• Willkommen im denk-Forum für Politik, Philosophie und Kunst!
    Hier findest Du alles zum aktuellen Politikgeschehen, Diskussionen über philosophische Fragen und Kunst
    Registriere Dich kostenlos, dann kannst du eigene Themen verfassen und siehst wesentlich weniger Werbung

Nietzsche - Götzendämmerung

weltendenkerin

Well-Known Member
Registriert
1. November 2021
Beiträge
472
Hallo Community,

Hier soll es um Nietzsches "Götzendämmerung", seiner "Einführung in seine gesamte Philosophie" gehen.

Ich habe erst am 24.12. damit angefangen. Zuvor kannte ich nur "Also sprach Zarathustra". Während letzteres Werk großteils wie die Bibel - wie ich meine - zur Erbauung dient, insofern als es froh machen kann, aber nicht muss, und ebenso vieles aufsprengt, ist die Götzendämmerung das Buch, mit dem man jemandem anschießen oder verprügeln kann. Es ist ein Pfeil auf die gesamte Philosophie vor Nietzsche - bis auf Heraklit, welcher großteils verschont bleibt.

Also lasst uns diskutieren über diesen Pfeil, gerichtet auf die Philosophie und alles, was sie bisher hochgehalten hat!

Eure weltendenkerin
 
Werbung:
Im Vorwort sagt Nietzsche, diese kleine Schrift sei eine große Kriegserklärung. Die "Götzen-Dämmerung" ist auch insgesamt in einem sehr aggressiven Ton gehalten. Sie wirkt dadurch, nach meinem Dafürhalten, etwas unsympathisch. Ganz anders als die vorherigen Bücher "Jenseits von Gut und Böse" oder "Zur Genealogie der Moral". Die Götzen, die Nietzsche mit dem Hammer aushorchen will, seien diesmal, wie er sagt (laut Vorwort), ewige Götzen und keine Zeitgötzen. Den großen "Zeitgötzen" Richard Wagner hat er ja in der Schrift "Der Fall Wagner" unmittelbar vor der "Götzen-Dämmerung" niedergemacht, die "ewigen Götzen" (wahrscheinlich die Moral oder Gott) nimmt er sich nun vor. Der Hammer muß aber nicht nur der Zerstörung der ewigen (alten) Götzen dienen, sondern auch als Präge-Hammer neuer Werte in Nietzsches Sinn.
 
Ja, das Vorwort ist sehr bezeichnend. Ich fand es sehr treffend formuliert. "Der Fall Wagner" sollte ich auch einmal lesen.

Mir gefällt am Vorwort auch der Vergleich mit der Stimmgabel sehr gut.

Die Tonart der Kriegserklärung zieht sich, wie mir scheint, durch das ganze Werk. Die "Pfeile und Sprüche" sind da nur ein Vorgeschmack. Bei "Das Problem des Sokrates" geht es dann erstmals richtig zur Sache. Ich bin jetzt bei "Moral als Widernatur". Hier scheint es vor allem dem Christentum und der Kirche an den Kragen zu gehen. Sehr gut formuliert fand ich auch "Wie die wahre Welt endlich zur Fabel wurde". Dieser Teil endet mit dem Satz "INCIPIT Zarathustra". Zarathustra soll also derjenige sein, der den Menschen die wahre Welt wieder näher bringen soll, also die sinnliche Welt als wirkliche Welt. Nietzsche erweist sich in "Die Vernunft in der Philosophie" ja als großer Verfechter der sinnlichen als der wirklichen Welt. Wir können unseren Sinnen ruhig trauen!
An diversen Stellen rückt er auch schon Kant etwas zu Leibe. Ich bin gespannt, ob er das später noch ausführlicher tun wird.
Kriegserklärung trifft es auf jeden Fall sehr gut! Wenn auch mit einem Schuss Sarkasmus oben drauf. Das ist Nietzsches Würze, die sich immer dann zeigt, wenn er ganz besonders gemein sein will ("Sokrates ist ein Missverständnis.", "Gehirnleiden alter Spinneweber", "Sokrates war Pöbel.", etc.). Der Sarkasmus macht seine Kriegserklärung aber auch erträglicher. Von daher passt das gut, wenn er diesen einsetzt.
 
