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Vom Verschwinden der Kindheit

Corsario

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6. Dezember 2007
Beiträge
248
:geist:Der STERN brachte unlängst eine lange, gedankenvolle Titelgeschichte über das "Verschwinden der Kindheit" aus unsern Städten, Dörfern, Wälder, Felder und Fluren, dem alle erdenkliche Beachtung im öffentlichen Diskurs zu wünschen ist.

Das Bild, das sich die Menschen vom Kindesalter gemacht haben, hat sich im Laufe unserer Geschichte immer wieder gewandelt. Aber nicht immer stetig und Schrittchen für Schrittchen. Es gab eine Zäsur. Der Begriff "das Kind" ist eine Schöpfung der Moderne. Vorher gab es nicht einmal das Wort. Im Mittelhochdeutschen bezeichnet "daz kint" ein Verwandtschaftsverhältnis und hat mit dem Lebensalter gar nichts zu tun. Dann – etwa in Wolfram von Eschenbachs Parsifal –heißt "kint" ein jeder, der jünger ist als der andere, auch wenn er dreißig, vierzig ist.

Aber nicht das Bild des KINDES ist durch die moderne, bürgerliche Gesellschaft zunächst neu entworfen worden. Es ist ein Gegenbild zu dem ERWACHSENEN. Das ist der arbeitsame, um seinen Erfolg im Leben ernstlich besorgte, eigenverantwortliche Berufsmensch. Kind ist, wer noch nicht erwachsen ist. Zunächst eine negative Bestimmung. Eine positive Bedeutung kommt mit Rousseau und den Romantikern hinzu: Das Kind ist auch das, was der Erwachsene nicht mehr ist – und vermisst.

Seither wird über Kinder unter doppeltem Vorzeichen gesprochen: Es soll werden, wie die Erwachsenen sind. Und es soll sein können, was es selber ist – den Erwachsenen würde sonst was fehlen in ihrem Leben. Der erste Standpunkt ist der von Industrie, Erwerbswelt und Polizei. Der zweiten Meinung neigen die privaten Alltagsmenschen zu, Eltern, Onkels und Tanten und die Nachbarn.

Eine perfide Mittelstellung nimmt der Pädagogenstand ein, der aus der bürgerlichen Gesellschaft "erwachsen" ist: Das Kind soll sein, wie es ist, damit er es so machen kann, wie die Erwachsenen sind; und dabei seinen Lebensunterhalt verdienen. Je mehr er die Kinder infantilisiert, in seinen Anstalten von der Welt isoliert, behütet und entmächtigt, umso sicherer kann er die steuerzahlenden Erwachsenen von seiner Unverzichtbarkeit überzeugen. Die Erwerbspädagogen haben sich inzwischen selbst den Eltern als ihre Zensoren und Wegweiser aufgedrängt und sich zum Vorbild aufgeworfen: Einen "Führerschein für Eltern" fordert Klaus Hurrelmann – zertifiziert von erwerbsmäßigen Pädagogen, von wem sonst? Dass die Explosion der pädagogischen Berufe in den siebziger Jahren im Zeichen der Antiautorität ihren Anfang nahm, macht die Perfidie sinnfällig. Die Folgen beschreibt der "Stern" in starken Farben.

Aber die Geschichte hat ihre eigenen Ironien. Denn diese Folgen widersprechen inzwischen nicht nur dem gesunden Verstand und der Menschenliebe der Alltagsleute. Auch die – computerisierte – Industrie und das Erwerbsleben brauchen heute immer weniger den räsonierenden, vorsichtig den Vorteil berechnenden und gesellschaftlich korrekten Sachbearbeiter, sondern – wieder – den frohen, neugierigen, wagemutigen Eroberer, der zum Unternehmer taugt, weil er als Kind die Freuden des Unternehmens kennen gelernt hat. Nicht die weitere, womöglich ganztägige Verschulung, sondern die Entpädagogisierung der Kindheit ist daher das GEBOT DER ZEIT.

:geist:mehr unter:
http://www.jochen-ebmeier.de/Pädagogik
 
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AW: Vom Verschwinden der Kindheit

Hi!

späte reaktion !
als pädagoge ist dir die problematik ja voll bewußt!

ich sehe viele verschiedene aspekte.
zum einen die gestiegenen ansprüche und verteuerungen in vielen lebensbereichen, die zwei gehälter notwendig machen, um den vertrauten lebensstandard zu halten.

dann sind da noch die frauen, die auch , so wie ihre partner, karriere machen wollen.

dann sind da noch die alleinerzieherinnen, die darauf angewiesen sind, ihre kinder betreuen zul assen!

und dann ist da noch die wirtschaft, der dienstgeber.. der druck macht, kündigungsangst verbreitet und kein verständnis für eltern mit kranken kindern... zeigt.

viel streß und druck entsteht in den familien durch zeitmangel, unklare aufgabenteilung und unsicherheit.
im kindergarten erlebe ich es so, dass die eltern immer "das beste" für ihr kind wollen!
aber halt notfalls noch mit der"g`sunden watschn"
mit kinder vor dem fernseher deponieren um ruhe zu haben...
mit regeln die nie eingehalten werden...
mit überreaktionen, die für alle beteiligten eigentlich lachnummern sind" du wirst nieee mehr..."

