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Metamorphische Produktwerdung

Meliha

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22. April 2005
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Metamorphische Produktwerdung auf der CeBit

Ich öffnete meine Augen mit dem Vorbehalt sie abends wieder schließen zu dürfen, setzte mich auf die Bettkante und horchte angestrengt nach weiteren Stimmen außer meinen inneren.

Ich akzeptiere keine Rechtfertigung dafür morgens angesprochen zu werden. Mir ist es ein Rätsel wie einige Artgenossen die Tatsache, die Nacht den unglaublichsten Ereignissen beizuwohnen und morgens plötzlich in einem warmen, pochend pulsierenden Körper aufzustehen so einfach akzeptieren können. Ich bewundere solche Art reibungsloser Funktionalität, insbesondere der Effektivität wegen, dieser, die ihre Augen aufklappen und alsbald anfangen loszuplappern. Ich meinerseits brauche meine Zeit, um diesen traumatischen Schock des täglichen Gewahrwerdens der unendlichen Bedürfnisse täglich zu verarbeiten. Dem Zufall sei Dank war niemand anwesend, so dass ich in Ruhe über meinen Inzesttraum nachsinnen konnte und meine nun ebenfalls hellwache und zutiefst erschütterte Moral davon zu überzeugen versuchte, dass ich nicht Urheber sondern Opfer der nächtlichen Perversionen gewesen sei.

Als M sich endlich zu besänftigen schien hatte ich bereits meine wichtigsten lebenserhaltenden Pflichten erledigt: den Schweiß der Nacht wegspülen, Stimulans, Nikotin und Nahrung aufnehmen sowie Zähne putzen. Wie effektiv dachte ich und schaute auf die Uhr. Ich war gut im Zeitplan. Pünktlich fertig, um eine halbe Stunde zu spät zu kommen. In Ruhe drehte ich mir drei Zigaretten für unterwegs, machte mich auf den Weg, kehrte an der Ampel mit einem unterdrückten Seufzer um, ging in die Wohnung, suchte mein Handy, fand es und fuhr los.

Das übliche Feld-Wald-Wiesen-Programm im Radio war wenig stimulierend. Mir war entweder nach O-Ton oder zum Lachen zumute. Ich fing wie üblich an zu singen und lachen bis mich auch das langweilte. Eine Weile dachte ich gar nichts, dann an den schlechten F in Istanbul, sein existentialistisches Gefasel, an die Möglichkeit von Freiheit, an eine eingrenzende Ordnung, an die Realität der Bedürfnisse, zündete mir eine Zigarette an und stellte schließlich fest, dass mich all das momentan eigentlich nicht tangiere und schaltete das Radio ein.

Auf dem Parkplatz frisierte ich meine Haare so lange in eine nicht willkürliche Form, bis das dunkle Wirrwarr toter Zellen den Eindruck von berechneter Absicht machte. Dann deckte ich die Rötungen auf Stirn und Kinn ab, Zeuge meines gestrigen lustvollen Masochismussees, Grabstein zweier Pickel, die mir zum Opfer fielen, starben und dabei Genuss schenkten. Gott sei ihren edlen Seelen gnädig.

Zweifache Vorwärtsbewegung im Skywalker. Fortschritt ohne Rückblick dachte ich, gleichzeitig umschlungen von einer Unzahl grau-schwarzer Anzugträger, die naiv lächelnd nach vorne schauten. Von rechts und links schlugen flache Vierecke mit ihren bunten Fäusten nach mir. Ich hatte eine Vorstellung von der unwiederbringlich fließenden Zeit.
Der Konkurrenz der ungebetenen Reize um meine Aufmerksamkeit wollte ich mich nicht mehr kampflos aussetzen.
Ich log mit hartem imperativen Ton: „ Lassen sie mich bitte durch. Ich bin Klaustrophobe.“ Die verdutzten Gesichter gehorchten und ich bahnte mir den Weg raus, gleitete zwischen den sich teilenden Massen lebender Toten aus dieser penetranten künstlichen Vagina zurück in die Selbstbestimmung meiner Gedankenwelt.

