• Willkommen im denk-Forum für Politik, Philosophie und Kunst!
    Hier findest Du alles zum aktuellen Politikgeschehen, Diskussionen über philosophische Fragen und Kunst
    Registriere Dich kostenlos, dann kannst du eigene Themen verfassen und siehst wesentlich weniger Werbung

Engel sterben nicht

cheshirecat

New Member
Registriert
13. November 2005
Beiträge
13
Als sein Wecker von neuem begann, ihn energisch wach zu machen, schreckte er aus dem Sessel hoch und wusste erst nicht, wo er war.
Sein Blick fiel auf den kleinen Couchtisch mit den vielen verstreuten Photos von seiner besten Freundin. Vor ihm lag ein Blatt Papier mit einer Rede. Er hatte gestern Abend die ganze Rede noch einmal umgeschrieben, nachdem er sich durch die Photos in Erinnerung gerufen hatte, wie Alina gewesen war. Auf jedem einzelnen Bild grinste sie frech, lachte, machte Dummheiten oder knutschte irgendjemanden zu Boden. Er wusste, sie würde es nicht wollen, wenn er sie in den Himmel lobte. Sie konnte es nicht ertragen, wenn in Grabreden immer nur von den guten Seiten des Verstorbenen geredet wurde. Sie hatte zu ihm gesagt, dass sie niemals wollte, dass alle nur an die wirklich tollen Dinge erinnert würden, wenn sie sterbe. Damals war es für sie kein Thema gewesen, dass ihr Tod so bald eintreten würde. Sie war unsterblich gewesen. Es gab einfach keinen Grund zu denken, dass sie jemals nicht mehr da sein würde. Nicht heute, nicht morgen, nicht in zehn Jahren. Niemals.
Dem braunhaarigen jungen Mann stiegen die Tränen in die Augen und er stützte seinen Kopf in die Hände. Der Schock, der ihn erfasst hatte, als sie in seinen Armen gestorben war, ließ endlich nach. Nach fast zwei Wochen kam ihm der ganze Schmerz, den er bis dahin unterdrückt hatte, hoch.
Er hatte mit seinem kleinen Bruder vor dem Fernseher gesessen, als der Anruf aus dem Krankenhaus kam. Alina war bei einem Frontalzusammenstoß mit einem LKW schwer verletzt worden. Bevor sie ohnmächtig geworden war, hatte sie noch seinen Namen dem Rettungshelfer zugeflüstert. Sie hatten ihn sofort angerufen. Wie mechanisch hatte er sich seine Autoschlüssel geschnappt und war zum Krankenhaus gefahren. Er wusste nicht mehr, wie er dahin gekommen war, aber er erinnerte sich an Reifenquietschen und dieses Gefühl von Adrenalin in seinen Adern. Auch wusste er nicht mehr, ob er wirklich Oliver angerufen hatte. Jedenfalls behauptete er das, als sie gemeinsam vor dem OP- Saal warteten und sich gegenseitig Mut zu machen versuchten. Ein Arzt hatte ihnen vorher mitgeteilt, dass Alinas Verletzungen lebensgefährlich seien und eine Wahrscheinlichkeit von über sechzig Prozent bestehe, dass sie sterbe.
Selbst jetzt noch konnte er die Angst spüren, die ihn gelähmt hatte. Alles um ihn herum war verschwommen und sein Zeitgefühl war verloren gegangen. Und als endlich der Arzt aus dem OP kam und ihnen sagte, dass es Alina den Umständen entsprechend ging, war er vor Erleichterung fast gestorben. Zwei Stunden später erlaubte die Schwester ihm und Oliver zu Alina ins Zimmer zu gehen. Als sie eintraten, hatte sie unter all den Verbänden und Schrammen gegrinst und hatte die Hand nach ihm ausgestreckt. Er hatte ihre Hand gedrückt, sie auf die Stirn geküsst und sich neben sie gesetzt. Oliver hatte das gleiche getan. Alle drei hatten sich in die Augen gestarrt und Alina hatte als erste gesprochen.
Es tut mir leid.