ich sehe bei vielen eltern sehr viel unsicherheit.
wie es mit ihnen gemacht wurde, so wollen sie es nicht- aber wie denn.

sie bei diesem prozeß zu unterstützen ist ein lieblingspart meines berufes.
wer mit kindern arbeitet und die eltern nicht erreicht verschenkt das halbe potential.

verlust der kindheit durch zu wenig natürlichen erfahrungsraum, zubaggern mit "bildungsaktivitäten" und vereinsaktivitäten, zuviel fernsehen, zuviel pc.
mein sohn sitzt auch so viel, dass es mich verstört. aber er ist 19 und erziehungsresistent.:wut1:

ich versuche immer wieder mich auf das wesentliche zu besinnen und im kindergarten die kognitiven inhalte hintan zu stellen- viel in die natur, wasser, sand, wald, erfahrungsraum bieten!
so gesehen können wir als pädagogen versuchen ein stück kindheit zu schenken!

liebe grüße!
 
AW: Vom Verschwinden der Kindheit

Eine perfide Mittelstellung nimmt der Pädagogenstand ein, der aus der bürgerlichen Gesellschaft "erwachsen" ist: Das Kind soll sein, wie es ist, damit er es so machen kann, wie die Erwachsenen sind; und dabei seinen Lebensunterhalt verdienen. Je mehr er die Kinder infantilisiert, in seinen Anstalten von der Welt isoliert, behütet und entmächtigt, umso sicherer kann er die steuerzahlenden Erwachsenen von seiner Unverzichtbarkeit überzeugen. Die Erwerbspädagogen haben sich inzwischen selbst den Eltern als ihre Zensoren und Wegweiser aufgedrängt und sich zum Vorbild aufgeworfen: Einen "Führerschein für Eltern" fordert Klaus Hurrelmann – zertifiziert von erwerbsmäßigen Pädagogen, von wem sonst? Dass die Explosion der pädagogischen Berufe in den siebziger Jahren im Zeichen der Antiautorität ihren Anfang nahm, macht die Perfidie sinnfällig. Die Folgen beschreibt der "Stern" in starken Farben.

Aber die Geschichte hat ihre eigenen Ironien. Denn diese Folgen widersprechen inzwischen nicht nur dem gesunden Verstand und der Menschenliebe der Alltagsleute. Auch die – computerisierte – Industrie und das Erwerbsleben brauchen heute immer weniger den räsonierenden, vorsichtig den Vorteil berechnenden und gesellschaftlich korrekten Sachbearbeiter, sondern – wieder – den frohen, neugierigen, wagemutigen Eroberer, der zum Unternehmer taugt, weil er als Kind die Freuden des Unternehmens kennen gelernt hat. Nicht die weitere, womöglich ganztägige Verschulung, sondern die Entpädagogisierung der Kindheit ist daher das GEBOT DER ZEIT.

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Hallo Corsario,
ein sehr interessantes Thema wirfst Du da auf!

Ich denke, dass du in vielem Recht hast, bitte aber zwei Dinge zu bedenken:

1) Wenn man den Eltern das Erziehen und Belehren der Kinder überlassen wollte, wären ganz üble Bildungslücken die Folge. Im Gegensatz zu früher muss ja ein Kind heutzutage Physik, Mathematik, Chemie, Informatik... lernen, um später Chancen zu haben, das eigene Leben zu erarbeiten. Wieviele Leute trauen sich zu, ihren Kindern all das notwendige Wissen zu hause zu vermitteln?

2) Wollten Eltern ihre Kinder zu Hause bilden, müsste mindestens ein "Elter" auf Berufstätigkeit verzichten - kein besonders populäres Rollenbild heutzutage.

Mir scheint daher, dass das gegenwärtige schulsystem (oder ein ähnliches) von den Lebensverhältnissen bei uns erzwungen wird. Und auch nicht ganz zu Unrecht.

LG, pispezi :zauberer2
 
AW: Vom Verschwinden der Kindheit

Ein sehr interessanter Beitrag Corsario, besonders wenn man bedenkt, dass Du selbst Pädagoge bist.

Eigentlich verschwinden ja nicht die Kinder aus Städten, Dörfern, Wäldern, Felder und Fluren. Es gibt nur nicht sehr viele Berichte aus dem Leben von Kindern, die auch viele Erwachsene erreichen würden.
Je nachdem, wie man seine eigene Kinderzeit erlebt hat, erinnert man sich entweder gerne daran zurück oder man verdrängt vieles im späteren Leben.
Ich gehöre zu jenen, die sich gerne zurückerinnern (obwohl nicht immer alles rosarot war) und ich suche diese Stimmung auch in meiner Lektüre. Nicht umsonst ist Hermann Hesse mein Lieblingsautor, und mein Lieblingsbuch "Aus Kinderzeiten".