Mich hat das mit der Stimmgabel eher überrascht, denn aufgrund des Untertitels "oder Wie man mit dem Hammer philosophiert", habe ich nicht einen sachten Gebrauch des Hammers erwartet, sondern das Zertrümmern. Wahrscheinlich ist aber beides gemeint, zuerst ein Aushorchen der alten Götzen mit der Stimmgabel, dann das Zertrümmern dieser alten Götzen und schließlich, über beide Varianten hinaus, das Neuprägen wirklicher Werte.
Lustig ist auch, daß Nietzsche ursprünglich den Titel "Müßiggang eines Psychologen" für dieses Buch hatte. Sein Kumpel Peter Gast ihn auf den allzu laschen Titel hinwies, und Nietzsche daraufhin den Titel in "Götzen-Dämmerung" änderte, im Vorwort aber schreibt, "diese Schrift - der Titel verrät es - ist ... ein Seitensprung in den Müßiggang eines Psychologen". Er verweist also noch auf den alten Titel.
Den lateinischen Spruch im Vorwort "increscunt animi, virescit volnere virtus" (die Seelen wachsen, die Tugend ergrünt durch Verwunden) hat später Lou Salome als Motto für ihr Nietzsche-Buch gewählt. Sie muß davon sehr angetan gewesen sein.

In den "Sprüchen und Pfeilen" gefällt mir ganz besonders Spruch 26 "Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit". Philosophen neigen ja dazu, alles in ihr System zu pressen, alles künstlich passend zu machen (also zu verfälschen). Dennoch ist Nietzsche selber ein systematischer Denker, obwohl man ihm das oft unter Verweis auf sein System-Mißtrauen abspricht. Ohne klare Linie geht es halt nicht, und die klare Linie hat er.

Den Sokrates-Teil sollten wir uns vielleicht mal genauer ansehen, denn Sokrates scheint für ihn das Grund-Übel aller Philosopie zu sein.
 
Mich hat das mit der Stimmgabel eher überrascht, denn aufgrund des Untertitels "oder Wie man mit dem Hammer philosophiert", habe ich nicht einen sachten Gebrauch des Hammers erwartet, sondern das Zertrümmern. Wahrscheinlich ist aber beides gemeint, zuerst ein Aushorchen der alten Götzen mit der Stimmgabel, dann das Zertrümmern dieser alten Götzen und schließlich, über beide Varianten hinaus, das Neuprägen wirklicher Werte.
Lustig ist auch, daß Nietzsche ursprünglich den Titel "Müßiggang eines Psychologen" für dieses Buch hatte. Sein Kumpel Peter Gast ihn auf den allzu laschen Titel hinwies, und Nietzsche daraufhin den Titel in "Götzen-Dämmerung" änderte, im Vorwort aber schreibt, "diese Schrift - der Titel verrät es - ist ... ein Seitensprung in den Müßiggang eines Psychologen". Er verweist also noch auf den alten Titel.
Den lateinischen Spruch im Vorwort "increscunt animi, virescit volnere virtus" (die Seelen wachsen, die Tugend ergrünt durch Verwunden) hat später Lou Salome als Motto für ihr Nietzsche-Buch gewählt. Sie muß davon sehr angetan gewesen sein.

In den "Sprüchen und Pfeilen" gefällt mir ganz besonders Spruch 26 "Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit". Philosophen neigen ja dazu, alles in ihr System zu pressen, alles künstlich passend zu machen (also zu verfälschen). Dennoch ist Nietzsche selber ein systematischer Denker, obwohl man ihm das oft unter Verweis auf sein System-Mißtrauen abspricht. Ohne klare Linie geht es halt nicht, und die klare Linie hat er.

Den Sokrates-Teil sollten wir uns vielleicht mal genauer ansehen, denn Sokrates scheint für ihn das Grund-Übel aller Philosopie zu sein.
Müßiggang eines Psychologen: interessanter Titel. Das erinnert doch an den ersten Spruch aus "Sprüche und Pfeile". Mein Lieblingsspruch ist Spruch 13: "Der Mann hat das Weib geschaffen- woraus doch? Aus einer Rippe seines Gottes - seines Ideals." Sehr gut ist auch Spruch 12:"Hat man sein warum? des Lebens, so verträgt man sich fast mit jedem wie? - Der Mensch strebt nicht nach Glück; nur der Engländer tut das." (Ein großartiges Beispiel seines Humors.)