Oliver und er hatten zu dem Zeitpunkt noch nicht verstanden, was sie damit meinte. Sie hatte gelächelt und geweint. Beides zur selben Zeit. Um sie zu trösten, und auch um sich selbst zu trösten, hatte er sie in die Arme genommen und beruhigend auf sie eingemurmelt. Bis ihm klar wurde, dass Alinas Körper ganz schlaff geworden war und sie nicht mehr atmete, piepte das Gerät an dem sie angeschlossen war schon eine ganze Weile.
Er wusste nur noch, dass Oliver Alina aus seinen Armen genommen hatte und sie eine lange Zeit mit traurigem Blick betrachtet hatte und mit dem Finger über ihre noch immer lächelnden Lippen gestrichen war. Von da an konnte er sich an nichts mehr erinnern. Er wusste nicht, wie er nach Hause gekommen war. Ob Alinas Eltern im Krankenhaus gewesen sind. Wer den Arzt geholt hatte. Nichts.
Nur diese unendliche Leere. Und der Satz, der sich immer wieder mit Wucht in seinem Gehirn Platz schaffte.
Alina ist tot.
Seine Mutter hatte ihn gebeten die Abschiedsrede zu halten. Sie meinte, er war der einzige Mensch, der Alina kannte, wie sie wirklich war. Sie hatte recht. Alinas eigene Mutter hatte sie weggegeben, zuerst in ein Waisenhaus, dann in eine Pflegefamilie, später hatten seine Eltern Alina aufgenommen. Sechzehn Jahre seines Lebens hatte er eine Schwester, die gleichzeitig seine beste Freundin war. Sie wuchsen zusammen auf, fest in dem Glauben verankert, nichts konnte sie trennen. Niemand konnte die Bindung zwischen ihnen durchbrechen. Das Band, das zwischen ihnen bestand war härter als Stahl. Und vor acht Jahren war aus einer Kindheitsfreundschaft eine Freundschaft geworden, die an Liebe grenzte.
Christopher bemerkte wie seine Mutter zaghaft die Tür zu dem Zimmer öffnete und ihn liebevoll betrachtete. Sie betrat vorsichtig den Raum und lief zum Fenster, um die schweren Vorhänge wegzuziehen. Eine Flut von hellen Lichtstrahlen floss über den Boden und ergoss sich über seine nackten Füße und ein Photo von Alina. Er blickte es von oben herab an und erinnerte sich.
Es war auf der Poolparty von Mark gewesen. Sie trug ihren neuen roten Bikini und grinste frech in die Kamera, ihre rostroten Korkenzieherlocken hingen ihr schwer vor Nässe auf die Schultern und ihre grünen Augen blitzten fröhlich. Das war genau vor zwei Monaten. So unvorstellbar lange her.
Er spürte wieder diese schwarze Leere in sich aufsteigen und vergrub sein Gesicht in den Händen.
„Christopher, du musst duschen gehen und etwas essen! Die Beerdigung beginnt in zwei Stunden!“
Seine Mutter stand hinter ihm und strich sanft über seine Schultern. Er fasste ihre Hand und küsste die Innenfläche.
„Ich weiß nicht, ob ich das schaffe, mom.“
Er schluckte hart, um die Worte herauszubekommen. Seine Kehle war trocken, sein Mund fühlte sich an, als wäre er voll Sand.
„Du wirst es schaffen, Schatz. Du bist der Einzige, der diese Rede halten kann, ohne, dass es lächerlich wirkt. Nur du kanntest Alina. Oder möchtest du lieber, dass ihre Mutter redet.“
„No way! Wenn ich das zulasse, kommt Alina wahrscheinlich zurück und nimmt mich mit ins Grab.“
Er lächelte leise. So abwegig war dieser Gedanke gar nicht.
Er raffte sich auf, schlüpfte unter die Dusche und aß später etwas. Als es Zeit war zu gehen, lief er nach oben zog sich um und nahm die Rede vom Tisch. Er würde Alina eine Rede geben, die sie genossen hätte. Eine Rede, die es Wert war für Alina gehalten zu werden.