Weitaus gediegener waren die großen Hallen. Fast tänzelnd bewegte ich mich an den vielen Ständen vorbei. Alles glänzte und leuchtete in frischen Farben wie neugeboren. Dynamische Produkte priesen statische Produkte, simulierte Intelligenz und stimulierende Freundlichkeiten.
Ich setzte mich an die Theke des israelischen Netzwerk-Providers und nahm dankend den angebotenen Kaffe an. Von hier aus hatte ich eine gute Sicht auf meinen Stand. Meine Leidensgenossen penetrierten bereits seit einer halben Stunde Flyer an vorbei gehende, schlendernde oder laufende Besucher, die diese dankend, ignorant oder entnervt aus Neugier, Höflichkeit oder Gefälligkeit entgegennahmen.
Den Damen im roten Trenchcoat fehlte ich höchstens aus Gründen der Gerechtigkeit. Für sie war ich der Spielverderber. Erst versuchten sie mir ein schlechtes Gewissen zu machen, dann mich mit Drohungen zu manipulieren - doch nur halbherzig, weil ich mich im Rahmen des allgemeinen Interesses bewegte und jegliche Konsequenzen bereits im Vorfeld bewusst in Kauf genommen hatte. Zu dem Zeitpunkt müssten sie angefangen haben mich zu hassen, mobbten mich und schlossen mich aus ihrem Kreis aus. Dabei waren es die Entscheidungen, die wir getroffen hatten, lange bevor wir uns das erste Mal sahen, die meine Welt von der ihren trennte. Als sie dies begriffen empfanden sie mein Anderssein nicht mehr als Bedrohung. Fortan ignorierten aber respektierten sie meine grillenhafte Präsenz.
Erfahrungsgemäß dauert es drei bis vier Wochen, bis die Antipathie der Neugier weicht und die Neugier in einen regen, konstruktiven Austausch mündet. Doch in diesem Fall würden es uns an Zeit fehlen, also akzeptierte ich meine Einsamkeit und beobachtete das rege Treiben um mich, bis ich auf meinem linken Profil eine sanfte, prickelnde Wärme spürte. Mein Blick bewegte sich langsam in Richtung Ursprung dieser nicht körperlichen Wahrnehmung und traf auf die Thekenkraft. Brauner Widerstand trifft sekundenlang auf blaue Resignation und verwandelt sich dann in eine lächelnde leere Maske. Alles sagen und dabei den Schein wahren, dachte ich. Gleichzeitig wendeten wir unsere Blicke eigenen Angelegenheiten zu. Und wieder musste ich an den istanbuler, existentialisten F denken, an seine infantile Theorie, seine verklärte Vision von Freiheit. Ich drückte meine Zigarette aus, grinste unwillkürlich und machte mich auf den Weg zu den Toiletten.

Der Toilettenvorraum war überfüllt von weiblichen Produkten, die sich der Belanglosigkeiten bedienten um sich gegenseitig etwas vorzumachen. Begehrt waren insbesondere die Plätze vor den Spiegeln. Sauber polierte Gesichter in grün, blau, rosa oder künstlicher Dezenz mit Kleidung die jedes Manko kaschiert und Schuhen, die Grazilität zu produzieren versuchen. Seriös verführerisch zeugte ihr Äußeres von genetischer Einwandfreiheit, sprießender Fruchtbarkeit und der vollkommenen geistigen Leere. Zwei dieser bewundernswerten Maschinen folgten mir zu den Toiletten und schlossen rechts und links von mir fast zeitgleich die Toilettentür.
Ich setzte mich auf das Klosett, pinkelte und schaute mit großen Augen zur Decke, von einer Welt träumend in der wir alle in Frieden, Hässlichkeit und mit den Dreck unter unseren Fingernägeln glücklich zusammenlebten, bis mich ein explosionsartiges Geräusch von rechts zurück in die Realität katapultierte. Das Geräusch war eine der Begleiterscheinungen der Darmentleerung und klang mit einem ganz unpietätvollem genussvoll-schmerzbefreiten Seufzer ab, während die Dame in links gallertenartigen Schnodder aus ihrer Nase putzt, sich kratzt, furzt und gleichzeitig stoßartig urinierte.

Die Toiletten sind die letzten religiösen Beichtstätten der Postmoderne. Hier beichten wir uns selbst, was wir tatsächlich sind. Hier sühnen wir all unsere Prätentionen, um uns danach im Waschbecken der Unbewusstheit von diesem Wissen reinzuwaschen. Während ich meine Hände wasche resümiere ich: wahrhaft ehrlich zu uns selbst sind wir nur noch in den Scheißhäusern. Ich schaue ein letztes Mal in den Spiegel. Nun bin ich bereit meine Energien zu prostituieren. Ich streife mir mein Ego ab und gehe an meinen Stand.
 
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Meliha schrieb:
.... bis die Antipathie der Neugier weicht und die Neugier in einen regen ....
Wenn ich schon ausdrücklich angesprochen werde, dann möchte ich auch bestätigen,
dass Standdienst in Hannover wirklich der pure Horror ist.

Da hat man ganz einfach nicht die Musse, um lustvoll umananda zu streunen.

Das musste auch einmal gesagt werden.
 
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Naja die Antipathie hat in der Geschichte eher mit den gegensätzlichen Lebensweisen der Ich-Person und den anderen Hostessen zu tun. Man handelt nach unterschiedlichen Spielregeln und das schafft anfangs immer Verunsicherung. Und wie das dann so üblicherweise ist: was man nicht kennt und kontrollieren kann, hasst man zunächst.
 
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