AW: Ist Wahrheit verhandelbar?
Wenn beide denselben Apfel probieren, dann kann jeder nur selbst beurteilen, ob ihm der Apfel schmeckt, bekommt, ob er mehr davon möchte, ob er den Geruch mag, die Farbe usw.
Auch das ist nicht verhandel- sondern nur feststellbar.
Wenn dir ein Apfel schmeckt, ist das ein Aspekt der Wahrnehmung, nicht der Wahrheit.
Wahrnehmung ist das, was für ein Bewusstsein unmittelbar passiert, sie ist das, was für das Bewusstsein unmittelbar "Welt" präsentiert. Wahrnehmung ist nicht kommunizierbar (man kann den Geschmack eines Apfels nicht kommunizieren - nur beschreiben, was nicht dasselbe ist) und kann deshalb niemals Teil eines Wahrheitsdiskurses sein.
In der Selbstbeobachtung kann das Bewusstsein divergierende oder widersprechliche Warhnehmungen machen, woraufhin es darüber nachdenkt und vielleicht für sich Schlüsse zieht, die man als subjektive Wahrheiten bezeichnen könnte. Aber hier muss man schon relativieren, dass das keinesfalls "eigene" Gedanken im Sinne wirklich originärer Vorgänge sind. Denn das ist alles schon vorgefiltert durch Kommunikation, etwas durch die Sprache, die wir nur im Umgang mit Anderen lernen können.
Schließlich kann man in Gesprächen Ansichten, Meinungen usw. äußern. Die allermeisten werden unwidersprochen bleiben, und wir werden feststellen, dass nur ein ganz kleiner Teil unserer Kommunikation sich darum dreht, ob etwas wahr oder falsch ist (obwohl wir ja angeblich viele hundert mal am Tag "lügen").
Egal, wie jetzt die von neugier kritisierte Quelle einzuschätzen ist, der Punkt, dass nur ein Bruchteil aller Information verarbeitet wird, ist für das weitere Verständnis wichtig. Man nennt dieses Phänomen "Komplexitätsreduktion", und es ermöglicht dem Bewusstseinsystem und Kommunikationssystemen, zu funktionieren.
Ohne die Reduktion der Komplexität würden Systeme zusammenbrechen, also Individuen würden durchdrehen und Kommunikation käme vor lauter Überfrachtung durch Information nicht mehr zustande. Wir müssen uns klarmachen, dass jede Kommunikation auf Komplexitätsreduktion beruht, schon Sprache beruht ausschließlich darauf, jeder BEgriff ist eine radikale Vereinfachung eines Phänomens mit unglaublich vielen nicht berücksichtigten Aspekten (so wie z.B. in der Aussage "der Apfel schmeckt" der Nährstoffgehalt, die Kulturgeschichte des Apfels und alles mögliche andere nicht mitkommuniziert wird).
Daher beruht jeder Sachverhalt, über den geredet wird, auf einer Vereinfachung, mithin ist jede "Wahrheit" nur ein vereinfachtes Modell einer Realität, die man nicht erfassen und kommunizieren kann. Die "wirkliche Welt" ist unerreichbar, siehe Kant, siehe noch mehr: Schopenhauer ("Welt als Wille und Vorstellung"). Im Zweifelsfall muss daher Wahrheit "verhandelt" werden, weil man sich darüber einig werden muss, wie man das Modell (die Vorstellung) von Welt vereinfachen will.
Für banale Fälle scheint das obsolet zu sein, weil man es dafür automatische kulturelle Übereinstimmungen gibt - aber wenn man sich etwa vorstellt (um bei den Äfpeln zu bleiben), dass es Kulturen gibt, die keine Äpfel kennen oder sogar keine Zahlen in unserem Sinn (wie z.B. Völker des Amazonasgebietes), ist klar, dass auch banalste Übereinstimmung FOlge einer kulturell zustandegekommenen Konvention sind.
Der Auslöser unserer Kontroverse (also unserer Divergenz bezgl. der Frage, wie in diesem Fall Realität zu einem Modell reduziert werden kann), lag in der Aussage Manfreds, man sei in seiner Wahrheit. M.E. trifft dieses Bild aber auf die Wahrnehmung zu, wie ich sie anfangs geschildert habe, und die miemandem sonst zugänglich ist, außer dem Wahrnehmenden.
Wahrheit wird erst relevant im Zusammenhang mit Kommunikation (auch subjektive Wahrheiten werden erst interessant, wenn sie kommuniziert werden). Und als Nebeneffekt der Tatsache, dass man sich über die Vereinfachung der Dinge einig werden muss, ist dann so etwas nützliches wie z.B. die Wissenschaft entstanden...