Die kleine Kapelle quoll über vor Menschen und Blumen. Sie war geschmückt mit roten Rosen, gelben Narzissen, rosa Nelken. Bunte Blumen, die Alina so geliebt hatte. Am Altar stand ein Portrait von ihr. Es war wahrscheinlich das einzige Bild, auf dem sie jemals gelächelt und nicht gegrinst hatte. Es war letztes Jahr zu ihrem achtzehnten Geburtstag aufgenommen worden und sie trug diese samtrote Robe. Ihre Haare waren hochgesteckt und es steckte eine kleine Krone in dem Knoten. Sie lächelte so sanft und unschuldig wie ein Engel, doch ihre smaragdgrünen Augen wurden von diesem Feuer erhellt. Es war dieses Feuer, dass jeden auf sie aufmerksam gemacht hatte. Sie zog Menschen wie magisch an.
Auch heute zog sie die Menschen an. Viele kamen, um ihr die letzte Ehre zu erweisen. Um ihr Bild herum lagen Blumenkränze und standen Kerzen.
Christopher schritt zu ihrem Bild, hielt vor ihm inne und legte dann bedächtig den riesigen Strauß aus Sonnenblumen und Margarithen davor. Dann setzte er sich auf seinen Platz, ohne auf die Menschen um ihn herum zu achten. Erst als eine braungebrannte Hand sich auf seine Schulter legte und sie sanft drückte, blickte er nach oben. Neben ihm stand Oliver. Er trug, genau wie Christopher ein sonnengelbes Hemd, schwarzen Schlips und schwarzen Anzug. Oliver lächelte ihn freundlich an und verdeckte seine Augen wieder mit der Sonnenbrille. Er setzte sich neben ihn ohne auch nur ein Wort gesprochen zu haben. Christopher wunderte sich darüber nicht. So war Oliver nun mal. Worte wurden so lange vermieden, bis es nicht mehr ging.
Beethovens Mondscheinsonate ertönte durch den Saal und die geflüsterten Gespräche fanden ein jähes Ende. Der Pastor betrat die Kanzlei und blickte mit müdem Gesichtsausdruck in die Menge. Dann begann er seine kleine Rede, in der er versuchte den Menschen Hoffnung zu machen. Am Ende bat er Christopher auf die Kanzlei und setzte sich wieder mit erschöpfter Miene auf seinen Platz.
Langsam lief Christopher zu dem Mikrophon und breitete dort seine Rede aus. Er betrachtete die Menschen, die ihn erwartungsvoll anstarrten. Viele von ihnen kannte er. Sie waren Freunde von Alina. Einige waren Bekannte. Und in der Mitte der Reihen saßen Alinas leibliche Eltern. Ihre Mutter ganz in schwarz mit einem Taschentuch in der Hand, ihr Vater mit versteinerter Miene. Er ließ seinen Blick zu Oliver gleiten und wieder zurück zu den Jugendlichen, die ihn immer noch anstarrten.
„Ich werde euch jetzt keine Rede über Alinas Leben halten. Ich muss euch nicht sagen, was für ein Charakter sie gewesen ist. Wir wissen es alle. Es gibt Menschen, die vergisst man sein Leben lang nicht. Ich denke, Alina gehört eindeutig zu diesen Menschen.
Ich bin heute früh aufgewacht und mir ist zum ersten Mal seit zwei Wochen bewusst geworden, dass ich nie wieder mit meiner Schwester reden werden kann. Noch vor zwei Wochen war ich in dem festen Glauben, Alina sei unsterblich. Ein Mensch wie Alina stirbt nicht einfach durch eine Krankheit oder einen Unfall. Das geht einfach nicht. Solche Menschen sind schon mit ihrer Geburt unsterblich.“
„Aber was ist unsterblich wirklich?“ Er war von seiner Rede abgewichen und kam nicht wieder hinein. Resigniert zerknüllte er das Blatt und blickte wieder zu den Menschen.
