bis sehr schlecht. Ich fühle mich ungeheuer neben mir, dabei kraftlos und antriebsschwach. Vielleicht warte ich nun auf keinen Sommer mehr.

27. Dummer August 1998

Heute vormittag konnte ich schon wieder nicht so schlafen, wie ich es mir wünschen würde. Wie schon tausendemale vorher wurde ich von einer Bohrmaschine, einer Parkettschleifmaschine oder einem Preßlufthammer geweckt. Jeden Tag ist immer Krach. Das macht mir zusätzlich alles egal, aus spontaner Wut über diese Unerträglichkeit könnte ich mich jedesmal umbringen. Vorhin versuchte ich, die Luft anzuhalten, aber nach einer halben Minute mußte ich husten und mein schöner Selbstmordplan war beendet.
Gestern kaufte ich mir endlich eine neue Jeans. Levis, zweite Wahl, 34/33, in blau für 59 Deutsche Mark; ich muß also künftig nicht immer Armeehosen tragen. Wie ich nun zu einem schicken Anzug kommen kann, weiß ich kaum.
Es steht nun fest, daß für mich endgültig die traurige Zeit begonnen hat. Wie komme ich nur über diesen Herbst und Winter? Millionenmal werde ich in meiner schäbigen, keinen Besuch anlockenden Wohnung stehen und mich kalt fühlen. Und dagegen ist nichts zu machen. Es steht soviel Kotze an, daß ich gar nicht weiß, wohin mit den vielen Tonnen. Vielleicht mache ich damit ein Schwimmbad auf und biete einen Lehrgang zum Freikotzschein an. Bei Bedarf könnte man auch den Jugendschwimmer machen oder einen Tauschein erwerben.
Am Wochenende soll im Freibad Jungfernheide eine Party stattfinden, mit Palmen, lauter Musik, Fressen, Bier und vielen Menschen. Es bleibt aber kalt und somit dürfte dieser Höhepunkt in der blöden Siemensstadt ausfallen. Ich hätte mir sowieso Fußball im Rohr angesehen, es gibt von Freitag bis Sonntag DFB-Pokal.

Ich kann mich langsam verabschieden und bei Bedarf von allem Hingerotztem entschuldigen. Aber ganz richtig las ich vor einigen Tagen, daß man ohne Angst erst recht nichts zu schreiben hätte, wahrscheinlich gar nichts zu leben. Also trage ich die Angst, mich lächerlich gemacht zu haben.
Bitte entschuldige alles. Du hast gute Chancen, daß ich in einem Jahr wieder schreibe. Zu Deinem Geburtstag werde ich mich nicht melden, nehme es nicht persönlich, ich sterbe eben, da kann man nicht zu Geburtstagen gratulieren. Es ist mir ja auch nicht wichtig. Ein persönlicher Satz ist mir wertvoller als alle gleichen sogenannten Glückwünsche zusammen, die ja sowieso an meinen Bedürfnissen vorbeigehen.

Ich kämpfe mit den letzten weißen Stellen auf diesem Papier, ich will sie unbedingt noch wegbekommen.
Mit dem kalten Wetter erhöht sich wieder der Druck auf meiner Lunge. Ich betreibe ja so schlecht wie keinen Sport mehr und das spüre ich. Jeden Tag pumpe ich Rauch in mich, halte ihn so lange es geht, und blase ihn nur ungern aus. Das hinterläßt seine Spuren, Kulturen für Tumore und Lungenpusteln.
Heute abend ist nun Helmut Berger bei Harald Schmidt und es ist zu spät, Dich darauf hinzuweisen. Es ist nicht wichtig, aber es könnten zwei bis drei Lacher dabei sein.

Jetzt reicht es, dieser Brief war eine große Leistung.

Dein Svensgar.

 
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