In meiner Ortschaft ist das Thema Kind immer wieder, und gerade jetzt sehr aktuell. Es wurde eine neue Musikschule gebaut und sie wird morgen feierlich eröffnet. Mein erster Impuls dazu war, dass ich mich sehr für die Kinder gefreut habe. Denn das wäre mein Traum gewesen, etwas mehr mit Musik zu tun zu haben. Für meinen Geschmack hätten wir ruhig öfters etwas gemeinsam in der Schule singen können, oder mehr Musik hören. Leider muss ich sagen, dass meine Lehrer in dieser Richtung nicht sehr viel für uns Kinder taten (mit einer einzigen Ausnahme).
Eine Lehrerin z. B. ertrug es nur sehr schlecht wenn jemand einen anderen Musikgeschmack als die Klassik hatte. Alle anderen Stilrichtungen wurden abgewertet und geringschätzig beurteilt. Auch der natürlichste Weg eines Kindes, die gehörte Musik (z. B. Schlager) nachzuahmen/-singen wurde und wird abgewertet und als "schlecht" eingestuft. Die Kinder hätten noch nicht die Stimmlage für solche Vorbilder, heißt es lapidar (die Begeisterung für Melodien spielt keine Rolle).

Nun ist es soweit, heute ist mir eine Schar Kinder in Festkleidung entgegengekommen, auf dem Weg zum neuen Musikhaus. Das Motto steht auch schon irgendwie fest: Volksmusik muss es sein! Was auch sonst? So haben gute Kinder Musik zu verstehen, oder nicht?
Von Kinderliedern (Chören) habe ich überhaupt nichts gelesen.
Nun weiß ich nicht mehr so recht ob ich mich nun für die Kinder freuen soll (dass sie das, was ich nie hatte, bekommen), oder mehr enttäuscht sein soll (dass schon wieder eine Zielrichtung vorgegeben wird, anstatt kindliche Neugier und Lebensfreude zu befriedigen)?

Nun gut, vielleicht bin ich auch etwas zu pessimistisch; man wird sehen und hören ("aufhOHRchen"), was dabei herauskommt.

Grüße von FirstDay.
 
AW: Vom Verschwinden der Kindheit

Komisch - zwar verschwindet die Kindheit, aber die Jugend wird immer länger !

Man bedenke, dass "die Jugend" ein reines Kunstprodukt unserer Kultur ist, woanders und zu anderen Zeiten existiert dieses Lebensalter nicht - ein ausgewachsener Mensch, dem gesellschaftlich der Status der Unmündigkeit und Schutzwürdigkeit zugeteilt wird.

Vielleicht würden unsere Jugendlichen nicht mehr mit 30 bei Muttern auf der Couch liegen, wenn sie mit 8 auf einen Baum hätten klettern dürfen, oder mit 4 nicht Leselernspiele hätten spielen müssen.

Noch nie war das Betreten des Rasens so verboten wie heute.
 
AW: Vom Verschwinden der Kindheit

Erwachsene verkümmern,
weil die Arbeit so anstrengend ist

die Freizeitbeschäftigungen lassen mit dem Alter nach,
insofern wünsche ich jedem Menschen ewige Jugend
 
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AW: Vom Verschwinden der Kindheit

Hallo,
verstehe nicht wie das gemeint ist, Verschwinden der Kinder...
Meine Erfahrung und Erleben ist, dass die Kinder bei den Erwachsenen immer im Mittelpunkt stehen. Wenn sich Erwachsene nicht um sich selber und ihr inneres Kind kümmern, um den Nachwuchs dreht sich ihr ganzes Handeln, Denken und Tun stehts. Vielleicht bin ich in anderen Kreisen, Waldorfschule, kreative Angebote für Kinder in Vereinen, Musikschule, Förderung durch die Eltern mit viel Geld usw. überall ist das Kind im Mittelpunkt und genießt die volle Aufmerksamkeit und Zuwendung der Erwachsenen. Kenne kein Elternteil, dass sich nicht ständig mit den Sorgen um ihre Kinder beschäftigt und das ist völlig normal. Warum verschwinden die Kinder?
Kenne einige Erwachsene als psychisch Betroffene die sich wie Kinder verhalten und auch so mit Verantwortung umgehen, sie werden aufwendig und sehr gefühlvoll betreut von Sozialarbeitern und anderen Kräften.
So verschwindet auch das Kindliche nicht, das Naive, das Verandwortungslose, es steckt in vielen Erwachsenen drin, braucht eine führende Hand und es mangelt so leider an Eigenverantwortung.
So würde ich sogar behaupten, dass nach wie vor im 21. Jahrhundert die Unmündigkeit und somit die kindliche Naivität in der Breite der Bevölkerung einen höheren Stellenwert hat und mehr Beachtung bekommt durch Religion, Regierung und andere Führungsebenen als die selbstbewusste, eigenständige und autonome Selbstverantwortung.
Somit ist das Kind oder das Kindliche nach wie vor die dominierende und alles bestimmende Kraft in der Gesellschaft, es bestimmt die Zukunft...

gruß fluuu
 
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