„Bedeutet unsterblich zu sein, dass man nie stirbt? Ich glaube nicht. Alina ist immer noch unsterblich. Wenn nur einer von uns sein Leben lang an sie denkt, sich an ihr Gesicht, ihr Lachen, ihre Ausstrahlung an ihren Namen erinnert, dann erfüllt er ihren größten Wunsch. Dann ist sie wirklich unsterblich.
Alina hat vielen von uns aus der Patsche geholfen, sie war eine Freundin mit dem Optimismus von tausend Menschen zusammen. Es gab nichts, was sie nicht tun konnte. >Geht nicht, gibt’s nicht< war ihr Motto. Ich will wirklich nicht eine Lobeshymne auf sie anstimmen, wir wissen alle, dass sie ihre kleinen und großen Fehler hatte.
Ein Fehler war, dass sie durch das Leben raste, wie ein Jet. So fuhr sie auch Auto. Jeder von uns weiß das. Deshalb liegt die Schuld an ihrem Tod zur Hälfte bei ihr selbst. Als sie starb, hat sie mich um Verzeihung gebeten. Damals wusste ich nicht, was sie wollte. Ich glaube, ihr war bewusst, dass sie sterben wird und, dass sie selbst daran Schuld war. Sie würde nicht wollen, dass sie jetzt in den Himmel gehoben und der Fahrer, der nur zur falschen Zeit am falschen Ort war von uns gehasst würde. Alina war ein Mensch, der gerne und oft Fehler machte. Aber auch für diese Fehler gerade stand. Darum bitte ich euch in ihrem Namen, sie als den Menschen in Erinnerung zu behalten, der sie war. Ein Mensch mit einem Lächeln, das uns alle für ihre Fehler blind gemacht hat.
Aber trotz ihrer ganzen Fehler war sie immer für uns da.
Vor acht Jahren gab mir dieses flatterhafte Mädchen ein zweites Leben. Durch sie kann ich jetzt hier stehen und ihre Abschiedsrede halten. Mir war es leider nicht vergönnt, ihr ein zweites Leben zu schenken, wie sie es damals tat. Für meine Schwester war also keine zweite Chance reserviert. Das ist traurig. Doch ich bin deswegen nicht verärgert. Zur Zeit muss ich noch den Schock überwinden, dass mein Engel nun wirklich zu einem geworden ist.“
Tränen erstickten die nächsten Worte und Alinas Lieblingslied erscholl aus den riesigen Boxen. Die Menge der Jugendlichen erhob sich und alle sangen wie auf Kommando den Text der >Bitter Sweet Symphony< mit. Es klang in der riesigen Halle der Kapelle wundervoll und die Tränen der Jugendlichen erfüllten die Atmosphäre mit Trauer und Erinnerung.
Christopher wischte sich mit einem Lächeln die Wangen trocken und ging zu seiner Familie. Er sah wie seine Mutter bei seinem Vater an der Schulter weinte. Sah, dass auch sein Vater die Tränen nicht zurückhielt und sowohl seine Frau als auch seinen jüngeren Sohn an sich presste. Phillip weinte und schniefte zitternde an der Brust seines Vaters. Noch machte ihn dafür niemand dumm, noch war er zu jung und durfte Tränen zeigen.
Christopher konnte Freunde und Bekannte schluchzen hören, aber es interessierte ihn nicht. Oliver hatte seine Sonnenbrille abgenommen und blickte ihn aus stahlblauen Augen heraus an. Seine Augen waren feucht, seine Wangen blass, er leckte zaghaft über seine Lippen. Selbst als Christopher neben ihm saß, blickte er noch auf die Stelle, wo er gestanden war und seine Rede gehalten hatte. Ganz langsam drehte Oliver den Kopf zu ihm und sein Blick klärte sich wieder.
„Diese Rede hat mehr über dich und deine Beziehung zu Alina ausgesagt, als du wolltest.“
„Ich weiß.“
„Du hast sie wirklich geliebt.“
„Ich liebe sie immer noch. Aber als meine Schwester, nicht als meine Frau.“
„Ich weiß. Jeder weiß das. Diese Liebe ist selten.“
Oliver setzte seine Brille wieder auf und folgte den Männern, die Alinas Sarg zu dem Grab brachten. Die Menschen aus der Kapelle schlossen sich ihm an und in einer langen Reihe erwiesen sie Alina die letzte Ehre.