Ich würde Nietzsche nicht als Systematiker im strengen Sinn bezeichnen. Natürlich kommt er auch teilweise ohne Begriffe nicht aus, aber ein Systematiker wie ein Hobbes oder Kant ist er trotzdem nicht. Seine Art zu philosophieren ist nicht die mittels Argumenten, sondern mittels Gleichnissen und Kritik. Natürlich hat auch er seine Gründe, aber er verfährt nicht nach dem Schema: Prämisse - Beispiel - Schlussfolgerung. Er verwendet nicht den Syllogismus. Er führt anders Krieg. Andere Philosophen haben gar nicht Krieg geführt. Die haben brav einen Syllogismus nach dem anderen gebildet. Lange hatten sie Erfolg damit. Nietzsche will das abschaffen.

An Sokrates zeigt Nietzsche schon sein großes Misstrauen gegenüber dem reinen Vernunftdenken. Natürlich ist er aber auch etwas gemein, wenn er fragt, ob Sokrates ein Verbrechen war, und auf seine Hässlichkeit anspielt. Natürlich war Sokrates nicht hübsch, aber das war Nietzsche mit seinem Schnauzbart für viele auch nicht.
 
Das mit dem Glück und dem Engländer ist ein netter Witz, der mir auch gut gefällt.

Nietzsches strenge Linie im System kommt ihm aus Instinkt, nicht aus syllogistischen Beweisen. Was sich beweisen lassen muß, ist wenig wert, wie er in "Problem des Sokrates" 5 sagt. Sokrates ist ein Thema, das sich durch sein gesamtes Schaffen zieht. Er kritisiert und bekämpft ihn, aber er verachtet ihn nicht, obwohl er ihn oft scharf verhöhnt, wie eben hier. Sokrates ist für Nietzsche nicht dreckiger Abfall (Tschandala würde er sagen), sondern ein angemessener Gegner. Kant wäre für ihn eher ein Kandidat, Tschandala zu sein. Platon und Sokrates, die meist in einem Atemzug genannt werden, sind diejenigen, die die hohen griechischen Werte der ganz alten Zeit verraten haben (Aischylos, Heraklit, die Sophisten). Deswegen nennt er sie Niedergangs-Typen, Verfalls-Symptome, antigriechisch (in "Problem des Sokrates" 2). In "Problem des Sokrates" 3 agiert er besonders böse gegen Sokrates. Seine allbekannte Häßlichkeit wäre uns heutigen keinerlei Indiz für oder gegen etwas (wie du ganz richtig sagst), aber den Griechen schon. Für die war Schönheit sehr wichtig (auch seine mindere Herkunft ist anrüchig). Der typische Verbrecher gilt als häßlich "monstrum in fronte, monstrum in animo" (der Satz fällt mir immer ein, wenn ich die Merkeln sehe). Der Schluß in diesem Absatz ist eine Anekdote, die ich für wahr halte, und die bei Cicero "Gespräche in Tusculum" IV 80 überliefert ist. Ein gewisser Zopyros sah in den Gesichtszügen des Sokrates dessen angeborene Lasterhaftigkeit, die er aber durch das Walten der Vernunft in den Griff bekommen habe, wie Sokrates die Vermutung bestätigend diesem daraufhin entgegnet.
 
Ja, ich denke, damit wäre vieles über Sokrates gesagt. Ich würde Nietzsche aber dennoch nicht als Systematiker ansehen. Das wäre eine Beleidigung für jeden echten Systematiker. Nietzsche setzt nicht auf ein System, sondern auf Autorität ohne Beweise. Der Satz "Was sich beweisen lassen muss, ist wenig wert." ist da ganz treffend. Er beansprucht Autorität für sich von anderen.

Ich weiß nicht, was Tschandala heißt. Aber wenn es dreckiger Abfall heißt, wäre es auch Kant gegenüber hart.

Aber es wird Zeit, dass jemand Kant von seinem hohen Ross herunterholt. Der kategorische Imperativ wird ja heutzutage für alles mögliche verwendet. Klimakrise - die Lösung: der kategorische Imperativ, Kapitalismus - die Lösung: der kategorische Imperativ, Krieg - die Lösung: der kategorische Imperativ, Impfen gegen Corona - die Lösung: der kategorische Imperativ, ...........

Ich weiß, das ist jetzt etwas überspitzt formuliert, aber der kategorische Imperativ wird heutzutage so inflationär gebraucht, dass es schon anmaßend ist.

Aber reden wir nicht mehr über Sokrates oder Kant, sondern über die wahre Welt, die Welt der Sinne, die von den Philosophen verkannt wurde.
 
Systematiker im strengen Sinn ist er sicherlich nicht, aber einen festen Zielpunkt hat er in seiner Philosophie, auf den hin alles andere sich ausrichtet (nennen wir das einmal "System"). Er hat ein inneres Gespür für die Wahrheit. Das ist auch eine Art Beweis, nur eben kein logischer.

Das Wort Tschandala hat Nietzsche auch erst kurz zuvor kennengelernt, wahrscheinlich im Gesetzbuch des Manu, und gebraucht es dann in den letzten Büchern sehr häufig. Den genauen Hintergrund weiß ich auch nicht (müßte man nachschlagen), es ist auf jeden Fall ein sehr abfälliger Begriff. Kant verachtet er, wie kaum einen anderen. Ich weiß gar nicht, ob er ihn tatsächlich Tschandala nennt. Passen würde es jedenfalls.

Ich würd gern noch ein wenig beim "Problem des Sokrates" bleiben, denn so gründlich und spitzfindig wie hier zieht er sonst nicht über ihn her (wiewohl, eigentlich doch). "Superfötation des Logischen", "Rhachitiker-Bosheit", "Gehörs-Halluzinationen", "Buffo", alles das soll auf Sokrates zutreffen, und irgendwie hat Nietzsche damit sogar den Nagel auf den Kopf getroffen, denn sehr fein ist auch Sokrates nicht mit seinen Gesprächspartnern umgegangen. "Der Dialektiker [Sokrates] überläßt seinem Gegner den Nachweis, kein Idiot zu sein". Die berühmte Ironie des Sokrates ist ein Ausdruck von "Pöbel-Ressentiment". "Man wählt die Dialektik nur, wenn man kein anderes Mittel hat... Sie kann nur Notwehr sein". Und zum Schluß, "Sokrates wollte sterben: - nicht Athen, er gab sich den Giftbecher, er zwang Athen zum Giftbecher". Ein sehr schöner Abschnitt "Das Problem des Sokrates".
 
Ja, je länger ich über Kant nachdenke, umso mehr wird mir klar, dass er gar nicht so toll ist. Viele heben Kant ja auf ein Podest und vergöttern (oder besser vergötzen) ihn. Dabei kann man den Kategorischen Imperativ recht beliebig anwenden - und zwar gegen Leute, um von ihnen eine Handlung zu fordern, die man selbst nicht ausüben will. Das ist das Problem mit dem Kategorischen Imperativ. Ganz nett, aber ziemlich beliebig einsetzbar - und dadurch eigentlich nutzlos.

Das innere Gespür die Wahrheit ist bei Nietzsche tatsächlich vorhanden. Instinktiv merke ich ja bei Nietzsche, dass er in vielem recht hat. Dabei liefert er mir aber keinen Beweis. Es ist halt ein instinktives Spüren. Das ist schon interessant.

Bei Sokrates verwendet er schon tolle Ausdrücke. Er meint ja auch, dass man sich so Typen wie Sokrates einmal näher ansehen soll. Mit Sicherheit waren sie krank. Sie waren Niedergangs-Typen. Es gibt den consensus sapientium (Das Leben taugt nichts.), aber dieser consensus beweist eigentlich die Krankheit dieser Niedergangs-Typen. Auch interessant: Die Werturteile über das Leben sind Dummheiten. Der Wert des Lebens kann eigentlich gar nicht abgeschätzt werden. Später bei "Moral als Widernatur" schreibt Nietzsche auch: "Man müßte eine Stellung außerhalb des Lebens haben, und andrerseits es so gut kennen, wie einer, wie viele, wie alle, die es gelebt haben, um das Problem vom Wert des Lebens überhaupt anrühren zu dürfen: Gründe genug, um zu begreifen, daß dies Problem ein für uns unzugängliches Problem ist."
 
Werbung:
Ich glaube, daß Nietzsche Beweise hätte liefern können, aber es war ihm unwichtig. Mit logischen Beweisen kommt man vom Hundertsten ins Tausendste, und der Text wird dann zunehmend langweilig. Das wäre für Nietzsche eine Katastrophe, langweilige Bücher zu schreiben.

Nietzsche hält Sokrates und Platon für Niedergangs-Typen. Ich tue das nicht. Im Hinblick auf den klassischen Streit des Sokrates gegen die Sophisten nimmt Nietzsche Partei für die Sophisten, ich hingegen für Sokrates. Niedergangs-Typ war er nicht, aber hier geht es ja um Nietzsches Standpunkt. Wenn er ihn so gesehen hat, dann nehmen wir es für die Lektüre mal so an.
 
Zurück
Oben