Nach der Beerdigung trennten sich die Gäste in zwei Gruppen. Die eine Gruppe, die aus Jugendlichen und Bekannten bestand, ging nach Hause, die andere Gruppe aus engen Freunden und Familie bestehend, traf sich bei Christopher zu Hause.
Oliver wollte dort nicht mit hin. Er verabschiedete sich bei Christophers Eltern und wollte gerade in sein Auto steigen, als Christopher ihn zurückhielt.
„Du gehst und sagst mir nicht mal Bescheid?“
Oliver nickte und öffnete die Tür des Wagens.
„Verdammt! Du kannst mich jetzt nicht alleine mit diesen...diesen Menschen lassen!“
Oliver grinste über Christophers Reaktion und öffnete von innen auch die Beifahrertür.
Chris stieg ein und ließ sich in den Sitz fallen.
„Manchmal kannst du wirklich grausam sein, hat dir das schon mal jemand gesagt?“
Oliver grinste weiterhin bloß und fuhr gelassen durch die Straßen zu seiner Wohnung. Weil Chris sich bei einem einseitigen Gespräch so blöd vorkam, hielt er den Mund und betrachtete Oliver verstohlen aus den Augenwinkeln. Olivers Miene war nichtssagend, man konnte nur sehen, dass er sich auf den Verkehr konzentrierte. Seine Lippen waren hart aufeinander gepresst, seine blonden Löckchen waren verwuschelt und seine Hände umfassten das Lenkrad fester als nötig. Diese Hände waren es, die Chris magisch anzogen. Sie waren groß, schlank, männlich. Er konnte sich nicht daran erinnern, jemals einem Mann mit solchen Händen begegnet zu sein. Eine heiße Welle von prickelnden Gefühlen stieg in ihm hoch, berauschte sein Gehirn. Er schluckte hart und wendete den Blick von Olivers Händen ab. Seine Augen wanderten über den Körper des älteren Mannes und verweilten wieder auf dessen Gesicht.
Plötzlich drehte Oliver sein Gesicht in seine Richtung und grinste ihn an. Chris schlug vor Schreck die Augen nieder und kämpfte gegen den Drang an, rot zu werden. Oliver sagte immer noch nichts und fuhr einfach weiter. Er reagierte nie darauf, wenn Chris ihn mal wieder anstarrte.

Ihm fiel beim Betreten der Wohnung ein, dass er noch keine Gelegenheit gehabt hatte, mit Alina hier her zu kommen. Er war nicht überrascht, dass die Einrichtung Olivers Charakter darstellte. Still, ernst, praktisch. Sie war in den Farben grau-blau und schwarz gehalten. Chris hatte immer gedacht, Hotelzimmer wären unpersönlich. Diese Wohnung änderte seine Meinung. Es war nicht richtig eine Wohnung, eher ein riesiges Zimmer mit einem einzigen abgeschlossenen Raum – dem Bad. In einer einzigen Ecke spürte er die Präsenz von Persönlichkeit. In der Ecke, wo die schwarze Couch mit den ausladenden Sesseln stand, hatte jemand Pflanzen hingestellt, farbige Kissen arrangiert und ein paar Photos aufgehängt.
Da Oliver sich nicht weiter um ihn kümmerte, sich lieber mit einem Glas Scotch und einer Zigarette an seinen Schreibtisch setzte, schlenderte Chris zu der Ecke. Er hatte so eine Ahnung, wer diesen Tapetenwechsel verursacht hatte. Als er vor dem riesigen Sofa stand, blieb ihm der Atem stecken. Alina grinste ihn aus riesigen grünen Augen frech und zugleich unschuldig an. Ihr Mund war zu einem süßen Lächeln verzogen und sie hatte den Kopf schief gelegt. Auf ihren feuerroten Locken saß ein großer Strandhut mit einer noch größeren Sonnenblume. In ihrem Mundwinkel steckte der Stiel eines Lutschers, um ihren Hals herum lag eine Kette aus Muscheln. Das Bild musste an einem Strand in Frankreich aufgenommen worden sein. Er konnte sich daran nicht erinnern.
„Sie hat es mir vor ein paar Jahren geschenkt. Um die Wirkung zu vergrößern habe ich es größer machen lassen.“
Chris erschreckte heftig. Oliver stand so dicht hinter ihm, dass er sich nur zurückzulehnen brauchte, um seinen Herzschlag spüren zu können. Wieder schluckte er den Kloß in seinem Hals herunter und versuchte sich unter Kontrolle zu bringen.
„Ich wusste gar nicht, dass sie eine hellere und eine dunklere Iris hatte, Und den goldenen Fleck in ihrem rechten Auge habe ich auch nie bemerkt.“
Erstaunt stellte Chris fest, dass Alina sogar Sommersprossen gehabt hatte. Und eine kleine Narbe an ihrer Stirn.
Oliver sagte nichts. Er betrachtete das Bild und achtete nicht auf Chris. Er schien in seiner eigenen Welt zu versinken. Seine Sonnenbrille hatte er gegen seine richtige Brille eingetauscht und Chris konnte sehen, wie sich seine Augen verdunkelten. War das Schmerz in seinen Gesichtszügen?
Ein klein bisschen Eifersucht piekste Chris. Er wollte auch mit Oliver reden. Richtig reden. Über Dinge, die nur Freunde bereden. Er wollte mit ihm lachen. So wie es Alina getan hatte.
>Oliver ist kein leichter Typ. Ich selbst habe Monate gebraucht, um ihn zum lachen zu bringen!<
Chris erinnerte sich lächelnd. Damals war sie empört gewesen, bei dem Gedanken, dass es einen Menschen gab, der nicht sofort auf sie eingegangen war. Chris hatte sie gefragt, warum Oliver immer so beherrscht war.
Chris bemerkte Olivers Blick und fragte ohne sein Gesicht zu ihm zu wenden, was los sei.
Oliver drehte sich weg und ging zurück zu seinem Schreibtisch. Er beantwortete die Frage nicht. Betrachtete Chris aber weiterhin von seinem Platz aus.
„Komm her.“
Oliver machte eine winkende Handbewegung, ließ jedoch sonst keine Regung erkennen. Total überrascht und etwas von der Rolle, lief Chris zu dem großen Mann und stellte sich vor ihn hin. Dann starrte er ihn fragend an.
Oliver zog sein Gesicht ohne etwas anderes zu bewegen, außer seinem Arm, ganz nah an seines herunter.
„Spiele nicht mit dem Feuer, wenn du die Verbrennungen nicht tragen kannst, Kleiner.“
Chris stolperte einen Schritt zurück und starrte entsetzt in das Gesicht des älteren. Vor Überraschung brachte er nur ein ersticktes Stammeln zu Stande.
„Wa...wa..was!?“
Oliver lächelte auf eine diabolisch- süffisante Weise und trank langsam einen Schluck Scotch.
„Ich bin nicht blind, Junge. Und dämlich erst recht nicht. Deine Gedanken sind dir allzu oft ins Gesicht geschrieben.“
Chris musste sich zwischen vielen Gedanken entscheiden. War es der längste Text, den Oliver je geredet hatte? War er wirklich so durchschaubar? Hatte er ihn gerade wirklich ‚Kleiner’ und ‚Junge’ genannt?
„Schon wieder. Du bist es nicht gewohnt, dass dir jemand ins Gesicht sagt, was du denkst?“
Es war nicht wirklich eine Frage. Chris wusste, dass Oliver die Antwort genau kannte.
„Alina hat mir zwar viel von dir vorgeschwärmt, aber es klang nie so als wärst du schwul...“
Oliver drehte das Glas in der Hand und ließ dabei seinen Blick nicht von Chris. Auch als er die Zigarette ausdrückte, studierte er noch die erstarrten Gesichtszüge des Jungen. Als Chris sich endlich gefasst hatte, spürte er wie die Blässe seiner Haut sich zu röten begann. Olivers Appartement war still. Selbst Oliver sagte nichts. Nur die leisen Atemzüge und das Ticken einer Uhr.
„Ich glaube, ich gehe nach Hause.“
Er wollte nicht darüber nachdenken, dass er sich gerade wie ein panisches kleines Mädchen benahm. Einfach nur weg. Weg von diesem Kerl, der ihn verrückt machte. Weg aus diesem Zimmer, in dem er sich gefangen fühlte. Weg von diesem überdimensionalen Porträt, des Menschen, der ihm am meisten bedeutet hatte.
Oliver zeigte mit einer arroganten Geste auf das Telefon und zündete sich eine neue Zigarette an.
„Danke, ich habe ein Handy.“
Chris wusste, dass er sich daneben benahm. Aber von einem Schock in den nächsten zu geraten, war sehr schockierend.
„Du bist ja wirklich ein Feigling. Alina hatte mir mal gesagt, dass du auf Schocksituationen nicht gut reagierst. Sie meinte, du würdest dann immer abhauen. Sie hatte verdammt recht, wie mir scheint.“
„Weißt du, im Moment ist es mir gerade egal, wie sehr du mich beleidigst.“
„Wirklich. Ich dachte eher, dass dich das gerade interessieren würde.“
Oliver erhob sich gelassen aus dem Sessel und stellte sich ans Fenster. Mit dem Glas in der Hand und der Zigarette im Mund, sah sein Profil aus, wie aus einer Filmreklame. Das Spiel der Sonnenstrahlen zauberte goldene Reflexe in sein honigblondes Haar und sein Gesicht lag im Schatten. Chris beendete sein Telefonat und ging zur Tür. Er blickte noch kurz zurück und verabschiedete sich.
„Warum wolltest du mit her?“
Olivers Frage kam unerwartet. Da Chris aber überhaupt keine Hintergedanken gehabt hatte, als er ins Auto gestiegen war, fiel ihm die Antwort leicht.
„Ich hatte keinen Bock auf die Leute, die so tun, als würde ihr Tod sie mitnehmen. Es gibt nur vier Menschen, die Alina so gut kannten, dass ihr Tod ein Schock war. Und auf ihre Eltern hatte ich erst recht keinen Bock.“
Ohne noch etwas zu erwidern, entließ Oliver ihn mit einer Handbewegung und setzte sich zurück an den Schreibtisch. Chris lief die Treppe hinunter und unterdrückte den Drang seine Faust in die Wand zu rammen. Das war es dann wohl gewesen. Bevor noch irgendetwas wie eine Freundschaft entstehen konnte, hatte er es versaut.
Als das Taxi vor der Tür seines Elternhauses hielt, zögerte Chris kurz, entschloss sich dann aber hinein zu gehen. Es konnte nicht schlimmer sein, als zu seiner Großtante zu fahren und den ganzen Tag den kleinen netten Jungen von nebenan zu spielen.
Und tatsächlich bemerkte niemand sein Eintreten. Die Trauergäste waren vollauf damit beschäftigt sich gegenseitig Anekdoten über die Verstorbene zu erzählen, oder das Buffett abzuschlachten. Um nicht doch noch einen Zusammenstoß der schlimmeren Art zu provozieren, zog sich Chris leise in sein Zimmer zurück und zog sich um. In Gedanken setzte er sich auf sein Bett und starrte die Wand an.
Was war nur geschehen?
Alles um ihn herum löste sich in Bedeutungslosigkeit auf. Es gab nichts, was mehr wichtig war. Er spürte die Verzweiflung. Ließ sie über sich zusammen schlagen, wie damals die riesige Welle.

oh Mann! ich muss jedes mal heulen, wenn ich die story lese... obwohl cheshire meint, dass gerade diese story ihr nicht gefällt, weil sie es nicht gepackt hat die gefühle richtig zu treffen... sie wird mich umbringen, wenn sie mitkriegt, dass ich mich mal wieder verselbstständigt habe...nehehe, aber das musste sein! die story ist einfach wunderschön...*sniff*
in diesem sinne
inas
 
Werbung:
Zurück
Oben